11.
D
er restliche Tag, es war inzwischen Freitag geworden, verging, ohne dass irgendetwas geschah, was die Ermittlungen vorangebracht hätte. Haferkamp blieb verschwunden, dafür tauchte Meierling tatsächlich gegen Mittag auf dem Präsidium auf, diesmal noch schlechter gelaunt als bei seinem letzten Abgang. Was er zu sagen hatte, bestätigte zwar Bennos Theorie, lieferte aber auch keine neuen Erkenntnisse.
Meierling hatte demnach keine Ahnung gehabt, dass sein Assistent hinter dem Pseudonym „Ivre de Sang“
gesteckt hatte. Als er es nun erfuhr, veranlasste ihn das zu der reichlich theatralischen Feststellung, dass die Welt voller schlechter Menschen sei und er wohl jahrelang unwissend eine Schlange an seinem Busen genährt habe.
Wäre der Anlass nicht ein so ernster gewesen und hätte er Meierling nicht derart verabscheut, wie er es tat, Benno hätte laut gelacht.
Stattdessen starrte er Meierling lediglich einen Moment lang konsterniert an, ehe er mit seiner Befragung fortfuhr. Am Ende blieb sie jedoch ebenso fruchtlos wie die letzte und Meierling verließ das Präsidium mit hochgerecktem Kinn und der Bemerkung, dass es ihn bei derart offen zur Schau gestellter Inkompetenz nicht wundere, wenn das Verbrechen den Behörden lachend auf der Nase herumtanze.
Kaufmann, der ebenfalls bei der Befragung zugegen gewesen war, hatte sich bei dieser Äußerung sehr gerade aufgerichtet und seine Augen hatten bedrohlich zu blitzen begonnen, doch
Bennos warnender Blick hatte ihn zum Glück bremsen können. Kaum war Meierling jedoch zur Tür hinaus, war Kaufmann von seinem Stuhl aufgesprungen und hatte sich lautstark Luft gemacht.
„Was glaubt dieser eingebildete Heini eigentlich, wer er ist? Der soll bloß aufpassen, dass er mir nicht mal irgendwo im Dunkeln begegnet, dann zeige ich ihm mit dem größten Vergnügen, wer hier inkompetent ist!“
Insgeheim pflichtete Benno ihm bei, laut sagte er jedoch: „Trotzdem ist er es nicht wert, dass du dir die Finger an ihm schmutzig machst und für jemanden wie ihn deine Karriere gefährdest.“
Das wirkte offenbar. Kaufmann beruhigte sich etwas, stemmte die Hände in die Hüften und blickte finster in Richtung Tür.
„Trotzdem“, murrte er. „Irgendwer sollte dem Kerl echt mal zeigen, wo der Hammer hängt.“
„Von mir aus gerne“, stimmte Benno zu. „Aber nicht jetzt und nicht wir.“
Davon abgesehen, tat sich während der nächsten Stunden nichts Weltbewegendes, sodass Benno und Kaufmann, als sie sich in den Feierabend verabschiedeten, noch immer keinen Schritt weitergekommen waren. Kriminalrat Kremer hatten sie noch am Vortag über ihre inzwischen gewonnenen Erkenntnisse informiert und deshalb von ihm die Order erhalten, zusammen mit einer Streifenwagenbesatzung am nächsten Tag – also Samstag – der Hochzeit von Thomas Meierling und Bianca Meerbusch beizuwohnen. Quasi als Bodyguards.
„Wir wollen uns ja im Fall der Fälle später nicht vorwerfen lassen, wir hätten die Gefahrenlage unterschätzt“, hatte Kremer gemeint. „Dieser Meierling scheint mir ein eher unangenehmer Zeitgenosse zu sein, da möchte ich lieber nichts dem Zufall überlassen. Falls Haferkamp wirklich bei der Trauung oder danach bei dem geplanten Umtrunk im Hotel auftaucht und
irgendwas Übles im Sinn hat, wären wir nämlich am Ende die Gelackmeierten. Also, meine Herren, betrachten Sie sich offiziell als zum Personenschutz abgestellt. Eine schriftliche Dienstanweisung bekommen Sie noch.“
Benno hatte sich daraufhin einen bissigen Kommentar verkniffen und auch Kaufmann war stumm geblieben. Was hätten sie auch sagen sollen? Der Alte hatte ja recht. Nachdem sie das Büro des „Alten“ verlassen hatten und wieder draußen im Gang des Präsidiums standen, hatten sie trotzdem einen genervten Blick getauscht.
„Tja“, hatte Kaufmann gemeint und sich seufzend am Kopf gekratzt. „Das heißt dann wohl: Ade, freies Wochenende.“
Benno hatte die Achseln gezuckt und zähneknirschend erwidert: „Sieht ganz so aus.“
Es war nun nicht so, dass er grundsätzlich ein Problem mit Überstunden gehabt hätte oder damit, sich besonders ins Zeug zu legen, zumal in einem Fall wie diesem, wo sich nicht ausschließen ließ, dass Menschenleben in Gefahr waren. Allerdings wurmte es ihn gewaltig, dass er das nun ausgerechnet wegen diesem Thomas Meierling tun musste.
Sein Kollege hatte sich daraufhin ein wenig zu ihm geneigt und im nächsten Moment leise ins Ohr gemurmelt: „Nur mal unter uns Klosterschwestern gesagt: Ich hätte absolut kein Problem damit, wenn jemand diesem eingebildeten Schreibkünstler ein paar Grenzen aufzeigt.“
„Stimmt schon.“ Benno hatte genickt und den Atem ausgestoßen. „Aber du darfst seine Braut nicht vergessen, Bianca Meerbusch. Wenn wir den Inhalt der Briefe und die Vorwürfe, die Haferkamp im Internet gegen sie erhoben hat, als Maßstab nehmen, dann droht eher ihr die Gefahr, nicht dem großen Autor. Oder siehst du das anders?“
„Hm. Auch wieder wahr“, hatte Kaufmann eingeräumt und damit war das Thema in diesem Augenblick erledigt gewesen.
