12.
D er folgende Morgen dämmerte klar und frisch herauf. Der Himmel strahlte in einem satten Blau, keine einzige Wolke war zu sehen und Benno dachte schon beim Frühstück ironisch, dass die Hochzeitsfotos des frischgebackenen Ehepaares Meierling unter diesen Umständen bestimmt ganz besonders schön werden würden. Sicher waren die Fans des großen Schriftstellers, die extra angereist waren, um mit anzusehen, wie ihr Idol unter die Haube gebracht wurde, jetzt schon völlig aus dem Häuschen.
Dennis hatte bei ihm übernachtet und sie saßen sich am Tisch gegenüber, vor sich Kaffee und frische Brötchen, sie schwiegen jedoch größtenteils. Benno war in Gedanken bereits bei dem, was ihm bevorstand und Dennis hatte sich in die örtliche Tageszeitung vertieft.
Nachdem er ein paar Seiten umgeblättert hatte, entfuhr ihm ein leises, belustigt klingendes Schnauben und Benno wandte sich ihm zu.
„Was ist so witzig?“, fragte er, als er das Grinsen im Gesicht seines Freundes entdeckte.
„Dein Autor“, gab Dennis trocken zurück und drehte die Zeitung so, dass Benno einen Blick auf das werfen konnte, was er gerade gelesen hatte.
Tatsächlich konnte Benno einen kurzen Artikel erkennen, mit der etwas einfallslosen Überschrift „Bekannter deutscher Fantasyautor heiratet heute“ . Zwei Spalten Text von jeweils einer Viertelseite Länge, darunter zwei Fotos. Eines von Meierling, übrigens dasselbe, das Benno bereits aus dem Internet kannte, und daneben eines von Bianca Meerbusch. Dem Aussehen nach am ehesten ein Passfoto der jungen Frau.
„Wie?“, gab Benno sich überrascht. „Keine Schlagzeile auf der ersten Seite? Der Kerl wird außer sich sein vor Entrüstung. Bestimmt wird das für die Zeitung noch ein Nachspiel haben.“
Er imitierte bewusst den arroganten Tonfall des Autors und Dennis gluckste.
„Irgendwie hab’ ich das Gefühl, du magst den Mann nicht“, sagte er grinsend.
„Ich und ihn nicht mögen? Ich bitte dich, wie kommst du denn darauf?“ Benno verzog das Gesicht. „Wie könnte ich einen so wunderbaren Menschen nicht mögen? Etwa, weil er einen Freund seit Jahren skrupellos ausnutzt und ihn trotzdem behandelt wie ein Stück Dreck? Oder weil er Bianca Meerbusch bloß heiratet, um in den Genuss eines millionenschweren Erbes zu kommen? Und sowieso vorhat, sie anschließend mit läppischen 25.000 Euro abzuspeisen, obwohl er sie in dem Glauben lässt, er würde für das Kind, auf das er im Augenblick so scharf ist, später Unterhalt zahlen, bis es erwachsen ist?“
„Gute Argumente“, konterte Dennis. „Komisch, bis gerade eben war ich noch überzeugt, du wärst bloß neidisch auf seinen Erfolg als Autor.“
„Pfft. Als ob“, machte Benno. „Wenn du mich fragst, ist es damit sowieso nicht sonderlich weit her. Also, anfangs ist seine Serie verdammt gut gelaufen, keine Frage. Aber nachdem Haferkamp bei seiner Befragung davon geredet hat, dass die Umsätze aktuell etwas stagnieren würden, hab’ ich ein bisschen recherchiert. Und dabei hab’ ich rausgefunden, dass dieses ganze Getue, von wegen, ich bin ja so erfolgreich und an mir kommt keiner im Fantasy-Genre vorbei, überwiegend heiße Luft ist. Er bekommt zwar in den Onlineshops und Foren immer noch reihenweise enthusiastische Rezensionen für seine Bücher, aber wenn man da aufmerksam liest, fallen einem doch ein paar Dinge auf. Zum Beispiel waren es anfangs immer und immer wieder dieselben Leute, die lobende Rezensionen verfasst haben. Bei den letzten Bänden der Reihe sind aber ausgerechnet von diesen Personen tatsächlich mehr und mehr kritische Stimmen laut geworden. Sei es, weil ihnen die Richtung nicht gefällt, die die Story nimmt, oder weil sie einzelne Handlungsstränge unlogisch finden, was auch immer. Dafür tauchen aber auch immer mehr Bewertungen auf, die zwar eine hohe Punktzahl vergeben, aber wenn man sie sich dann durchliest, sind sie erstaunlich nichtssagend und allgemein gehalten. Oder es sind sogar welche, wo mein Bauchgefühl mir sagt: Hey? Wieso hat der Rezensent hier die vollen Punkte vergeben, wenn sich seine eigentliche Bewertung eher mittelmäßig liest? Also, ich würde mal stark vermuten, dieses ganze Erfolgsgetue ist größtenteils bloß Angeberei“, schloss Benno.
„Du hast dich ja eingehend damit beschäftigt“, stellte Dennis fest. „Ich wusste gar nicht, dass du unter die Literaturkritiker gegangen bist.“
Benno streckte ihm die Zunge heraus.
„Ich bin kein Literaturkritiker, ich bin nur gründlich.“
„Tja“, meinte Dennis achselzuckend. „PR ist nun mal die halbe Miete. Ist wie im Tierreich, verstehst du?“
„Hä?“
Benno konnte seinem Freund nicht folgen.
„Na, ich rede davon, dass im Tierreich ja auch derjenige die besten Karten hat, der sich am besten verkauft. Als stark oder groß erscheint, selbst wenn er es vielleicht gar nicht ist. Ganz egal, ob es nun um den Erfolg beim anderen Geschlecht geht, ums Futter oder das Revier.“
„Ach so.“ Benno grinste und nahm einen Schluck Kaffee.
Vor seinem geistigen Auge stolzierte dabei ein aufgeplusterter Gockel mit dem Gesicht von Thomas Meierling herum, wurde jedoch rasch von einem knusprig gebratenen Hähnchen am Spieß abgelöst.
„Netter Vergleich“, sagte er, mehr zu sich selbst. „Was steht denn da nun in diesem Artikel?“, hakte er gleich darauf nach.
„Ach, das Übliche.“ Dennis blickte wieder in die Zeitung. „Trauung um elf Uhr, bekannter Autor, bla-bla, keine große Party, nur ein anschließender Sektempfang im Hotel Lindenkrone , für eine kleine Anzahl seiner treuesten Fans, und so weiter.“
„Ich bin jedenfalls froh, dass ich mir den Tag nicht noch bei einer pompösen Fete um die Ohren schlagen muss“, meinte Benno. „Das hätte mir gerade noch gefehlt.“
Dennis lachte leise.
