2. Kerstin

P hu, bin ich geschafft. Und unendlich erleichtert, dass die Plackerei der letzten Wochen wenigstens ihren Zweck erfüllt hat. Die Gäste um uns herum wirken glücklich und wenn sie glücklich sind, bin ich es auch.

Wäre es nach mir gegangen, hätten wir nicht heiraten müssen und schon gar nicht an Weihnachten, aber Torben ließ sich nicht von seiner Idee abbringen.

Zärtlich streichle ich über meinen Bauch.

Er wollte, dass man am Tag unserer Hochzeit noch nicht sieht, dass der Storch unehelich zugeschlagen hat. Und dann gleich doppelt.

Erneut streichle ich zärtlich über meinen Bauch.

Torben ist der Meinung, dass heutzutage kein Kind mehr unehelich auf die Welt kommen muss. Ich finde es ja gut, dass er zu seiner Verantwortung steht, aber deswegen gleich heiraten? Ich weiß ja nicht.

Wir kennen uns auch noch gar nicht so lange. Genau genommen eher kurz.

Wir haben die Hochzeit mal eben nebenbei geplant und auf die Beine gestellt. Gott sei Dank kennt Torben jemanden, der jemanden kennt, der seine Eier immer hier auf dem Hof holt.

So hat es sich ergeben, dass wir in einer Scheune ungefähr zwanzig Kilometer außerhalb der Stadt feiern. Der kleine Ort, zu dem das ehemalige Gehöft gehört, ist etwas höher gelegen. Zum Glück. So ist das Wetter wenigstens nicht ganz so abartig beschissen wie in der Stadt.

Heute ist nicht so ganz mein Tag. Statt mich ganz entspannt vom Friseur aufhübschen zu lassen, hing ich fast den ganzen Vormittag mit dem Kopf voraus über der Kloschüssel und habe intensiv über all das nachgedacht, was ich gestern zu mir genommen habe. So musste ich mein Haar selbst irgendwie in Form bringen.

Mir ist immerzu schlecht. Außerdem kämpfe ich mit Kreislaufproblemen. Jeden Tag dreht sich mindestens einmal alles um mich herum.

Ich unterdrücke ein Gähnen. Bilde ich es mir nur ein, oder ist hier drin tatsächlich so schlechte Luft?

»Ich gehe mal kurz an die frische Luft.«, murmle ich in Torbens Richtung, warte seine Reaktion jedoch nicht ab.

Ich muss jetzt einfach mal raus. Sonst krieg ich eine Macke von so viel übertriebener Fröhlichkeit.

Wenigstens ist es schön hier. Der Betreiber dieser Location hat draußen im Hof an mehreren Stellen Feuerschalen verteilt, in denen das Feuer munter prasselt und angenehme Wärme aussendet. Gleichzeitig ist die Luft hier schön frisch.

Ich habe gelernt, dass es wichtig ist, sich auf seine Atmung zu konzentrieren. Also hole ich tief Luft und folge dem Weg, den sie nimmt. Unter meinem sich hebenden und senkenden Brustkorb schlagen drei Herzen. Meines und die Herzen der zwei kleinen Wunder, die in mir heranwachsen und seit dem Tag, an dem sie ihr Kommen angekündigt haben, nicht nur mein Leben gehörig auf den Kopf stellen.

Ich freue mich auf die Zwei. Sie werden mein Leben komplett machen. Sie werden mein Herz erwärmen.

Warum ich Torben geheiratet habe, obwohl ich eigentlich gar nicht heiraten wollte? Das ist eine gute Frage, auf die ich leider keine Antwort weiß. Es ist wohl einfach so.

Die Scheune, die für maximal hundert Leute ausgelegt ist, reicht gerade so aus für unsere Gäste. Torben hat über siebzig Leute eingeladen und ich … egal.

Es ist schön, zu sehen, wie sehr er sich freut und wie sehr er es genießt, im Mittelpunkt zu stehen.

Eigentlich hatte auch er nicht vorgesehen, irgendwann vor dem Standesbeamten zu landen, um sich trauen zu lassen. Aber wie sagt man so schön? Unverhofft kommt oft.

Oder so.

Ich stelle mich ans Feuer und halte meine Hände über die Flammen. Es schneit und regnet nicht. Dafür pfeift hier draußen ein kalter Wind, rüttelt an den Wänden der Scheunen und bläst das Haar in alle Richtungen.