Nun jedoch beschlossen sie, angesichts der Flaute in ihren Ermittlungen und da sie einen Teil des Wochenendes dafür würden opfern müssen, ausnahmsweise einmal eine halbe Stunde früher Feierabend zu machen.
„Also, wenn du mich fragst, haben wir uns das redlich verdient. Auch wenn wir offiziell eigentlich noch mindestens eine halbe Stunde im Dienst sind“, meinte Kaufmann.
„Seh’ ich genauso“, erwiderte Benno. „Feiern wir eine halbe Überstunde ab, bevor morgen wieder mindestens das Dreifache aufs Zeitkonto draufwandert.“ Er grinste ironisch. Einer spontanen Eingebung folgend, fügte er gleich darauf hinzu: „Sag mal, bist du eigentlich motorisiert? Falls nicht, könnte ich dich mitnehmen und irgendwo absetzen.“
Kaufmann schien im ersten Moment überrascht, dann schüttelte er lächelnd den Kopf.
„Danke für das Angebot, aber ich wohne nur drei Straßen weiter. Das kurze Stück gehe ich zu Fuß. Hält fit, weißt du?“
„Damit du weiter fette Schoko-Muffins in dich reinstopfen kannst?“, konterte Benno, ehe er sich bremsen konnte. Aber sein Kollege lachte bloß und rieb sich mit beiden Händen über den flachen Bauch.
„Irgendein Laster braucht schließlich jeder Mensch. Und bis jetzt hat mir die Nascherei noch nicht geschadet, oder? – Überleg’ dir gut, was du jetzt antwortest!“
Benno lachte ebenfalls. Plötzlich war die Stimmung zwischen ihm und Kaufmann total entspannt, fast so, als arbeiteten sie schon sehr viel länger miteinander als nur ein paar Tage.
„Keine Chance. Ohne meinen Anwalt sage ich gar nichts“, gab er grinsend zurück.
Inzwischen hatten sie ihre Computer heruntergefahren, schnappten sich ihre Jacken und begaben sich zum Ausgang.
„Also dann“, meinte Kaufmann, als sie auf den Parkplatz hinaustraten, und nickte Benno zu. „Dann bis morgen um … Wann ist noch mal diese bescheuerte Trauung?“
„Um elf, glaube ich“, gab Benno zurück. „Ich denke, es ist am besten, wir treffen uns um zehn hier im Präsidium mit den beiden Kollegen von der Streife. Dann können wir uns anschließend aufteilen, jeweils einer von uns und ein Uniformierter, um getrennt voneinander Meierling und seine Zukünftige einzusammeln und zum Standesamt zu eskortieren.“
„Klingt vernünftig für mich“, stimmte Kaufmann zu. Benno nickte.
„Wenn wir Glück haben und alles bleibt ruhig, sind wir mittags vielleicht schon wieder daheim.“
„Dein Wort in Gottes Gehörgang.“ Kaufmann wandte sich zum Gehen, hielt dann aber nochmals inne und drehte sich stirnrunzelnd wieder zu Benno um. „Was, wenn dieser Haferkamp gar nicht bei der offiziellen Trauung auftaucht, sondern erst später? Bei diesem sogenannten Sektempfang? Oder noch später, was weiß ich, übermorgen oder sonst wann?“
Benno hob die Schultern und schnaufte frustriert.
„Ganz ehrlich?“, fragte er leise, schaute sich um, ob jemand in der Nähe war, und machte dann einen Schritt auf seinen Kollegen zu. „Das ist nicht mein Problem. Wir haben lediglich die Anweisung, morgen bei dieser schrägen Hochzeitsveranstaltung anwesend zu sein und einzugreifen, falls irgendwas passiert. Und daran werden wir uns halten. Aber das bedeutet nicht, dass ich bereit bin, für diesen Lackaffen auch in Zukunft das Kindermädchen zu spielen, bloß weil der sich für Gottes Geschenk an die Menschheit hält und meint, es hätte keine Folgen, wenn man andere Menschen ausnutzt und als Fußabtreter benutzt. Dafür soll der Lackaffe sich von mir aus private Security anheuern, das ist nicht unser Job. Was Bianca Meerbusch angeht, liegt der Fall ein bisschen anders. Da
hoffe ich einfach, dass wir Haferkamp bald finden, aber letzten Endes muss man sagen, dass auch sie sich selbst in diese Lage manövriert hat. Wir können sie noch mal eindringlich warnen, vorsichtig zu sein, aber alles andere liegt nicht mehr in unseren Händen. Nicht, solange niemand offensichtlich bedroht wird oder in Gefahr ist. Wenn du mich fragst, ist schon unsere Anwesenheit morgen ein verdammt großes Entgegenkommen vom Alten. Unter normalen Umständen hätte er das niemals angeordnet.“
Kaufmann erwiderte seinen Blick und nickte nachdenklich.
„Stimmt“, sagte er. „Aber weißt du, was ich denke? Falls morgen wirklich was passieren sollte, verwette ich jetzt schon meinen Arsch drauf, dass dieser Meierling Himmel und Hölle in Bewegung setzt und die Polizei trotzdem verklagt, bis uns die Schwarte kracht.“
Benno nickte grimmig, denn ja, das deckte sich in etwa mit seinen eigenen Erwartungen. Sie hoben jeder noch einmal kurz grüßend die Hand, dann trennten sich ihre Wege für diesen Tag endgültig.