„Kann ich verstehen. Hier steht: 'Die große Feier mit allen Verwandten und Freunden wird zu einem späteren Zeitpunkt nachgeholt. Angesichts der Schwangerschaft hat der Arzt meiner zukünftigen Frau eindringlich zur Schonung geraten und wir möchten natürlich jedes Risiko vermeiden, wie Sie sich sicher vorstellen können, verrät uns Cosmin Zellerfeld. Die Gesundheit von Mutter und Kind sind auf jeden Fall wichtiger, als ein großes Fest.' – Was sagt man dazu?“
„Pfft. Steht da auch irgendwas wegen den Briefen?“, wollte Benno wissen. „So publicitygeil, wie der Kerl ist, würde es mich wundern, wenn er die Gelegenheit nicht nutzt, sich als armes Opfer aufzuspielen.“
„Warte, lass mich eben weiterlesen“, bat Dennis, und dann: „Ja, hier steht was. – 'Auf die Frage, ob es den Tatsachen entspricht, dass Herr Zellerfeld seit einiger Zeit anonyme Drohschreiben erhält, zeigt der sich außerordentlich betrübt, räumt den Erhalt solcher Briefe jedoch ein. Ja, sagt Zellerfeld, das ist allerdings richtig. Seit einigen Wochen bin ich das Ziel einer infamen Kampagne neidischer Individuen, die mir ganz offensichtlich meinen literarischen Erfolg nicht gönnen. Die Polizei ermittelt zwar fieberhaft, hat aber bisher leider keine brauchbaren Ergebnisse erzielt.'“
„Wow“, sagte Benno und schnaubte. „Und kein einziger Seitenhieb auf die schreckliche behördliche Inkompetenz? Der Kerl lässt nach.“ Er stellte seine Kaffeetasse ab, reckte sich und gähnte ausgiebig. „Und was hast du heute Schönes vor?“, fragte er seinen Freund.
Der ließ die Zeitung sinken.
„Du meinst, nachdem du mich schnöde allein lässt, um auf diesen Möchtegern-Promi und seine Zukünftige aufzupassen?“
Sein Lächeln nahm den Worten die Schärfe. Benno wusste ohnehin, dass Dennis nicht wirklich sauer auf ihn war. Immerhin wäre er, hätte er eine Wahl gehabt, auch lieber bei ihm geblieben und hätte das Wochenende mit einer ausgiebigen Kuschelrunde im Bett eingeläutet. So hatten sie das bereits am Vorabend erledigt … und im Laufe der Nacht noch einmal … und heute früh … sehr früh …
Er lächelte bei der Erinnerung an die zurückliegende Nacht.
„Ich werde mich wohl mit schnöder Hausarbeit und einer ausgiebigen Shoppingtour ablenken“, holte ihn Dennis’ Stimme zurück in die Gegenwart.
„Tu das. Lass die Kreditkarte glühen“, entgegnete er, worauf Dennis die Achseln zuckte.
„Wird nicht einfach, das im Supermarkt hinzukriegen, schätze ich. Aber du kennst mich ja – ich liebe Herausforderungen.“
Benno lachte.
„Ich hoffe mal, bei dieser blöden Trauung bleibt alles ruhig und ich bin spätestens gegen zwei wieder zurück“, sagte er. Dann leerte er seine Kaffeetasse und stand auf, um sich anzuziehen.
Eine Viertelstunde später verabschiedete er sich mit einem zärtlichen Kuss von seinem Freund und verließ das Haus, um ins Präsidium zu fahren. Dort angekommen fand er außer Kaufmann und einer Streifenwagenbesatzung, bestehend aus zwei uniformierten Beamten, auch einen äußerst schlecht gelaunten Kriminalrat Kremer vor. Was machte der denn am Wochenende hier?
„Ah, Hagemann“, wurde er begrüßt. „Da sind Sie ja endlich.“
Benno runzelte die Stirn.
„Hab’ ich irgendwas verpasst?“, fragte er und linste verstohlen auf sein Handy, um die Uhrzeit zu checken. Zehn Uhr hatten sie verabredet, jetzt war es viertel vor. Verspätet hatte er sich also nicht.
„Zellerfeld hat die Polizeieskorte für sich abgelehnt“, grummelte Kremer.
„Ach was?“ Benno hob erstaunt die Brauen. „Mit welcher Begründung?“
„Er meint, das sähe in der Presse nicht gut aus. Gestern Abend war es für ihn noch in Ordnung, dass er von uns begleitet wird, aber heute Morgen hat er mich angerufen und davon in Kenntnis gesetzt, dass er es sich anders überlegt hat“, erläuterte Kremer, sichtlich aufgebracht. „Dieser Fatzke!“
Benno überlegte kurz.
„Gibt es denn inzwischen irgendwas Neues über Haferkamp?“, wollte er dann wissen, doch sein Chef schüttelte den Kopf.
„Nein, der ist nach wie vor wie vom Erdboden verschluckt.“
„Und haben Sie Zellerfeld auf die Möglichkeit hingewiesen, dass sein ehemaliger Assistent die Drohbriefe geschrieben haben könnte?“, hakte Benno nach.
„Selbstverständlich“, erwiderte Kremer. „Und wollen Sie wissen, wie er darauf reagiert hat? Er hat mich ausgelacht und gemeint, der Mann würde nie im Leben ausgerechnet ihm irgendwas antun! Abgesehen davon sei er ja wohl noch Manns genug, im Fall der Fälle mit so einem armen Würstchen wie Haferkamp fertigzuwerden. Seine Worte, nicht meine.“
Benno schüttelte schnaubend den Kopf.
„Na, hoffen wir, dass er sich da mal nicht täuscht.“
Er sah kurz zu Kaufmann, der mit verschränkten Armen schweigend an die Flurwand gelehnt dastand und die Brauen zusammengezogen hatte.
„Was ist mit Frau Meerbusch? Hat die den Geleitschutz etwa auch abgelehnt?“, fragte Benno weiter. Kremer verneinte.
„Die Frau scheint zumindest noch halbwegs vernünftig zu sein“, erwiderte er. „Jedenfalls vernünftiger als ihr zukünftiger Ehemann“, schränkte er gleich darauf ein.
Benno dachte, dass dazu nun wirklich nicht viel gehörte, behielt den Gedanken jedoch lieber für sich. Stattdessen sagte er: „Dann würde ich vorschlagen, Kollege Kaufmann und ich übernehmen die glückliche Braut und sorgen dafür, dass wenigstens sie heil im Hafen der Ehe landet, oder?“
Kremer nickte.
„Tun Sie das. Zellerfeld hat eine Limousine gemietet, die die Braut zum Standesamt bringt und mit der das glückliche Paar anschließend zum Sektempfang zurück ins Hotel fahren wird. Sie und Kaufmann werden in dem Fahrzeug mitfahren – beide Touren, also sowohl hin als auch zurück! Ihre Kollegen von der Streife bleiben inzwischen hier auf Abruf und ich … Na ja, ich bin in meinem Büro und tue so, als wäre ich glücklich darüber, mein Überstundenkonto wegen einem selbstgefälligen Idioten wie Cosmin Zellerfeld noch mehr zu strapazieren. Falls irgendetwas vorfällt, erwarte ich umgehende Meldung von Ihnen, klar?“
Er wartete keine Antwort ab, drehte sich brüsk um und ging mit eckigen Schritten davon, denen sein heftiger Groll deutlich anzumerken war. Benno schaute ihm nach, ehe er den Blick achselzuckend auf die beiden uniformierten Beamten richtete.
„Sie haben den Chef gehört, meine Herren. Trinken Sie also ruhig noch einen Kaffee, während wir schon mal Geleitschutz spielen.“
Die beiden sahen sich an und marschierten dann gemächlich nacheinander in Richtung Pausenraum. Als sie hinter dessen Tür verschwunden waren, holte Benno tief Atem und wandte sich an Kaufmann, der noch immer kein einziges Wort gesagt hatte.