Hier draußen ist so gut wie nichts los. Außer mir haben nur ein paar ganz Hartgesottene den Mut gefunden, die Wärme in der Scheune für einen Augenblick hinter sich zu lassen. Ich schaue mich um. Nicht ein Gesicht ist mir wirklich bekannt. Ich kann nicht mal sagen, ob die paar Leute zu Gast auf Torbens und meiner Hochzeit sind. Peinlich, ich weiß, aber ich habe eben ein grottenschlechtes Gesichtsgedächtnis. Schon seit meiner Kindheit kann ich mir zwar hervorragend Namen merken, bekomme sie mit den Gesichtern jedoch nicht zusammen. Nun ja. Einen Vorteil hat die Sache. Man lernt ständig neue Leute kennen.

Ich schaue mich um. Außer der Scheune, in der wir feiern, ist noch eine weitere Scheune beleuchtet. Fröhliche Musik weht zu mir herüber. Automatisch fängt mein Fuß an zu wippen. Ich ziehe den Mantel etwas enger um mich, um die kostbare Fracht in meinem Bauch vor der Kälte zu schützen.

Das Tor der Scheune wird aufgemacht. Erst sehe ich nur das Licht der gedimmten Deckenleuchter, dann sehe ich sie. Die andere Braut, die heute hier ihre Hochzeit feiert.

Sie schaut sich um und geht los. Zielstrebig kommt sie auf mich zu. Ich starre die Braut an.

Sie trägt ein wunderschönes Kleid, das ein bisschen royalen Flair in die dörfliche Einöde zaubert. Bezaubernd sieht die Frau aus. Wahrscheinlich hing sie aber auch nicht wie ich heute den halben Vormittag über der Kloschüssel.

»Hey.«, sagt sie freundlich und reicht mir ein Glas.

»Hey.«, gebe ich zurück und bemühe mich um ein ehrliches Lächeln.

Der Mann, dem diese Frau heute ihr Ja-Wort gegeben hat, ist zu beneiden. Seine Frau ist bildhübsch. Schlank, tolles Haar, leuchtende Augen und ein Strahlen, das alles um sie herum in den Schatten stellt.

»Ich bin Birgit, aber alle Welt nennt mich Biggi.«, sagt sie mit zauberhaften Lächeln.

»Ich bin Kerstin, aber eigentlich nennt man mich Mutze.«, gebe ich zurück.

Birgit schaut mich an. Sie wirkt verwirrt.

»Mutze, weil ich so gut wie immer bunte Mützen trage.«

»Na, das ist mal ein spezieller Spitzname. Aber sehr süß.«

Birgit strahlt mich an und ich verdränge für einen Augenblick, dass ich zwei heranwachsende Leben unter der Brust trage.

Birgit und ich halten Blickkontakt. Die Gläser klirren.

»Was machst du hier draußen?«, frage ich.

Birgit zieht eine Schachtel aus der Handtasche. Sie zündet sich eine Zigarette an und seufzt zufrieden auf.

»Ich musste kurz Luft holen.«, erklärt sie.

»Und du?«

»Ich brauchte auch frische Luft.«

In Gedanken versunken streichle ich meinen Bauch. Mein Lächeln mischt sich mit Birgits und das erste Mal an diesem Tag fühle ich mich richtig gut.

»Bist du auch total im Arsch?«, frage ich und sie nickt.

»Du hast keine Ahnung, wie fertig ich bin.«, gibt sie zu und vermittelt mir das Gefühl, der einzige Mensch zu sein, der mich versteht. Es tut gut, wenigstens eine Verbündete zu haben. Einen Menschen, der ähnlich fühlt wie man selbst.

Wir müssen nicht darüber sprechen. Wir wissen auch so, was in der anderen vorgeht.

Birgit nippt an ihrem Glas.

»Und ständig dieses Dauergrinsen, damit auch wirklich der Letzte sieht, wie glücklich man ist.«

Oh ja. Ich weiß so genau, was sie meint.

Die mir völlig fremde Frau massiert sich die Wangen. Sie reißt den Mund auf und gähnt herzhaft. Dann ist das Lächeln um ihre Mundwinkel verschwunden. Ihre Augen blitzen jedoch immer noch vergnügt.

