1.
H agemann? Kommen Sie doch mal mit in mein Büro.“
Benno sah auf und entdeckte seinen Vorgesetzten, Kriminalrat Kremer, in der Tür der Personalküche, wo er sich gerade noch einen Kaffee aufgebrüht hatte. Er nickte wortlos und trabte, den dampfenden Becher vor sich her tragend, hinter Kremer her.
Natürlich fragte er sich, was sein Chef von ihm wollte. Ausgefressen hatte er in letzter Zeit nichts, da war er sich ziemlich sicher. Vielleicht ging es ja noch um den letzten großen Fall, den er gelöst hatte. Den Mord an einem jungen Mann aus dem Strichermilieu und alles, was damit zusammenhing.
Durch die feine Gesellschaft der Gegend war ein Aufschrei der Empörung gegangen, als sich im Zuge der Ermittlungen herausgestellt hatte, dass nicht nur ein mittlerweile pensionierter Staatsanwalt und mindestens ein Polizist im aktiven Dienst, sondern auch eine ortsansässige, alte und hoch angesehene Adelsfamilie tief in einen Sumpf aus Korruption, Geldwäsche und Menschenhandel verstrickt gewesen war.
Das spektakuläre und vor allem explosive Finale des Ganzen lag inzwischen fast sechs Wochen zurück und für Benno war der Fall im Grunde abgeschlossen. Das LKA ermittelte allerdings nach wie vor zu den Hintergründen, sodass bis zu einem Gerichtsverfahren vermutlich noch einige Zeit ins Land gehen würde.
Seither waren ausnahmslos weitaus weniger aufsehenerregende Fälle auf Bennos Schreibtisch gelandet. Überwiegend handelte es sich dabei um Körperverletzungen oder Raubüberfälle, und Benno war nicht böse darüber. Er war schließlich noch kein Dreivierteljahr in seiner neuen Dienststelle tätig und hatte es bereits mit mehreren Morden zu tun gehabt. Dass das so weiterging, darauf legte er absolut keinen Wert.
Schon deshalb, weil er seit dem Ende des Stricherfalles auch keinen Partner mehr an seiner Seite hatte, denn von Horst Gruber, mit dem ihn mittlerweile auch so etwas wie eine Freundschaft verband, hatte der ganze Stress einen schweren körperlichen Tribut verlangt. Er war noch während der laufenden Ermittlungen mit einem akuten Herzanfall zusammengebrochen und hatte sich deshalb einem operativen Eingriff unterziehen müssen. Den hatte er zwar gut überstanden, war aber aktuell noch krankgeschrieben und absolvierte eine mehrwöchige Anschlussheilbehandlung, wie das im Fachjargon so schön hieß.
Benno gönnte Horst diese Erholung von ganzem Herzen, allerdings bedeutete das, dass er im Augenblick doppelte Arbeit hatte. Vor allem der Papierkram fraß jede Menge Zeit. Zum Glück war Dennis, sein fester Freund, verständnisvoll und geduldig und nahm es klaglos hin, wenn Benno mal wieder Überstunden schieben musste. Wie lange das allerdings noch so bleiben würde, stand in den Sternen.
Als er nun hinter Kriminalrat Kremer dessen Büro betrat, sah er einen ihm unbekannten Mann auf dem Besucherstuhl vor dem Schreibtisch sitzen, der sich bei ihrem Eintreten umdrehte und ihnen mit blasierter Miene entgegensah.
„Das ist Herr Cosmin Zellerfeld“, sagte Kremer und deutete auf den Fremden. „Herr Zellerfeld, das hier ist Kommissar Hagemann. Bitte schildern Sie ihm doch nochmals, was Sie mir gerade eben erzählt haben.“
Ein musternder Blick wanderte an Benno auf und ab, dann verzog Zellerfeld mit sichtlichem Missfallen das Gesicht.
„Also, ich weiß ja nicht“, meinte er in affektiertem Tonfall. „Ist der Mann nicht noch ein bisschen sehr jung? Ich hatte eigentlich gehofft, Sie könnten mir jemanden mit … Nun, wie soll ich sagen? Mit mehr Erfahrung zur Seite stellen. Schließlich möchte ich, dass diese leidige Angelegenheit nicht mehr meiner wertvollen Zeit okkupiert, als unbedingt nötig.“
Benno hob unwillkürlich eine Braue, angesichts dieser Aussage, und unterzog Zellerfeld einer etwas genaueren Musterung. Der Mann war mittelgroß, leicht untersetzt, und trug die blonden Haare in schulterlangen, offenbar mit Gel zurückgekämmten Locken. Ein schmaler grauer Ansatz war in seiner Schläfenregion zu erkennen und durfte wohl als Beweis dafür gewertet werden, dass das Blond überwiegend aus der Flasche stammte. Außerdem machten feine Fältchen im solariumsgebräunten Gesicht deutlich, dass er die vierzig bereits um einige Jahre überschritten haben dürfte.
Gekleidet war er in einen dunklen Anzug, unter welchem er ein dunkelrotes Hemd mit purpurfarbener Krawatte und einem ebensolchen Einstecktuch trug, und über den breiten Schultern hing ein eleganter schwarzer Wollmantel.
