9.
E r ist was?“
Gruber war normalerweise nicht leicht zu erschüttern, doch jetzt gerade wirkte er eindeutig konsterniert.
Nachdem Benno den Rest seines Dienstes mehr schlecht als recht hinter sich gebracht hatte, war er ausnahmsweise einmal überpünktlich gegangen. Man hätte es durchaus auch als eine Flucht bezeichnen können, wozu die Tatsache, dass Kaufmann seit seinem hastigen Abgang nicht wieder aufgetaucht war, einen nicht unerheblichen Beitrag geleistet hatte.
Von unterwegs hatte Benno bereits Dennis angerufen, in der schwachen Hoffnung, dass der schon zu Hause war. Doch leider war das nicht der Fall gewesen und obendrein bestand offenbar wenig Aussicht, dass Bennos Freund schon bald würde Feierabend machen können.
Also war er in seine eigene Wohnung gefahren und hatte dort eine Weile lang Furchen in den Teppich gelaufen, ehe er sich dazu entschloss, seinen Freund und Kollegen Gruber in der Rehaklinik anzurufen. Den hatte er auch tatsächlich sofort erreicht, aber außer ein paar allgemeinen Floskeln erst mal nichts herausgebracht.
Es war Benno plötzlich schäbig erschienen, sich bei Gruber über den neuen Kollegen zu beklagen. Immerhin arbeitete er erst wie lange mit ihm zusammen? Zwei Tage? Das hieß, sie wussten noch praktisch überhaupt nichts voneinander. Woher nahm er also das Recht, den Mann derart zusammenzustauchen, wie er es heute getan hatte? Gewiss, seine Bemerkungen waren ziemlich niveaulos gewesen, aber … Sollte er nicht über so was drüberstehen?
Gruber konnte Benno nicht lange etwas vormachen, dafür kannte sein Freund und Kollege ihn zu gut. Nach ein paar Minuten sinnlosem Gerede, über das Wetter und den Alltag in der Rehaklinik, hatte er sich vernehmlich geräuspert und gesagt: „So, das reicht jetzt mit dem blöden Geschwätz. Warum rufst du wirklich an? Ich merke doch, dass dir irgendwas auf der Seele liegt.“
Benno hatte noch einen Moment gezögert, dann jedoch abgrundtief geseufzt und zu erzählen begonnen. Er schilderte sein erstes Zusammentreffen mit Kaufmann, dessen prollige Art, seine dämlichen Sprüche. Aber, um dem Mann nicht unrecht zu tun, hatte er natürlich auch erwähnt, dass er sich bei der Arbeit keineswegs dämlich anstellte, sondern rasch mitdachte, sich engagierte und durchaus nützliche Schlüsse zog.
Den Fall mit den Drohbriefen hatte er dabei ebenfalls rasch umrissen und Gruber damit das eine oder andere amüsierte Lachen, wesentlich häufiger aber abfälliges Schnauben entlockt. Eines stand fest: Gruber würde in diesem Leben jedenfalls kein Fan von Cosmin Zellerfeld mehr werden.
Zuletzt hatte Benno schließlich noch das erwähnt, was ihm am meisten zu schaffen machte – seine heutige Auseinandersetzung mit Kaufmann und dessen anschließendes Verschwinden.
„Wie ich sage“, erklärte Benno nun. „Er meinte, er braucht eine Zigarette, ist rausgeflitzt und bis Dienstschluss nicht mehr aufgetaucht. Ich hab’ mich, ehrlich gesagt, auch nicht getraut bei den Kollegen vorne nachzuhaken, ob er sich abgemeldet hat oder was, weil ich ihm natürlich keine Schwierigkeiten machen wollte, falls nicht. Aber ich fühl’ mich gerade echt beschissen wegen der Sache. Ich meine … Was, wenn er morgen gar nicht erst zum Dienst erscheint? Oder … wenn er eben doch kommt? Oder wenn er sich über mich beschwert? Wie soll ich mich denn jetzt ihm gegenüber verhalten?“
Er hörte, dass Gruber am anderen Ende die Luft ausstieß.
