Epilog
D ie Geschichte schlug hohe Wellen und die örtliche Tageszeitung war tagelang voll mit immer neuen Details über den Fall Zellerfeld. Der größte Teil davon war selbstverständlich reine Spekulation, aber selbst größere, überregionale Medien berichteten diesmal darüber. Deshalb wunderte sich Benno auch nur wenig, dass sich zwei Tage nach Haferkamps Verhaftung, am Montagmorgen, Gruber morgens telefonisch bei ihm meldete und ihm zur Lösung des Falles gratulierte.
Er nahm die Glückwünsche recht verhalten entgegen und natürlich merkte Gruber sofort, dass ihn etwas wurmte.
„Nanu?“, fragte er. „Fast könnte man ja meinen, du freust dich gar nicht, dass du die Sache endlich vom Tisch hast. Was ist denn los?“
Benno seufzte.
„Hast du dir die Berichte in den Zeitungen und im Internet mal angesehen?“, fragte er. „Fast überall wird Meierling als das arme Opfer hingestellt. Dabei hat der Kerl den Haferkamp jahrelang behandelt wie einen Fußabtreter und damit diese Eskalation der Ereignisse überhaupt erst ausgelöst! Hat ihm Gefühle vorgespielt und ihn auf die Art immer und immer wieder für seine eigenen Zwecke eingespannt. So wie der arme Kerl uns inzwischen erzählt hat, hat sein Boss ihn noch dazu in der Öffentlichkeit ständig schikaniert und gedemütigt. Und wenn Haferkamp dann tatsächlich mal mit Kündigung gedroht hat, hat er ihm wieder ein bisschen Honig ums Maul geschmiert und er ist doch bei ihm geblieben.“ Benno schnaubte. „Ich weiß nicht, ob das noch Liebe war oder schon Hörigkeit.“
„Höre ich da etwa Mitleid mit einem Täter heraus?“, fragte Gruber, doch es klang gutmütig.
„Ich weiß, ich weiß, Horst. Als Bulle musst du objektiv sein. Schon klar. Aber es stinkt mir, dass dieser Meierling mit der ganzen Scheiße ungeschoren davonkommen soll und Haferkamp den alleinigen Schwarzen Peter zugeschoben bekommt. Er hat ausgesagt, dass es die Idee seines Chefs war, diese Drohbriefe zu schreiben, aber der streitet das natürlich ab. Zeugen gibt’s keine, schließlich ist Meierling zwar ein Arschloch, aber zumindest nicht völlig dämlich, also steht Aussage gegen Aussage. Und nachdem die entsprechenden Dateien auf Haferkamps Computer sichergestellt werden konnten … Ehrlich, es sieht verflucht übel aus für den Mann.“
„Was hat ihn denn überhaupt dazu gebracht, sich am Ende gegen sein Idol zu wenden?“, fragte Gruber.
Benno seufzte.
„Man könnte wohl sagen, Meierling hat den Bogen am Ende überspannt. Nachdem Haferkamp bei der letzten Befragung das mit der bezahlten Hochzeit ausgeplaudert hat, ist es zum Streit zwischen ihnen gekommen. Meierling hat ihn aufs Übelste beschimpft, hat ihm vorgeworfen, ein unfähiger Schwachkopf zu sein und dergleichen mehr. Da hat dann wohl irgendwas Klick gemacht bei Haferkamp. Zumindest hat er es uns gegenüber so berichtet. Plötzlich wäre ihm klargeworden, dass sein vergötterter Thomas nicht im Mindesten dem entsprach, was er jahrelang in ihm gesehen hatte. Daraufhin ist er zuerst abgereist, mit dem Vorsatz, nach Hause zu fahren. Unterwegs hat er es sich aber dann anders überlegt und ist auf halber Strecke umgekehrt. Eine Waffe besaß er schon, er war mal Mitglied in einem Schützenverein. Da ist er allerdings schon vor Jahren ausgetreten, weil ihm für sein Hobby die Zeit fehlte, nachdem er angefangen hatte, für Meierling zu arbeiten. Und wie es der Zufall wollte, hatte er die Pistole sogar bei sich. Im Handschuhfach seines Wagens. So wie er es geschildert hat, hat er irgendwo unterwegs Rast gemacht und nach einem Papiertaschentuch gesucht. Dabei ist ihm die Waffe in die Hände gefallen und ihm die Idee gekommen, Meierling zu erschießen.“
„Hm. Also Vorsatz“, stellte Gruber fest.