Er sprach in näselndem, reichlich herablassenden Tonfall und richtete seine gesamte Aufmerksamkeit auf Kremer. Benno ignorierte er nach der anfänglichen Musterung dagegen komplett.
Was war denn das für ein komischer Vogel?
Benno ließ sich auf den zweiten Stuhl sinken und wartete ab.
„Ich nehme an, Herr Zellerfeld ist Ihnen ein Begriff?“, eröffnete Kremer das Gespräch, und plötzlich war die gespannte Aufmerksamkeit seines Besuchers förmlich mit Händen greifbar.
Rein äußerlich gab er sich zwar gelassen und inspizierte angelegentlich seine Fingernägel, doch Benno besaß genügend Erfahrung im Umgang mit Menschen, um genau zu spüren, dass der Kerl regelrecht darauf wartete, erkannt und aus irgendeinem Grund von ihm hofiert zu werden.
Benno hatte jedoch keinen Schimmer, wer der Mann war, und um ehrlich zu sein, interessierte es ihn auch nicht die Bohne.
„Nein. Tut mir leid“, erwiderte er daher achselzuckend. „Sollte ich ihn denn kennen?“
Neben ihm war ein leises, irgendwie entsetzt wirkendes Luftschnappen zu hören, doch um Kremers Mundwinkel zuckte es verdächtig. Tatsächlich schien Bennos Vorgesetzter sich gerade prächtig zu amüsieren. Hieß das, er konnte trotz seines höflichen Benehmens diesen Zellerfeld nicht leiden?
Hm, die ganze Angelegenheit wurde Benno immer rätselhafter.
„Dann lassen Sie mich Ihrer Allgemeinbildung ein wenig auf die Sprünge helfen“, ergriff Kremer erneut das Wort. „Cosmin Zellerfeld ist Schriftsteller. Genauer gesagt im Bereich der Fantasy-Literatur, wo er auch eine recht …  respektable Fangemeinde aufzuweisen hat.“
Der solcherart Beschriebene wandte sich huldvoll lächelnd in Bennos Richtung und es schien, als würde er nun mindestens stehende Ovationen erwarten. Zumindest empfand Benno das so und der Kerl wurde ihm gleich noch um einiges unsympathischer.
„Na ja, respektabel scheint mir – bei aller Bescheidenheit – doch noch etwas untertrieben“, erklärte Zellerfeld und lächelte überheblich. „Ich würde sogar so weit gehen, zu behaupten, dass man als Leser moderner Fantasy-Literatur heutzutage gar nicht mehr an mir vorbeikommt.“
„Da klingelt bei mir nichts. Sorry“, erklärte Benno dessen ungeachtet und erntete augenblicklich ein entrüstetes Schnauben. Er zuckte die Achseln. „Fantasy ist nun mal nicht so meins. Ich bevorzuge, wenn, dann Krimis oder Thriller“, schob er nach. „Allerdings nehme ich mal an, Sie haben mich nicht in Ihr Büro gebeten, um über mein bevorzugtes Literaturgenre zu reden, oder?“, wandte er sich an seinen Vorgesetzten.
Es wurde höchste Zeit, das Ganze abzukürzen und endlich zur Sache zu kommen, immerhin wartete noch jede Menge Schreibkram auf ihn.
„Das ist allerdings richtig. Schauen Sie.“
Kremer lehnte sich nach vorn, öffnete eine Mappe, die vor ihm auf der ansonsten leeren Schreibtischplatte lag und entnahm ihr drei Blätter in Klarsichthüllen. Er schob sie Benno zu und deutete darauf.
„Hier“, sagte er. „Sehen Sie sich das an und sagen Sie mir, was Sie davon halten.“
Benno griff nach den Papieren, unterzog sie einer Musterung und begann dann zu lesen. Viel Text war es nicht. Immer nur jeweils ein paar Zeilen auf gewöhnliche DIN A4 Blätter gedruckt, die zweimal in der Mitte gefaltet gewesen sein mussten. Wahrscheinlich, damit sie in einen handelsüblichen Briefumschlag passten. Denn genau darum handelte es sich offenbar: Briefe. Drohbriefe, um präzise zu sein.
In allen dreien wurde Zellerfeld aufgefordert, sich von einer gewissen Bianca zu trennen, sonst werde „etwas Schlimmes“ passieren. In einem der drei Schriftstücke – dem letzten der Serie, wie Benno dem Datum nach vermutete, das oben rechts in der Ecke stand – präzisierte der anonyme Briefeschreiber, was er damit meinte, indem er drohte, es werde jemand verletzt oder Schlimmeres geschehen, sollte Zellerfeld seine Beziehung zu dieser Bianca nicht auf der Stelle beenden. Wer oder was genau, wurde zwar nicht gesagt, aber Benno vermutete, dass entweder Zellerfeld selbst oder eben diese ominöse Bianca am ehesten als Opfer in Betracht kamen.
Er runzelte die Stirn, legte die Blätter zurück auf den Schreibtisch und sah den Schriftsteller an.