„Also, an Tagen wie heute beneide ich den Chef wirklich nicht um seinen Posten. Ich meine, ich finde es auch reichlich beschissen, dass wir für diesen Meierling das Kindermädchen machen müssen, aber ich werde von solchen Vollpfosten wenigstens nicht auch noch am Samstagmorgen daheim angerufen.“
„Mhm“, brummte sein Kollege. „Seh’ ich auch so. Und vor allem muss unsereiner sich keine Gedanken darüber machen, was passiert, sollte Haferkamp auftauchen und sich an seinem Ex-Boss vergreifen, nachdem der unseren Schutz abgelehnt hat.“
„Wem sagst du das?“, bestätigte Benno. „Dem Spinner ist alles zuzutrauen. Hat er ja mit der Aktion bewiesen.“
„Na ja, noch ist ja gar nicht raus, dass wirklich was passiert“, wiegelte Kaufmann halbherzig ab. „Vielleicht irren wir uns auch, was Haferkamp und seine Absichten angeht.“
„Ich hoffe es wirklich“, meinte Benno inbrünstig. „Aber ehrlich gesagt, hab’ ich da ein ganz mieses Gefühl.“
Sie verließen das Präsidium und bestiegen gemeinsam den Dienstwagen, um zu Bianca Meerbuschs Adresse zu fahren. Dort parkte bereits eine mit Blumen und weißen Bändern geschmückte cremefarbene Limousine am Straßenrand, der livrierte Chauffeur lehnte an der Fahrerseite und rauchte eine Zigarette.
In der Wohnung fanden sie die zukünftige Frau Meierling in Gesellschaft einer zweiten jungen Frau vor. Bianca Meerbusch war sichtlich nervös, dafür aber äußerst geschmackvoll gekleidet. Sie trug ein elegantes cremefarbenes Kostüm, durch dessen raffinierten Schnitt ihre fortgeschrittene Schwangerschaft gar nicht so sehr ins Auge fiel, wie man erwarten sollte. Dazu Pumps mit einem kleinen Keilabsatz und eine helle Strumpfhose. Ihre Haare waren frisch blondiert und kunstvoll aufgesteckt, über dem rechten Ohr durch ein farblich passendes Blütendiadem ergänzt. Ihr Make-up war dezent und sie hatte außer einer schmale Perlenkette dazu passende, schlichte Ohrstecker angelegt.
Benno war beeindruckt. Er wusste zwar nicht genau, was er erwartet hatte, nachdem sie ihm bei ihrer ersten Begegnung ein bisschen wie ein wandelndes Klischee erschienen war, aber scheinbar musste er tatsächlich ernsthaft an seinem eigenen Schubladendenken arbeiten.
„Sie beide sind also meine Eskorte?“, fragte Bianca Meerbusch und krampfte dabei die Finger um einen kleinen, kugelförmigen Brautstrauß, bestehend aus zartgelben Rosen und weißen Freesien. Zwei Spitzenbänder hingen davon herab und flatterten sacht im Rhythmus ihrer zitternden Hände.
„So ist es“, bestätigte Kaufmann. „Und Sie sind?“
Er hatte sich der anderen jungen Dame zugewandt und lächelte sie an. Sie war hübsch, das musste selbst Benno zugeben. Ihr flammend rotes Haar, das sich in wilden Locken um das herzförmige Gesicht legte, Augen von einem auffallenden hellen Grau, der Teint wie feinstes Porzellan. Ihre Nasenspitze reckte sich keck in die Höhe, der Mund war klein, aber mit vollen Lippen ausgestattet, und das lindgrüne Etuikleid, in dem sie steckte, ließ keinen Zweifel daran, dass ihr Körper an den richtigen Stellen üppige Rundungen aufwies.
„Ich bin Nicki“, sagte sie und streckte Bennos Kollegen, ebenfalls lächelnd, die Rechte hin. „Nicole Frenzl. Bias Freundin und Trauzeugin. Freut mich.“
„Mirko Kaufmann, angenehm.“
Täuschte Benno sich oder flogen da gerade Herzchen durch die Gegend? Er räusperte sich.
„Können wir los oder brauchen Sie noch einen Moment?“, fragte er, an Bianca Meerbusch gewandt.
„Nein, nein“, erwiderte sie hastig. „Ich bin fertig. Ist der Wagen denn schon da, der uns abholen soll?“
„Steht unten“, bestätigte Benno.
Sie wechselte noch einen Blick mit ihrer Trauzeugin und stieß mit einem Zischen die Luft aus.
„Dann wird es jetzt also ernst“, murmelte sie. „Augen zu und durch.“
Benno machte eine auffordernde Geste, die Kaufmann jedoch nicht bemerkte, weil der immer noch Nicole Frenzl anhimmelte. Genervt mit den Augen rollend, versetzte ihm Benno einen Stoß.
„Aua.“ Kaufmann hielt sich den Arm, wo Bennos Ellbogen ihn erwischt hatte. „Was ist denn?“
„Wir müssen los“, sagte Benno eindringlich und etwas leiser fügte er hinzu: „Flirten kannst du später, okay?“
„Ja, ja. Ist ja gut.“ Kaufmann seufzte, dann wandte er sich erneut zu der Trauzeugin um und trat lächelnd einen Schritt beiseite. „Bitte, nach Ihnen.“
Benno, der inzwischen vor allen anderen ins Treppenhaus getreten war, blieb stehen und wartete, bis die anderen ebenfalls draußen waren und Bianca Meerbusch ihre Wohnungstür hinter sich versperrt hatte. Im Gänsemarsch steuerten sie den Fahrstuhl an und als die Kabinentür sich endlich vor ihnen öffnete, ließ er die beiden Frauen zuerst einsteigen, ehe er mit Kaufmann folgte.
Im Erdgeschoss angekommen, verließ er als Erster den Lift und sah sich gründlich um, dann machte er den anderen ein Zeichen, dass sie nachkommen sollten.
„Du meine Güte“, sagte Nicole Frenzl. „Das ist ja fast wie im Film. Ist Bia denn wirklich in Gefahr?“
„Na ja“, erwiderte Kaufmann und plusterte sich dabei ein bisschen auf. „Das ist schwer zu sagen, aber es wäre möglich. Aber natürlich wollen wir kein Risiko eingehen, verstehen Sie?“
„Wow. Und dafür opfern Sie sogar ihren Samstag“, stellte die Rothaarige bewundernd fest. „Nur damit uns nichts passiert. Die Polizei, dein Freund und Helfer.“ Sie strahlte ihn an.
„Wir machen hier bloß unseren Job“, entgegnete Kaufmann ernsthaft und Benno musste sich das Lachen verbeißen. Sein Kollege marschierte durch den Hausflur, als hätte er Rasierklingen unter den Armen. Hätte er jetzt noch einen breitkrempigen Filzhut und Cowboystiefel getragen, er hätte glatt als John-Wayne-Verschnitt durchgehen können.
Auch beim Verlassen des Hauses trat Benno wieder als Erster ins Freie und checkte zuerst die Lage. Dann begaben sie sich zu viert zu der Limousine, die nach wie vor am Straßenrand wartete.
Der Fahrer, der seine Zigarette inzwischen aufgeraucht hatte, sah ihnen lächelnd entgegen und öffnete mit einer galanten Verbeugung die hintere Wagentür. Bianca Meerbusch stieg ein, gefolgt von Nicole Frenzl. Kaufmann, dessen Blick stetig an der Trauzeugin klebte, wollte es den Frauen gleich tun, doch Benno hielt ihn am Arm zurück.
„Reiß dich zusammen“, sagte er. „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen, okay?“
„Was denn? Ich mach’ doch gar nichts“, verteidigte sich Kaufmann.
„Stimmt“, bestätigte Benno ruhig. „Du machst gar nichts, außer der Frau auf den Arsch zu glotzen. Sei ehrlich, hast du, seit wir aus dem Haus gekommen sind, auch noch woandershin gesehen?“
Schuldbewusst senkte sein Kollege kurz den Blick.