„Ja, leider. Ich sag’ ja, es sieht nicht gut für ihn aus“, stimmte Benno zu.
„Gibt es denn gar keine andere Möglichkeit, zumindest bei dieser Briefsache seine Version zu beweisen?“, wollte Gruber wissen.
„Ich wüsste nicht, wie das gehen sollte. Glaub mir, ich hab’s wirklich versucht, aber ich habe einfach nichts in der Hand“, bedauerte Benno.
„Und wieso hat dieser hirnverbrannte Autor sich nicht bei euch gemeldet, als sein geschasster Assistent plötzlich wieder bei ihm aufgetaucht ist? Er wusste doch wohl, dass ihr nach ihm sucht, oder?“, kam Grubers nächste Frage.
„Tja“, machte Benno. „Ich würde sagen, das war ein klarer Fall von Selbstüberschätzung. Er dachte wohl, es läuft alles nach dem gewohnten Schema ab und Haferkamp kommt wie immer reumütig zu ihm zurückgekrochen. Vermutlich konnte er sich im Traum nicht vorstellen, dass der erbärmliche Waschlappen, für den er ihn seit jeher gehalten hat, wirklich die Hand gegen ihn erheben könnte.“
„Hm, dann ist dem Kerl nicht mehr zu helfen.“ Gruber seufzte. „Na ja, aber wenigstens diese unsägliche Hochzeit scheint ja erst mal vom Tisch zu sein, nach allem, was ich gelesen habe“, meinte Gruber und entlockte Benno damit zumindest ein kleines Schmunzeln.
„Ja“, sagte er. „Darüber bin ich auch ziemlich erleichtert. Seine Verlobte – oder besser gesagt Ex-Verlobte – ist wohl zu dem Schluss gekommen, dass sie lieber doch nicht mit einem Menschen wie Thomas Meierling verheiratet sein möchte. Auch nicht nur für ein Jahr und für eine fünfstellige Summe.“
„Hm. Wäre es vielleicht möglich, dass ein kleines Vögelchen ihr ein paar unangenehme Wahrheiten zugezwitschert hat?“, fragte Gruber und Benno meinte, ihn zwinkern hören zu können.
„Keine Ahnung“, gab er sich betont unschuldig. „Wäre aber durchaus möglich, denke ich.“
In diesem Moment öffnete sich die Tür des Büros und Kaufmann kam herein, in der einen Hand einen Kaffeebecher, in der anderen eine Tageszeitung. Er hatte die Stirn gerunzelt und schien in irgendeinen Artikel vertieft zu sein.
„Und wie läuft’s inzwischen mit dem Neuen? Alles wieder paletti?“, drang Grubers nächste Frage an Bennos Ohr.
„Ja, irgendwie schon.“
Benno war zu abgelenkt für eine ausführlichere Antwort, da Kaufmann, entgegen seiner sonstigen Gewohnheit, kein einziges Wort an ihn richtete. Was zur Hölle war in der Zeitung so verflucht interessant?
„Na fein. Also, Benno, ich muss dann mal wieder los. Die Zumba-Hölle erwartet mich. Halt die Stellung, bis ich zurück bin und lass mir noch ein bisschen Arbeit übrig, ja? Wassergymnastik und Spaziergänge im Wald sind ja gut und schön, aber für einen alten Bullen wie mich nicht das Gelbe vom Ei. Ach ja und ehe ich’s vergesse: Wenn ich wieder zurück bin, erwarte ich, dass du mich als Erstes auf einen Döner einlädst! Mit allen Schikanen!“
„Wieso muss ich dich einladen und nicht umgekehrt?“, wollte Benno grinsend wissen.
„Na, ich verdanke es doch letzten Endes dir, dass ich hier gelandet bin, oder? Dafür schuldest du mir was, finde ich! Ich zeig’ dir im Gegenzug auch ein paar Zumbaschritte. Deal?“
Benno lachte und versprach Gruber den gewünschten Döner, dann legte er auf.