„Haben Sie eine Idee, wer Ihnen das geschrieben haben könnte?“, fragte er.
Zellerfeld schnalzte missbilligend mit der Zunge.
„Denken Sie, ich wäre hier, wenn dem so wäre?“ Er schnaubte und verdrehte theatralisch die Augen. „Selbstverständlich nicht!“
„Also haben Sie keine Feinde?“, hakte Benno skeptisch nach.
Seiner persönlichen Erfahrung nach stimmte das nicht. Jeder Mensch hatte welche, und wenn dieser Zellerfeld wirklich so bekannt war, wie er behauptete und sich noch dazu immer derart arrogant aufführte wie jetzt gerade, dann gab es sicher mehr als nur eine einzige Person in seinem Umfeld, die ihm am liebsten den Hals umdrehen würde. Zumal die Schreiben ja auch eindeutig bewiesen, dass dem so war.
„Ach Gott! Feinde!“
Zellerfeld klimperte affektiert mit den Wimpern und legte geziert die Finger seiner Rechten an die Wange. Erst jetzt bemerkte Benno, dass er einen Gehstock aus poliertem, dunklen Holz mit einem stilisierten Drachenkopf als Knauf bei sich trug. Ein ähnliches Motiv prangte auf dem protzigen Silberring, der seinen rechten Zeigefinger schmückte. Es wurde weiß Gott immer besser! Für wen hielt der Knabe sich?
„Ich würde es ja eher Neider nennen, wenn Sie verstehen, was ich meine“, fuhr Zellerfeld fort und seine Miene zeigte deutlich, dass er Benno ganz im Gegenteil nicht einen Funken Verständnis zutraute. „Als kreativer Mensch, der noch dazu erfolgreich ist, mit dem was er tut, ist man schließlich allenthalben Neid und Missgunst ausgesetzt. Daran bin ich aber mittlerweile schon gewöhnt. Es gibt ja so viel Schlechtigkeit in der Welt. Aber Ihnen muss ich das ja sicher nicht sagen, nicht wahr?“ Er strich sich mit einer Hand über die Haare und schnaufte leise. „Aber das da …“ Er deutete auf die Briefe. „So etwas … so eine perfide Boshaftigkeit ist neu für mich.“
„Sind die Schreiben mit der Post gekommen?“, wollte Benno wissen. Zellerfeld nickte. „Und haben Sie die Umschläge auch noch? Falls der Schreiber die Laschen zum Verschließen angeleckt hat, ließen sich vielleicht DNA-Spuren sicherstellen.“
„Nein, bedaure.“ Zellerfeld schüttelte den Kopf. „Daran habe ich nicht gedacht, tut mir leid.“
„Darf ich fragen, um wen es sich bei dieser …“ Er blickte noch einmal auf die Schreiben. „Dieser Bianca handelt?“, wollte Benno wissen.
„Ich verbitte mir diese Andeutungen, Herr Hagemann“, echauffierte sich Zellerfeld sofort. „Frau Bianca Meerbusch ist meine Verlobte und wir werden in drei Tagen hier in der Stadt heiraten. Ein Ereignis, das für einiges an Aufsehen sorgen dürfte, wie ich nebenbei bemerken darf. Immerhin kann nicht jede deutsche Kleinstadt von sich behaupten, Schauplatz der Hochzeit eines Autors von meinem Format zu sein! Die Zeitungen sind bereits seit Tagen voll davon und wenn man dem Internet Glauben schenken darf, werden auch einige Hundert meiner Fans anreisen, um uns zu beglückwünschen. – Nicht, dass ich erwarten würde, ausgerechnet Sie wüssten davon.“
Er strich den Anzug glatt und rümpfte dabei die Nase.
Benno hatte Mühe, seine Mimik unter Kontrolle zu halten. Zwar war er kein eingefleischter Leser, schon gar nicht, was Fantasy-Romane betraf, aber er war sich ziemlich sicher, dass er davon gehört hätte, wenn die anstehende Hochzeit dieses Cosmin Zellerfeld und seiner Braut Bianca Meerbusch ein derart wichtiges gesellschaftliches Ereignis dargestellt hätte. Immerhin arbeitete er bei der Polizei.
„Aha“, machte er demnach nur und wechselte einen Blick mit Kremer.
Der wirkte auch reichlich befremdet, räusperte sich nun jedoch und meinte: „Wäre es denn möglich, dass irgendjemand aus dem persönlichen Umfeld Ihrer Verlobten etwas gegen die Heirat mit Ihnen einzuwenden hat? Ein Verflossener zum Beispiel? Oder ein verschmähter Verehrer von Frau Meerbusch?“
Zellerfeld zuckte die Achseln.
„Da bin ich überfragt. Aber, mal im Ernst, denken Sie wirklich, es könnte hier um Bianca gehen? Ich meine, ich schätze meine Verlobte und alles, aber … Nun ja, sie ist doch schließlich nur eine einfache kleine Verkäuferin. Ich dagegen bin ein bekannter Romanautor! Da liegt es ja wohl auf der Hand, dass es in Wahrheit gar nicht um sie geht, sondern um mich, finden Sie nicht?“