„Okay, okay“, brummelte er dann. „Du hast recht. Ich reiß’ mich ab jetzt zusammen.“
„Gut.“
Nachdem sie alle in der Limousine Platz genommen hatten, stieg der Chauffeur ebenfalls ein und startete den Motor des schweren Wagens. Nachdem sie sich in den Verkehr auf der nahegelegenen Hauptstraße eingefädelt hatten, atmete Benno auf und entspannte sich etwas. Er saß vorn auf dem Beifahrersitz, Kaufmann hinten, den beiden Frauen gegenüber.
„Hey, ganz ruhig, Bia. Es wird schon alles glatt laufen“, hörte Benno Nicole Frenzl leise und beruhigend sagen und drehte den Kopf nach hinten. Bianca Meerbusch war kreidebleich und ihre Augen weit aufgerissen. Sie atmete hektisch.
„Ich weiß nicht, Nicki“, sagte sie jetzt. „Was, wenn das Ganze hier ein Riesenfehler ist?“
Dazu wäre allerdings auch Benno so einiges eingefallen, aber jetzt war es ja wohl ein bisschen spät für solche Erkenntnisse. Außerdem war das ganz sicher nicht seine Angelegenheit, deshalb hielt er den Mund und konzentrierte sich auf die Umgebung.
„Ach, Quatsch“, entgegnete die Rothaarige. „Mach dich nicht verrückt. Denk einfach an das Geld, hm?“
Überrascht blickte Benno die beiden Frauen nun doch an. Die Trauzeugin wusste also Bescheid?
Tja, das war wohl zu erwarten gewesen, oder? Gute Freundinnen vertrauten sich solche Dinge eben an. Natürlich unter dem Siegel der Verschwiegenheit, allerdings wurde das bei eventuellen späteren Animositäten schon mal gern im Zorn gebrochen.
Ob Meierling wohl daran gedacht hatte, dass seine zukünftige Frau aus dem Nähkästchen plaudern könnte? Nun, er für sein Teil hätte zumindest überhaupt nichts dagegen, falls der Herr Autor mit seinem raffinierten Schwindel auf den letzten Metern doch noch so richtig auf die Schnauze fallen würde, bloß weil Bianca Meerbusch sich einer Freundin anvertraut hatte. Jeder Mitwisser stellte schließlich ein potenzielles Risiko dar. Zumindest bis zu dem Zeitpunkt, wo Meierling sein Millionenerbe angetreten haben würde. Was danach kommen sollte, stand auf einem gänzlich anderen Blatt.
Die Braut lächelte zittrig.
„Du hast vermutlich recht“, sagte sie dann.
Eine Viertelstunde später erreichten sie das Standesamt, wo bereits eine ansehnliche Anzahl Menschen stand und auf das Erscheinen des Brautpaares zu warten schien. Einige hatten Blumen dabei, Plüschtiere oder Luftballons.
„Oh Gott“, murmelte Bianca Meerbusch. Ihre Freundin tätschelte ihr beruhigend die Hand.
Als Benno gleich darauf aus der Limousine stieg, ging eine regelrechte Welle durch das Publikum. Handys und vereinzelt auch Fotoapparate wurden hochgehalten. Ein Mann, den Benno für einen Journalisten hielt, drängte sich ganz nach vorn und knipste wild drauflos. Hier und da erklang verhaltener Applaus.
Waren das etwa alles Fans von Meierling?
Scheinbar musste man heutzutage ein Arschloch sein, um vergöttert zu werden, dachte Benno, verwarf den Gedanken aber sofort wieder. Mit ziemlicher Sicherheit kannte keiner der Anwesenden Meierling privat, sondern sie schwärmten einfach für die sympathische Kunstfigur, als die der Autor sich in der Öffentlichkeit offenbar perfekt zu inszenieren verstand. Wenn diese Leute wüssten, was Benno inzwischen wusste …
Aufmerksam ließ Benno den Blick über die Menge gleiten, konnte aber nichts Auffälliges entdecken. Vor allem keine Spur von Johannes Haferkamp. Also drehte er sich um, trat an die hintere Tür und machte sie auf, um der Braut beim Aussteigen behilflich zu sein. Er spürte, wie ihre Hand in seiner bebte, und bemühte sich darum, sich nicht anmerken zu lassen, was er von dieser ganzen Farce hielt, sondern sie stattdessen ermutigend anzulächeln.
„Ist sie das?“, hörte er hinter sich und „Wow! Die ist ja noch viel hübscher als im Internet!“
Aber auch andere Dinge. Zum Beispiel: „Boah, wie billig!“ oder „Kann mir mal wer sagen, was Cosmin ausgerechnet an dieser Tussi findet?“
Bianca Meerbusch war noch immer blass und nervös, rang sich jedoch ein Lächeln für die Kameras ab und winkte sogar flüchtig in die Menge, bevor sie rasch dem Eingang des Standesamtes zustrebte. Ihre Trauzeugin folgte ihr und Benno und Kaufmann bildeten die Nachhut.
„Wieso dürfen die beiden da eigentlich mit rein und wir nicht? Sind das Freunde von Cosmin, oder was?“, war das Letzte, was sie noch hörten, ehe die schweren Türen sich hinter ihnen schlossen. Bianca Meerbusch amtete hörbar auf.
Zu Bennos Überraschung erwarteten die beiden uniformierten Kollegen von vorhin sie bereits und nickten den Kommissaren nun zu.
„Was machen Sie denn hier?“, wollte er wissen.
„Kremer hat uns hergeschickt. Als Unterstützung“, erläuterte der eine der beiden. „Damit hier nicht Hinz und Kunz einfach reinstürmen kann. Es waren auch schon einige drin, die wir zum Teil ziemlich nachdrücklich nach draußen bitten mussten.“
„Keine schlechte Idee“, meinte Kaufmann und deutete mit dem Daumen über die Schulter nach draußen. „Das fehlte gerade noch, dass die alle hier ankommen und dabei sein wollen.“
Benno schaute sich nach den beiden Frauen um und entdeckte sie im Gespräch mit einem Mann mittleren Alters, der einen feierlichen Anzug trug und eine Kladde unter den Arm geklemmt hatte. Er hielt ihn am ehesten für den zuständigen Standesbeamten.
Ein Stück abseits stand jedoch noch ein weiterer Mann. Er trug ebenfalls einen Anzug, war aber deutlich jünger als der Standesbeamte. Seine dunkelblonden Haare hatte er sorgfältig zurückgekämmt und auf der linken Kopfseite sauber gescheitelt. Auf seiner schmalen Nase saß eine dunkle Hornbrille und insgesamt wirkte er eher schmächtig.
„Wer ist denn das da?“, fragte Benno und deutete auf den Unbekannten.
„Der Trauzeuge von Herrn Meierling. Ein gewisser Bruno Vormwinkel“, antwortete einer der Uniformierten.
„Vormwinkel?“ Benno runzelte die Stirn. „Sagt mir nichts. Dir?“, wandte er sich an Kaufmann, der bereits wieder damit beschäftigt war, die rothaarige Trauzeugin anzusabbern.
„Hm? Was? – Ach so. Nein. Nie gehört.“
„Er ist offenbar Herrn Meierlings Lektor“, fügte der Streifenbeamte daraufhin erklärend hinzu.
„Ach? Sein Lektor? Ist ja interessant.“
Benno ging zu dem Mann hinüber und stellte sich vor. Vormwinkel schüttelte ihm höflich lächelnd die Hand, wirkte aber alles in allem etwas deplatziert und so, als könnte er sich selbst keinen rechten Reim darauf machen, warum es ausgerechnet ihn hierher verschlagen hatte.