Kaufmann war noch immer in die Zeitung vertieft und ließ mit keiner Regung erkennen, dass er Bennos Anwesenheit überhaupt zur Kenntnis nahm. Der räusperte sich, doch auch darauf erfolgte keine Reaktion.
„Scheint ja heute mächtig spannend zu sein, das Käseblatt“, sagte Benno.
„Mhm“, brummelte Kaufmann, sah aber immer noch nicht auf.
„Lässt du mich dumm sterben oder verrätst du mir, was da so wahnsinnig Interessantes drin steht?“, hakte Benno erneut nach.
„Was?“ Kaufmann sah hoch. „Ach so. Das wird dich auch interessieren“, meinte er dann und schob die Zeitung zu ihm hinüber. „Da, lies das mal.“
Mit dem Zeigefinger deutete er auf einen mehrspaltigen, halbseitigen Artikel, neben dem ein Foto von Bianca Meerbusch prangte.
Benno überflog die Überschrift und zog das Blatt dann ganz zu sich.
'Es war alles nur eine einzige Lüge!' , stand da fett gedruckt als Überschrift. Und darunter, etwas kleiner: 'Die Fantasywelt des Cosmin Zellerfeld und sein Kampf um ein Millionenerbe.' Nanu?
Neugierig geworden, begann Benno zu lesen und mit jedem Absatz wuchs in ihm das Bedürfnis, laut loszulachen. Aus reiner Schadenfreude. Bianca Meerbusch hatte einem Reporter der örtlichen Tageszeitung ein ausführliches Interview gegeben, in dem sie zu der geplatzten Hochzeit Stellung nahm und nicht nur freimütig berichtete, dass ihr Jawort für eine fünfstellige Summe hatte erkauft werden sollen, sondern gleich noch einige weitere anrüchige Einzelheiten des Falles preisgab. Unter anderem die jahrelange heimliche Beziehung zwischen Cosmin Zellerfeld und seinem ehemaligen Assistenten und dessen Eingeständnis, die Drohbriefe an seinen Chef auf dessen Wunsch hin verfasst zu haben.
„Wow“, machte Benno und sah zu Kaufmann hinüber. „Woher weiß die das alles überhaupt so genau?“
Sein Kollege schien plötzlich äußerst verlegen. Er rieb sich die Nase und meinte achselzuckend: „Ich nehme mal an, von Nicki.“
„Nicki“, wiederholte Benno und runzelte die Stirn. „Du meinst ihre Freundin? – Aber … da stellt sich dieselbe Frage: Woher weiß die das alles?“
Kaufmann antwortete nicht, aber täuschte sich Benno oder liefen die Ohren seines Kollegen gerade rot an?
Der Groschen fiel.
„Nun sag nicht, du hast aus dem Nähkästchen geplaudert“, sagte er und grinste breit.
„Na ja, es … wäre möglich, okay?“, räumte Kaufmann ein. „Nicki ist ’ne echt tolle Frau und womöglich hab ich … sozusagen im Überschwang der Gefühle … keine Ahnung – ein bisschen arg heftig vom Leder gezogen.“
Benno gluckste.
„Im Überschwang der Gefühle vom Leder gezogen. So, so. Mit anderen Worten, du wolltest sie beeindrucken, stimmt’s?“ Er lehnte sich zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und musterte seinen Kollegen.
„Dir ist aber schon klar, dass du deswegen ziemlichen Ärger mit Kremer bekommen kannst, falls der rausbekommt, dass du mit Insiderinformationen hausieren gegangen bist, oder?“
Kaufmann stieß den Atem aus und nickte.
„Ich weiß“, sagte er. „Ich mache mir aber eher Sorgen, dass Meierling das rauskriegt. Der hetzt mir doch mit Sicherheit seine Scheiß-Anwälte auf den Hals. Der macht mich fertig, dass ich kein Bein mehr auf den Boden bekomme.“
Er schaute Benno regelrecht verzweifelt an, doch der lächelte ihm beruhigend zu.