„Also, nun mal ganz ruhig mit den jungen Pferden“, sagte sein älterer Kollege dann. „Dazu fällt mir zweierlei ein. Erstens: Wenn dieser Kaufmann tatsächlich dauernd solche doofen Sprüche bringt, hatte er den Einlauf durchaus verdient. Vielleicht nicht ganz so heftig und vielleicht auch nicht unbedingt nach gerade mal zwei Tagen, aber so wie ich diese Sorte Kerle kenne, hätte er sein Verhalten auch nicht geändert, wenn du noch eine Woche oder einen Monat gewartet und bis dahin alles in dich reingefressen hättest. Hättest du dir dann Luft gemacht, ich fürchte fast, der Schaden wäre weitaus größer geworden, als er nun ist. Immerhin kenne ich dich und weiß, dass du bei bestimmten Themen … na, sagen wir, ein bisschen empfindlich bist. Dafür sind die Fronten jetzt wenigstens klar abgesteckt und ihr wisst beide, woran ihr seid. Manchmal ist so ein Knall genau das Richtige. Wie ein Gewitter, das die Luft reinigt, verstehst du? Und zweitens: Wie alt ist der Mann? Fünf? Einfach aus dem Dienst abzuhauen wegen so einer Lappalie! Das ist ja wie im Kindergarten! Da fragt man sich doch wohl, wer hier das größere Weichei ist, er oder sein schwuler Vorgesetzter?“
Benno musste unwillkürlich grinsen. Natürlich, Gruber hatte recht, aber bis eben hatte er die Lage nun mal nicht aus diesem Blickwinkel beurteilt.
„Ich würde also sagen, lass die Dinge erst mal ganz gelassen auf dich zukommen“, fuhr Gruber fort. „Wenn er morgen wieder auftaucht, behandle ihn ganz normal und versuch bei einer passenden Gelegenheit noch mal in Ruhe mit ihm zu reden. Wenn er wirklich so clever ist, wie du ihn beschreibst, wird er hoffentlich einsehen, dass er sich keinen Gefallen damit tut, wenn er auf seinen merkwürdigen Ansichten beharrt. Und wenn er nicht erscheint, dann ist er eben doch ein dämlicher Idiot, ganz einfach.“
„Hm.“ Das klang nun nicht gerade ermutigend. „Und wenn er sich bei Kremer über mich beschwert?“, wagte Benno noch einmal einzuwenden. Gruber lachte kurz auf.
„Wegen was denn? Weil du ihn gemaßregelt hast wegen seiner Ansichten? Das war dein gutes Recht! Immerhin hat er dir ja quasi unterstellt, du wärst ein weibischer Waschlappen und für den Polizeidienst untauglich. Auch wenn er nicht wusste, dass du schwul bist. Das macht es in meinen Augen eigentlich noch schlimmer. – Nein, nein, Benno, du hast doch selbst miterlebt, wie der Alte schon bei Janowski und dessen homophoben Auswüchsen reagiert hat. Ich würde mir also an deiner Stelle keine grauen Haare wachsen lassen. Nicht wegen diesem Kaufmann. Der schadet sich doch selbst, wenn er es sich mit dir verscherzt. Du hast immerhin in ein paar Monaten fünf Morde aufgeklärt und einen Menschenhändlerring gesprengt. Wen interessiert es denn da, ob du schwul bist? Kremer jedenfalls bestimmt nicht.“
„Die ersten vier Morde haben wir ja wohl noch gemeinsam aufgeklärt, du und ich“, wiegelte Benno ab, konnte aber nicht leugnen, dass ihm Grubers Zuspruch ausnehmend gut tat und Ruhe in seinen aufgewühlten Gedanken und Gefühlen einkehrte.
„Apropos“, wechselte er das Thema. „Kannst du eigentlich schon absehen, wann du wieder zurückkommst?“
Diesmal ertönte am anderen Ende ein abgrundtiefes Seufzen.