„Kommissar?“, fragte er gleich darauf nach und blinzelte sichtlich verwundert. „Was macht denn ein Kommissar auf Cosmins Hochzeit?“
„Eigentlich sind wir sogar zu zweit“, erwiderte Benno und deutete auf seinen Kollegen Kaufmann. „Wir sind hier, weil wir glauben, Herr Meierling oder seine Braut könnten womöglich in ernsthafter Gefahr sein.“
„In Gefahr?“, wiederholte Vormwinkel und riss die Augen auf. „Um Gottes willen!“
„Also wissen Sie nicht, dass Herr Meierling seit einiger Zeit anonyme Drohbriefe erhält?“, hakte Benno nach.
„Drohbriefe?“ Vormwinkels Brauen wölbten sich aufwärts. „Nein. Davon hat er mir nichts erzählt.“ Er hielt inne und schien nachzudenken. „Außer …“ Er verstummte.
„Außer?“
„Oh, na ja, wissen Sie, Herr Kommissar, es hat vermutlich nichts zu bedeuten, ist ein reiner Zufall, aber … da war doch vor ein paar Monaten diese Geschichte überall in den Medien, wo irgend so ein Popsternchen öffentlich gemacht hat, dass sie mit kompromittierenden Informationen über sich selbst erpresst worden ist. Damals meinte Cosmin in einem Gespräch zu mir, wem so was passieren würde, für den wäre das doch die beste kostenlose Publicity, die man sich nur wünschen könnte.“ Er lachte. „Aber das war natürlich nur ein Scherz.“
„Natürlich“, wiederholte Benno, meinte es aber keineswegs so.
War es am Ende möglich, dass Meierling sich die Drohbriefe alle selbst geschickt hatte? Um sich interessant zu machen?
„Eine Frage noch“, wandte er sich dann erneut an Vormwinkel. „Wie gut kennen Sie Herrn Zellerfeld?“
„Ach Gott, gut kennen wäre zu viel gesagt“, meinte der und hob die Schultern. „Ich lektoriere seine Bücher. Ich bin bei keinem Verlag angestellt, sondern freiberuflich tätig, wissen Sie. Und an einer so bekannten Romanreihe mitwirken zu können, das macht sich gut in der eigenen Vita. Reich wird man allerdings nicht davon.“ Er seufzte und hob einen Mundwinkel in der Andeutung eines Grinsens. „Cosmin kann ziemlich charmant sein, wenn er will. Oder vielleicht sollte ich sagen, wenn er etwas von einem will. – Also, wir sind nicht wirklich befreundet oder so. Über private Dinge reden wir so gut wie nie. Deshalb war ich ja auch so überrascht, als er mich gefragt hat, ob ich für ihn den Trauzeugen machen würde.“
„Hm. Hat er denn sonst niemanden? Ich meine, enge Freunde oder so?“, hakte Benno nach.
„Das weiß ich wirklich nicht, Herr Kommissar. Nur, dass er und Johannes Haferkamp, Sie wissen schon, sein Assistent, sich wohl recht nahestehen. Ich glaube, die kennen sich schon etliche Jahre. Eigentlich hätte ich deswegen ja erwartet, dass Haferkamp auch sein Trauzeuge wird, aber wie Cosmin mir erzählt hat, hat der seine diesbezügliche Bitte offenbar abgelehnt. – Natürlich fühle ich mich außerordentlich geehrt, dass er stattdessen nun mich ausgewählt hat“, versicherte Vormwinkel rasch.
„Hm. Vielen Dank, Herr Vormwinkel“, meinte Benno und ging nachdenklich zurück zu seinem Kollegen.
Der hatte ihn ganz offensichtlich nicht vermisst und nach wie vor nur Augen für die rothaarige Trauzeugin, die ihn jedoch keines Blickes würdigte und sich stattdessen ausschließlich ihrer aufgeregte Freundin widmete.
„Hey, stell dir mal vor, was ich gerade rausgefunden habe.“ Benno stieß Kaufmann an, um dessen Aufmerksamkeit zu erregen. „Johannes Haferkamp hat es abgelehnt, Meierlings Trauzeuge zu sein.“
„Und?“
Kaufmann wirkte nur mäßig beeindruckt, aber vielleicht lag das auch an der zweibeinigen Ablenkung.
„Und?“, wiederholte Benno. „Na, findest du es nicht auffällig, wenn ein angeblicher guter Freund, den er seit über fünfzehn Jahren kennt, es ablehnt, Trauzeuge zu sein und an seiner Stelle jemand den Posten übernimmt, den man bestenfalls als Bekannten bezeichnen könnte?“
„Nö.“ Jetzt endlich wandte Bennos Kollege sich ihm vollends zu. „Wenn der Haferkamp wirklich auf den Meierling abfährt, passt das sogar absolut ins Bild, finde ich. Überleg doch mal – würdest du freiwillig den Trauzeugen für jemanden machen, den du selbst liebst?“
„Genau das meine ich doch!“, erwiderte Benno schnaubend. „So langsam fügt sich ein Puzzleteilchen zum anderen. Der einzige Mist ist, dass es scheinbar nur Stücke vom Rand sind. Das Mittelstück fehlt leider immer noch.“
„Hä?“
Kaufmann war schon wieder dabei, Nicole Frenzl anzuhimmeln, und Benno seufzte kopfschüttelnd.
„Vergiss es“, sagte er.
Gleich darauf zog er sein Handy aus der Tasche und checkte die Uhrzeit. Kurz vor elf. Sollte der glückliche Bräutigam nicht inzwischen hier sein? Wo blieb Meierling?
Benno ging zur Eingangstür des Standesamtes, zog sie halb auf und spähte stirnrunzelnd nach draußen. Der Anblick war derselbe wie vorhin. Die wartenden Fans, blauer Himmel, Sonnenschein, ein Stück entfernt die wartende Limousine. Aber kein Thomas Meierling.
Ihn beschlich eine üble Vorahnung.
Auf seinem Smartphone suchte er die Telefonnummer der Lindenkrone heraus und rief an der Rezeption an.
„Hotel Lindenkrone, Rezeption. Sie sprechen mit Angela Walters, was kann ich für Sie tun?“, meldete sich eine freundliche Frauenstimme.
„Hier ist Kommissar Benno Hagemann. Ich stehe gerade im Standesamt, wo Herr Thomas Meierling, der bei Ihnen wohnt, um elf Uhr heiraten soll. Bis jetzt ist er aber noch nicht erschienen. Wissen Sie vielleicht zufällig, ob Herr Meierling sich noch im Hotel befindet?“
„Herr Meierling? Ach, Sie meinen sicher Herrn Zellerfeld, den Schriftsteller? Einen Moment, bitte, ich überprüfe das.“
Ein Klicken ertönte, dann drang sanfte Geigenmusik an Bennos Ohr. Vielleicht eine halbe Minute später meldete sich die Concierge erneut.
„Hören Sie? In Herrn Zellerfelds Suite meldet sich niemand. Außerdem bestätigte mir soeben der Etagenkellner, dass der Gast unser Haus vor etwa einer halben Stunde verlassen hat.“
„War er allein?“, wollte Benno wissen.
„Augenblick, ich frage nach.“
Wieder erklang das Gefiedel und zerrte an Bennos Nerven.
„Herr Kommissar?“
„Ja?“
„Laut unserem Mitarbeiter befand sich Herr Zellerfeld in Begleitung. Sein Assistent war bei ihm, Herr Haferkamp“, erklärte die Hotelangestellte zuvorkommend.
„Ist das sicher?“, hakte Benno nach, in dessen Magengrube sich plötzlich ein schwerer Klumpen zu formen begann. „Ich meine, ist der Mann sich sicher, dass es sich um Zellerfelds Assistenten gehandelt hat?“
„Absolut. Herr Haferkamp war ja bis vor Kurzem ebenfalls noch Gast unseres Hauses“, bekam er zur Antwort.