„Hey, nun mal langsam. Noch ist doch gar nicht gesagt, dass da irgendwas auf dich zurückfällt. Wenn, dann würde sich Meierling wohl zuerst auf Bianca Meerbusch stürzen. Immerhin hat die dieses Interview gegeben. Aber da bin ich mir gar nicht so sicher, denn wenn er sie wegen Verleumdung oder übler Nachrede juristisch belangen will, muss er damit rechnen, dass Haferkamp auch zum Sachverhalt befragt wird. Selbst wenn sich da nichts beweisen lässt, du hast es doch selbst schon mal gesagt: Was im Internet landet, bleibt auch im Internet. Und abgesehen davon ist da ja immer noch die Sache mit der Hochzeit. Meierling hat ihr ja wirklich Kohle dafür angeboten. Und der Ehevertrag ist ein verdammt harter Fakt, den selbst der beste Anwalt nicht einfach so wegleugnen kann. Ich würde es also zumindest für fraglich halten, dass Meierling irgendwas unternimmt, was noch mehr Staub aufwirbelt. Zumal gute Anwälte verdammt teuer sind und seine Chancen auf ein Millionenerbe in den letzten paar Tagen ziemlich krass gesunken sein dürften. Grob vereinfacht ausgedrückt: Dank dieses Artikels hier dürfte nicht nur sein Image, sondern auch sein Bankkonto vermutlich – um nicht zu sagen hoffentlich! – verdammt angekratzt sein. Also mach dir nicht zu viele Sorgen. Und was Kremer angeht – der kann diesen Möchtegern-Starautor doch genauso wenig leiden wie wir. Okay, kann sein, dass du einen Anschiss bekommst, falls die Sache auffliegt, aber mit weiteren Konsequenzen rechne ich nicht. Unter uns gesagt, denke ich eher, dass der Alte sogar sehr zufrieden sein wird, wenn er das hier liest. Es sollte mich also wundern, wenn er überhaupt den Versuch unternähme, herauszufinden, wer hier die undichte Stelle gewesen ist.“
Benno unterstrich das Gesagte mit einem Zwinkern und Kaufmann seufzte schwer.
„Oh, Mann. Ich hoffe wirklich, du hast recht.“
„Hey? Ich bin Bulle“, erwiderte Benno und lächelte seinem Kollegen aufmunternd zu. „Ich hab’ verdammt oft recht. Und weil das so ist, darfst du jetzt gehen und mir auch so einen Kaffee wie den da holen.“
Er deutete auf den Pappbecher auf Kaufmanns Schreibtisch. Sein Kollege lachte und stand auf.
„Hoffentlich kommt dein alter Partner bald wieder zurück und ich werde mit jemand anderem zusammengespannt, der nicht so ein Sklaventreiber ist wie du.“
„Pah! Das sagst du jetzt, aber du wirst dich noch nach mir zurücksehnen! Denk an meine Worte!“, gab Benno zurück und Kaufmann verließ, noch immer lachend, das Büro.
Nachdenklich starrte Benno ihm hinterher und ins Leere. Anfangs hatte er den Mann, „den Neuen“, nicht ausstehen können, doch jetzt empfand er es sogar als angenehm, mit Kaufmann zusammenzuarbeiten. Dabei kannten sie sich doch gerade mal … wie lange? Weniger als eine Woche? Ernsthaft?
Hm, vielleicht sollte er ihn mal zu sich nach Hause einladen? Oder zumindest nach Dienstschluss mit ihm einen trinken gehen. Ja, das war eine gute Idee.
So sehr Benno sich auch darauf freute, Gruber endlich wiederzusehen und erneut mit ihm ein Team zu bilden – Kaufmann hatte sich tatsächlich als eine Bereicherung der Truppe erwiesen, ganz wie Kremer es gehofft hatte. Dienstlich, aber auch menschlich.
Er lächelte in sich hinein. Manchmal war das Leben schon schräg. Aber gut, das hatte er ja schon vorher gewusst. Immerhin waren er und sein Freund das beste Beispiel dafür.
Bennos Handy klingelte und er warf einen Blick auf das Display. Immer noch lächelnd, meldete er sich.
„Hallo, Schatz“, sagte er. „Gerade habe ich an dich gedacht …“