„Hättest du mich das vor, sagen wir mal, drei Wochen gefragt, bevor ich hierher in diese Gesundheitshölle gekommen bin, hätte ich vermutlich gesagt, hoffentlich noch nicht so bald. Aber nachdem die mich hier ständig nur mit irgendwelchen Übungen triezen und mir nicht mal was Anständiges zu essen gönnen … Am liebsten würde ich schreien: Ich bin ein Bulle, holt mich um Gottes willen hier raus! Lieber der Stress im Präsidium als der hier in dieser Tretmühle!“
Benno lachte.
„Na, komm. So schlimm wird es doch wohl nicht sein? Ein bisschen Bewegung hat schließlich noch niemandem geschadet.“
„Du hast ja keine Ahnung! Das ist Folter, was die hier machen!“, behauptete Gruber. „Um sieben Uhr früh ist Frühstück angesagt, Sonntag wie Werktag, und danach jagt ein Termin den nächsten! Wassergymnastik, Walking, Zumba! Also, nun mal im Ernst, Benno – kannst du dir mich alten Zausel beim Zumba vorstellen? Ich will doch nicht zum Karneval nach Rio, Menschenskind! Nach dem Mittagessen darf man sich ja gnädigerweise eine Stunde erholen, aber dann geht es stramm weiter bis zum Abendbrot. Und um zehn ist Nachtruhe angesagt. Das ist fast wie beim Bund! Die leitende Oberschwester hier, die hat Haare auf den Zähnen, die würde manchem Feldwebel beim Bund die Butter vom Brot nehmen. Mann, ich sag’ dir, ich bin jedes Mal versucht, Haltung anzunehmen, wenn die mich anspricht. Und erst das Essen! Man sollte doch meinen, wenn man von morgens bis abends irgendwelche anstrengenden Sachen machen muss, bekäme man wenigstens einen anständigen Kaffee und was Ordentliches zu futtern. Ein saftiges Steak zum Beispiel oder wenigstens mal ein Schnitzel mit Pommes! Aber: 'Nein, nein, Herr Gruber! Diese vielen Transfette sind Gift für Ihre Leber und Ihre Herzkranzgefäße! Probieren Sie doch lieber mal unsere Grünkernbratlinge, die sind gesund und sooo lecker!'“, imitierte er eine weibliche Tonlage. Vermutlich die der besagten Oberschwester aus der Klinik. „Die können mich doch mal kreuzweise mit ihren beschissenen Transfetten!“, murrte er dann. „Wenn ich nicht bald was Anständiges zwischen die Zähne bekomme, falle ich irgendjemanden an!“
Benno konnte nicht länger an sich halten und prustete lauthals los.
„Nun machst du dich auch noch über mich lustig!“, beschwerte sich Gruber. „Warte nur, bis du mich das nächste Mal siehst, dann wirst du merken, dass ich nicht übertrieben habe! Ich falle vom Fleisch! Meine sämtlichen Hosen rutschen mir von den Hüften. Wenn du mich fragst, fällt das eindeutig unter die Genfer Konvention!“
Das alles war nicht unbedingt dazu geeignet, Bennos Lachflash abzukürzen, doch am Ende stimmte Gruber sogar darin ein.
„Also, Benno“, schloss er seufzend, als sie sich beide wieder halbwegs beruhigt hatten. „Um auf deine Frage zurückzukommen, ich schätze, in etwas über einer Woche kann ich hier meine Zelte abbrechen. Der Doktor würde mich zwar gern länger hierbehalten, das hat er bei der Visite schon durchblicken lassen, aber länger als unbedingt nötig bleibe ich auf keinen Fall in diesem gastlichen Haus. Ich denke also, in ungefähr zwei Wochen oder so hast du mich wieder am Hals.“
„Erfreuliche Aussichten“, meinte Benno, fügte jedoch in einem Anflug schlechten Gewissens sofort hinzu: „Aber vielleicht solltest du trotzdem lieber auf den Doktor hören.“
„Vergiss es“, erwiderte sein Kollege. „Je schneller ich hier raus bin, desto besser.“