„Wissen Sie vielleicht, wohin die beiden gegangen sind? Oder ist Ihrem Mitarbeiter irgendwas an der Situation komisch vorgekommen?“, wollte Benno noch wissen, während er bereits die beiden uniformierten Beamten und Kaufmann herbeiwinkte.
„Warten Sie, ich denke, es ist vielleicht besser, wenn Sie selbst mit dem Kollegen sprechen“, meinte die Frau und gleich darauf meldete sich eine ziemlich jung klingende männliche Stimme.
„Hallo?“
„Hagemann, Kripo“, stellte Benno sich kurz vor. „Sie haben gesehen, dass Herr Zellerfeld in Begleitung seines Assistenten Johannes Haferkamp das Hotel vor etwa einer halben Stunde verlassen hat. Ist das richtig?“
„Ja, das stimmt.“
Der Mann klang verwirrt. Benno konnte es ihm nicht verdenken.
„Kam Ihnen am Verhalten der beiden irgendwas merkwürdig vor? Oder wissen Sie, wo sie hin wollten?“
„Merkwürdig war da eigentlich nichts, nein. Die haben sich ganz normal unterhalten, so wie immer. Also, ich meine, bevor der Haferkamp abgereist ist. Sie haben beide schicke dunkle Anzüge angehabt und der Zellerfeld hatte außerdem noch so ein kleines Ministräußchen am Revers. Da ist mir dann eingefallen, dass er ja heute heiratet und ich hab’ ihm noch alles Gute gewünscht. Sie sind dann im Fahrstuhl geblieben, als ich im Erdgeschoss ausgestiegen bin, also denke ich mal, sie wollten in die Tiefgarage. Vermutlich, um mit Herrn Haferkamps Wagen zum Standesamt zu fahren. Der Zellerfeld ist ja ohne eigenes Fahrzeug angereist und immer von seinem Assistenten überall hingefahren worden.“
„Vielen Dank“, sagte Benno und legte auf. „Verdammte Scheiße!“
„Was ist denn los?“, wollte Kaufmann wissen. „Mit wem hast du telefoniert?“
Er und die beiden Streifenbeamten standen inzwischen um Benno herum und der erklärte ihnen die Lage.
„Haferkamp ist scheinbar heute Morgen ins Hotel gefahren und hat seinen Ex-Boss abgeholt, als wäre nie was gewesen“, sagte er möglichst leise, damit die Frauen es nicht mitbekamen. „Vor einer halben Stunde sind sie gesehen worden, wie sie zusammen in die Tiefgarage des Hotels gefahren sind. Beide im Anzug und offenbar auf dem Weg zur Trauung. Aber da keiner der beiden bis jetzt hier aufgetaucht ist, würde ich mal vermuten, dass wir mit unserem Verdacht gegen Haferkamp doch richtig lagen und es jetzt mit einer Entführung zu tun haben.“
„Ach, du Scheiße“, pflichtete Kaufmann seiner vorigen Einschätzung der Lage bei. „Was machen wir jetzt?“
„Sie beide“, Benno wies auf die uniformierten Beamten. „Sie bleiben hier und passen auf die beiden Frauen und den Trauzeugen auf. Lassen Sie sich von mir aus einen Raum zuweisen, wo Frau Meerbusch sich hinsetzen kann, immerhin ist sie im sechsten Monat. Nur sorgen Sie dafür, dass niemand abhaut. Du und ich“, jetzt wies er auf Kaufmann und sich selbst. „Wir fahren als Erstes ins Hotel und sehen uns da um. Von unterwegs informieren wir Kremer und geben auch gleich eine Fahndung raus.“
Noch während der letzten Worte hatte Benno sich in Bewegung gesetzt und hastete nun, dicht gefolgt von seinem Partner, aus dem Standesamt ins Freie.
Die wartenden Fans starrten ihnen neugierig entgegen, doch die Kommissare beachteten sie nicht und rannten stattdessen zu der wartenden Limousine. Der Chauffeur schaute sie erschrocken an, als Benno die Beifahrertür aufriss und hineinhechtete.
„Fahren Sie uns zum Hotel Lindenkrone !“, herrschte er den Mann an. „Schnell!“
„Was? Ja, aber … die Hochzeit?“, stammelte der Livrierte.
„Fällt aus“, erwiderte Kaufmann von hinten. „Nun machen Sie schon!“
Benno hatte inzwischen außer seinem Handy auch den Dienstausweis gezückt und hielt ihn dem Mann ebenfalls unter die Nase, woraufhin er verstummte und stattdessen den Motor startete.
Der Verkehr war in der Zwischenzeit etwas dichter geworden und es dauerte ungefähr zwanzig Minuten, bis das schwere Gefährt vor dem Hotel ausrollte. Kaum hatten sie richtig angehalten, sprangen Benno und Kaufmann bereits ins Freie und rannten im Laufschritt die Außentreppe hoch.
Sie sprachen gerade noch mit der Concierge, als mehrere uniformierte Polizisten ins Foyer strömten. Benno hatte von unterwegs aus bei ihrem Chef angerufen und ihn über die veränderte Lage informiert. Kremer hatte natürlich geflucht wie ein Bierkutscher, dann aber souverän das Kommando übernommen.
Eine Fahndung nach Johannes Haferkamp und Thomas Meierling war mittlerweile angelaufen. Fotos der beiden, ebenso wie ein Bild und das Kennzeichen von Haferkamps Wagen, waren ebenfalls herausgegeben worden und ein Team der Spurensicherung befand sich ebenfalls auf dem Weg ins Hotel. Bis zu deren Eintreffen würden Benno und Kaufmann, unterstützt von den uniformierten Kräften, zuerst das Hotel von oben bis unten absuchen und dann weitersehen.
Benno schickte die Beamten nach oben zu Meierlings Suite und zur Befragung etwaiger Zeugen, während er und Kaufmann den Keller des Gebäudes übernahmen, vor allem natürlich die Tiefgarage und die angrenzenden Räumlichkeiten.
„Wieso zum Geier, will dieser bescheuerte Meierling sich von Haferkamp zum Standesamt fahren lassen, obwohl er doch weiß, dass wir wegen der Drohbriefe nach dem Kerl suchen? Außerdem dachte ich, er hätte ihn gefeuert!“, beschwerte sich Kaufmann, während er zusammen mit Benno im Fahrstuhl nach unten fuhr. „Das passt doch alles hinten und vorne nicht zusammen!“
„Sehe ich auch so“, knurrte Benno. „Aber ich schlage vor, wir konzentrieren uns erst mal darauf, den Spinner zu finden. Möglichst lebendig und in einem Stück! Was genau in seinem Gehirn falsch verdrahtet ist, darum kümmern wir uns später.“
Mit einem „Pling“ öffnete sich die Kabinentür und sie fanden sich in einem kleinen, rechteckigen Raum wieder, von dem zwei Türen abzweigten und wo eine Betontreppe, direkt neben dem Fahrstuhl, aufwärts führte. Über der einen Tür leuchtete ein grünes Notausgangsschild, auf der anderen klebte ein Schriftzug: „Nur für Personal!“. Beides waren schwere, rot gestrichene Sicherheitstüren aus Metall.
„Das hier wird dann wohl der Zugang zur Tiefgarage sein“, meinte Kaufmann und deutete auf die unbeschriftete Tür. Benno nickte, griff nach deren Klinke und drückte sie auf. Bewegungsmelder sorgten dafür, dass klickernd die Deckenbeleuchtung ansprang, während sie sich vorsichtig tiefer in den Raum hineinbewegten.
Es standen nur wenige Fahrzeuge hier unten, sodass Benno den dunkelblauen BMW von Johannes Haferkamp rasch entdeckte. Er ging darauf zu und legte prüfend die Hand auf die Motorhaube. Kalt.
„Ist das die Karre von Haferkamp?“, fragte Kaufmann leise und kam näher.
Benno nickte.
„Aber gefahren ist er damit nicht. Zumindest nicht vor Kurzem.“ Er sah seinen Kollegen eindringlich an. „Dir ist klar, was das vermutlich bedeutet, oder?“
„Wenn sie nicht zu Fuß hier raus sind, was ich für unwahrscheinlich halte, sind sie noch irgendwo hier im Hotel“, schlussfolgerte Kaufmann grimmig und tastete, ebenso wie Benno, nach seiner Waffe. „Die andere Tür“, sagte er dann und machte eine Kopfbewegung in Richtung Treppenhaus.
Gemeinsam eilten sie zurück in den kleinen Vorraum, zogen dort beide ihre Pistolen, bevor Benno vorsichtig die zweite schwere Metalltür öffnete.
Dahinter erstreckte sich ein breiter, hell erleuchteter Gang mit weiß gestrichenen Wänden. Mehrere Türen, alle geschlossen, befanden sich zu beiden Seiten und ein Hauch feuchter Wärme schlug ihnen entgegen. Außerdem war ein Geräusch zu hören, wie das dumpfe Röhren irgendwelcher Maschinen.
Möglichst lautlos und mit gespitzten Ohren schoben sich die Kommissare vorwärts, öffneten eine Tür nach der anderen, fanden Lagerräume für Geschirr und Wäsche, ausrangierte Möbel, Putzwagen und noch einiges anderes dahinter vor, aber keine Spur von Meierling und Haferkamp.
Schließlich waren bloß noch zwei Türen übrig und das dumpf dröhnende Geräusch war hier besonders laut. Benno glaubte inzwischen zu wissen, was es war. Die hoteleigenen Waschmaschinen mussten sich hier unten befinden, worauf auch der dezente Geruch nach Waschmittel und Weichspüler hindeutete.
Plötzlich glaubte er, Stimmen zu hören. Aus dem Raum zu ihrer Rechten, aus dem auch das Geräusch der Maschinen zu ihnen drang. Er hielt inne und sah zu Kaufmann hinüber, der offenbar ebenfalls etwas gehört hatte.
Benno legte einen Finger an die Lippen und deutete auf die Tür. Bei genauerem Hinsehen stellte sich heraus, dass sie nicht ganz geschlossen war, sondern nur angelehnt.
Sein Kollege nickte.
Sie näherten sich der Tür von beiden Seiten und als sie sie erreicht hatten, zog Benno sie vorsichtig ein wenig weiter auf. Die Stimmen wurden nun deutlicher, und er war sich sicher, die beiden Gesuchten gefunden zu haben.
„Damit kommst du doch nie im Leben durch, Johannes“, hörte er jemanden sagen, den er für Meierling hielt. „Die suchen bestimmt schon nach mir! Wenn sie dich erwischen, stecken sie dich ins Gefängnis! Und sie werden dich erwischen! Ganz sicher!“
Der Kerl klang längst nicht mehr so arrogant und selbstsicher, wie Benno ihn bisher erlebt hatte. Eher … nun ja – ängstlich? Was machte Haferkamp da mit ihm?
Benno steckte den Kopf nach drinnen und warf einen raschen Blick in den Raum. Wie er vermutet hatte, handelte es sich ganz offenbar um die Wäscherei des Hotels. Mehrere Waschmaschinen und zwei Trockner säumten die eine Wand, an der anderen stand eine altmodische Heißmangel neben einer Dampfbügelstation. Es war klar, dass hier nicht die Wäsche des Hotels gewaschen wurde, sondern lediglich die derjenigen Gäste, die den entsprechenden Service in Anspruch nahmen.
An einem Gestell neben der Bügelstation hingen, säuberlich aufgereiht und in Klarsichtfolie verpackt, Hemden, Hosen und Blusen und direkt daneben kauerte Thomas Meierling auf dem Boden. Er stierte aus weit aufgerissenen Augen zu Johannes Haferkamp hoch, der vor ihm stand und mit einer Schusswaffe auf seinen Ex-Boss zielte. Benno und seinen Kollegen bemerkte keiner der beiden. Jetzt lachte Haferkamp und es klang sowohl bitter als auch höhnisch.
„Na und? Mir doch egal“, sagte er. Sein Tonfall war schrill, als befände er sich einer Panik nahe. „Sollen sie mich doch von mir aus bis an mein Lebensende wegsperren! Das ist es mir wert, dir dafür vorher noch dein elendes Lügenmaul endgültig zu stopfen! Der große Schriftsteller Cosmin Zellerfeld! Ein Autor zum Anfassen! Drauf geschissen!“ Er spuckte aus. „Wenn die wüssten, was für ein arroganter, egozentrischer Scheißkerl du bist, die würden dich allesamt mit dem Arsch nicht mehr anschauen!“
Er hob die Waffe. Es klickte leise, als er den Sicherungshebel löste, und Meierling reckte ihm abwehrend eine Hand entgegen.
„Bitte, tu das nicht!“, bat er flehentlich und duckte sich. „Mach dich doch nicht unglücklich!“
„Als ob es dich jemals interessiert hätte, was mich unglücklich macht“, erwiderte Haferkamp heiser und Benno entschied, dass es an der Zeit war, einzugreifen.
Er und Kaufmann waren inzwischen, noch immer unbemerkt von Meierling und seinem ehemaligen Assistenten, tiefer in den Raum vorgedrungen, und nun machte Benno einen großen Schritt nach vorn, hinein in ihr Blickfeld.
„Die Waffe weg!“, rief er und richtete seine eigene Pistole auf Haferkamp.
Neben ihm tat Kaufmann dasselbe. Die beiden Männer vor ihnen fuhren merklich zusammen, doch während Meierling sichtlich erleichtert aufatmete, bewegte sich die Waffe in der Hand seines ehemaligen Assistenten keinen Zentimeter zur Seite.
„Gott sei Dank!“, stöhnte Meierling. „Da sind Sie ja endlich! Nehmen Sie den Mann fest! Er ist vollkommen verrückt geworden!“
„Halt dein großes Maul!“, kommandierte Haferkamp. „Jetzt bin ich also verrückt?“, fügte er dann hinzu. „Ich sag’ dir mal was, Thomas: Verrückt war ich, als ich deinen ganzen beschissenen Lügen geglaubt und sie auch noch vor anderen wiederholt habe! Als ich gedacht habe, an all deinem Geschwätz von einer gemeinsamen Zukunft wäre auch nur ein einziges Fünkchen Wahrheit! Oh, aber du musstest ja zuerst an dein Erbe denken, nicht wahr?“, höhnte er. „Zuerst die Kohle sichern, ganz egal wie! Und danach – danach! – wäre dann endlich der Zeitpunkt gekommen, wo du dich offen zu mir bekennen könntest, nicht wahr? Daran hab’ ich mich geklammert! Vorher müsstest du ja nur noch diese verdammte Scheinehe eingehen und das Kind dieser dämlichen Kuh als dein eigenes anerkennen.“
Er schnaubte und die Waffe in seiner Hand begann zu zittern.
„Dabei hätte mir doch klar sein müssen, dass jemand, der so was macht, der sich so eine perfide Strategie ausdenkt, es niemals ehrlich meint und sich nur um die eigenen Bedürfnisse schert! Dass du einfach bloß ein egoistischer Scheißkerl bist, der andere Menschen manipuliert und sie bedenkenlos fallen lässt, wenn sie ihm nichts mehr nützen!“
Den letzten Satz schrie er unvermittelt laut heraus und wieder zuckte der am Boden kauernde Mann zusammen.
Aber Haferkamp war noch nicht fertig. Er weinte jetzt, doch die Pistole wies nach wie vor auf Meierlings Kopf.
„Haferkamp!“, sprach Benno ihn an. „Das ist der Kerl doch nicht wert! Nehmen Sie die Waffe runter!“
„Aber ich hab’ dir alles geglaubt, weißt du“, fuhr Haferkamp fort. Es schien, als hörte er gar nicht, was Benno sagte und spräche mehr zu sich selbst. „Deine ganzen Lügen, mit denen du mich jahrelang hingehalten hast. Ich wollte es eben glauben. Ich wollte glauben, dass ich für dich was Besonderes bin. Dass es stimmte, wenn du mir versichert hast, dass du nur mich liebst und all deine anderen Affären nichts zu bedeuten hätten. Ich hab’ die ganze Zeit daneben gestanden, wenn du mit diesen geifernden Weibern geflirtet hast, auf den Messen oder nach deinen Lesungen. Wenn sie sich an dich rangeschmissen haben, dir ihre Titten vor die Nase gehalten oder Zettelchen zugesteckt haben. Ich hab’ daneben gestanden und nichts dazu gesagt. Weil ich ja wusste, dass du später wieder zu mir ins Bett gekrochen kommen würdest. Weil ich dachte, das bedeutet, dass du mich tatsächlich liebst! So, wie du es ja immer behauptet hast. Dass du mich in der Öffentlichkeit nur so mies behandelst, damit niemand Verdacht schöpft. Alles wegen deinem verfickten Scheiß-Erbe!“
Er schniefte und schüttelte den Kopf.
„Dabei war es von deiner Seite einfach nur schnöder Pragmatismus, nicht wahr? Nachdem dieser Escort dich beinahe hätte auffliegen lassen, war es bedeutend sicherer, nur noch mit deinem Assistenten zu vögeln, als dich ständig einem neuen Risiko auszusetzen, stimmt’s? Du konntest dir ja sicher sein, dass ich dich niemals verraten würde, solange du mir nur hin und wieder ein bisschen Honig ums Maul geschmiert hast. War’s nicht so? Ich hab’ ja sowieso immer alles für dich getan. Genau wie bei diesen dämlichen Drohbriefen.“
Jetzt drehte Haferkamp den Kopf in Bennos Richtung und grinste verzerrt.
„Sie suchen doch immer noch denjenigen, der die an Thomas geschickt hat, oder? Bitte sehr – ich war’s. Aber es war seine Idee!“
Er machte eine Kopfbewegung zu Meierling.
„Ist doch nichts weiter dabei, Johannes. Nur ein paar simple Briefe. Du musst ja keine konkreten Drohungen aussprechen, kannst es doch ganz allgemein halten, wenn dich das beruhigt. Aber wenn wir das in den Fanforen streuen, stell’ dir doch nur mal vor, wie die ganzen dämlichen Weiber abgehen werden! – Das hat er zu mir gesagt und ich Blödmann hab’ es tatsächlich gemacht, dämlich wie ich war!“
„Hören Sie nicht auf ihn!“, rief Meierling. „Er ist verrückt!“
Benno achtete nicht auf ihn.
„Haferkamp, sehen Sie mich an“, forderte er, möglichst ruhig, aber eindringlich. Er wartete einen Moment, bis der Angesprochene tat, was er verlangte, und bemühte sich dann, dessen Blick festzuhalten.
„Denken Sie wirklich, das hier wäre die Lösung? Sie erschießen Meierling und was kommt dann?“, fragte er.
„Dann gibt’s zumindest schon mal ein mieses Arschloch weniger auf der Welt“, erklärte Haferkamp und wischte sich mit einer Hand über das tränenfeuchte Gesicht.
„Kann sein“, erwiderte Benno. „Aber ich glaube, das ist es gar nicht, worum es Ihnen geht. In Wahrheit wollen Sie doch, dass die Welt Thomas Meierling alias Cosmin Zellerfeld so sieht, wie Sie ihn jetzt sehen, richtig? Denken Sie, das erreichen Sie, indem Sie ihn töten? Am Tag seiner Hochzeit?“ Er schüttelte den Kopf. „Ich sage Ihnen, was passieren wird. Sie werden verhaftet, wandern in den Knast und werden vergessen. In spätestens einem Jahr interessiert sich kein Schwein mehr dafür, warum Sie Meierling getötet haben, falls es überhaupt jemals jemand tut. Aber die Bücher von ihm“, er nickte zu Meierling hinunter, „die werden dann immer noch gekauft und gelesen, schon wegen der ganzen Geschichte hier, und all seine Fans, von denen Sie eben gesprochen haben, werden aus ihm einen Märtyrer machen und aus Ihnen ein Monster. Rein gar nichts würde sich also ändern. Ist es das, was Sie wollen?“
Die Hand, in der Johannes Haferkamp die Waffe hielt, zitterte immer stärker. Er schluchzte so heftig, dass es ihn schüttelte, doch schließlich ließ er die Pistole fallen.
Mit einem raschen Schritt war Benno bei ihm, trat die Waffe mit dem Fuß weg und legte dann einen Arm um den weinenden Mann, während Kaufmann Meierling auf die Füße half. Der war blass und zittrig, doch ein Anflug der alten Arroganz machte sich bereits wieder bemerkbar, als Bennos Kollege ihn an Haferkamp vorbei aus dem Raum führte.
„Du elendes Dreckstück, dafür wanderst du hinter Gitter, das schwöre ich dir“, zischte er ihm zu.
Benno hob eine Hand und schirmte Haferkamp entschlossen vor Meierling ab.
„Das überlassen wir hierzulande immer noch einem Richter, Herr Meierling“, sagte er kühl.
Er konnte einfach nicht anders, als tiefstes Mitleid mit Johannes Haferkamp zu empfinden.
Vordergründig betrachtet, war natürlich Meierling das Opfer, keine Frage. Aber hatte der mit seinem Verhalten die ganze Situation nicht selbst heraufbeschworen? Das war selbstverständlich kein Freispruch für Haferkamp. Der Mann hatte sich der Freiheitsberaubung schuldig gemacht und war auch fest entschlossen gewesen, seinen ehemaligen Boss zu erschießen. Wären sie etwas später gekommen, hätte er es womöglich wirklich getan.
Benno beneidete diejenigen nicht, die am Ende sämtliche verworrenen Fäden dieses vertrackten Falles juristisch aufdröseln und bewerten mussten.
Haferkamp stand mit hängendem Kopf vor ihm, weinte noch immer, wirkte aber jetzt in etwa so gefährlich wie ein Hundewelpe. Benno beschloss, seinem Bauchgefühl zu vertrauen und auf Handschellen zu verzichten.
„Kommen Sie mit“, sagte er und fasste den Mann bei der Schulter, ehe er sich auf die korrekte Vorgehensweise besann.
„Johannes Haferkamp, ich verhafte Sie wegen Freiheitsberaubung und Bedrohung mit einer Schusswaffe. Sie müssen sich nicht selbst belasten und haben daher das Recht, die Aussage zu verweigern, außerdem steht Ihnen ein Rechtsbeistand zu. Wenn Sie sich keinen leisten können, wird Ihnen ein Pflichtverteidiger gestellt …“