»So ein Gerenne. Hierhin und dorthin und überall mussten wir ein Gläschen trinken. Gott sei Dank sind wir heute durch. Würde es noch länger dauern, müsste ich mich danach wohl bei den Anonymen anmelden.«

Mein Gegenüber grinst und nippt wieder mal an ihrem Glas.

»Trinkst du das gar nicht?«, fragt sie und deutet auf das Glas, das sie mir vorhin gegeben hat.

»Keinen Durst.«, erkläre ich und reiche das Glas wieder an sie weiter.

»Ich halte das nur aus, wenn ich gelegentlich ein Gläschen trinke.«, gesteht sie offen.

»Dieser Wahnsinn ist anders nicht zu ertragen.«

Ich fühle so sehr mit ihr. Obwohl sie mir komplett fremd ist, kommt sie mir unbewusst immer näher. Nicht körperlich, sondern auf einer anderen Ebene. Jedes ihrer Worte ist wie Balsam für meine Seele. Weil sie ähnlich fühlt wie ich.

»Kannst du mir mal sagen, warum wir ausgerechnet Weihnachten heiraten mussten?«, fragt sie nach einer Weile, in der wir miteinander schweigend in die Flammen geschaut haben.

Sie legt die Stirn in Falten.

»Weil alle behaupten, dass an Weihnachten heiraten so schön und so romantisch ist.«, gibt sie sich selbst die Antwort.

»Und weil Marcel unbedingt heiraten wollte, bevor wir über Kinder nachdenken.«

»Zu spät.«, murmle ich nachdenklich und schaue an mir herunter.

Eine ganz leichte Wölbung zeichnet sich schon ab, aber nur, wenn man ganz aufmerksam hinschaut. Birgit schaut genau hin.

»Oh. Wie schön. Wann ist es denn soweit?«

»Im Juni.«, sage ich leise, während ich immer wieder meinen Bauch streichle.

»Herzlichen Glückwunsch. Ich freue mich für dich.«

Birgits Lächeln ist so bezaubernd und wirkt so echt. Obwohl es ziemlich fies kalt ist, ist es schön, mit Birgit hier draußen zu stehen und zu reden. Birgit ist nett. Sehr sympathisch. Und so herrlich unaufgeregt. Sie macht einen authentischen Eindruck. Gleichzeitig sieht es so aus, als würde sie über allen Dingen stehen. Als könnte sie nichts beeindrucken. Doch ich weiß es besser. Sie ist genauso platt wie ich. Allerdings wird sie sicher, im Gegensatz zu mir, morgen oder wenigstens in den nächsten Tagen in die Flitterwochen entfliehen.

Sonne und Wärme satt und Leute, die den ganzen Tag darum bemüht sind, ihr jeden Wunsch von den Augen abzulesen und dann natürlich auch zu erfüllen.

»Fliegt ihr in die Flitterwochen?«, frage ich.

»Oh ja.«, stöhnt sie und nimmt noch einen Schluck aus dem Glas.

»Gott sei Dank. Ich brauche dringend Urlaub.«

Ginge mir ja auch so. Auch ich bräuchte dringend Urlaub, aber … egal. Ich freue mich für meine neue Verbündete.

»Und wo geht es hin?«, frage ich interessiert.

»Ach, nur für ein paar Tage nach Ägypten.«

Nur nach Ägypten? Ich würde mich schon freuen, wenn ich nur für ein paar Tage aus der Stadt kommen würde. Ganz egal, wohin, nur einfach raus. Aber … das können wir uns nicht leisten. Ägypten klingt für mich wie das Paradies auf Erden.

»Ägypten ist doch toll.«, murmle ich.

»Klar. Aber ich wäre gerne woanders hingeflogen.«

»Und warum macht ihr das dann nicht?«

Meine neue Verbündete zuckt mit den Schultern.

»Keine Ahnung. Hat sich so ergeben. Wir waren schon so oft in Ägypten. Nicht falsch verstehen. Das Land ist toll. Die Menschen sind auch klasse. Aber ich hätte einfach gerne mal was anderes gesehen. Marcel liebt Ägypten. Er liebt es zu schnorcheln. Außerdem mag er es, wenn am besten alles so ist, wie es schon immer war.«

Nun ja. Ich kann mir nicht vorstellen, wie das sein soll. Bei mir läuft immer alles irgendwie anders als geplant. Ich bin nicht in ein vierblättriges Kleeblatt eingewickelt auf die Welt gekommen. In meinem Leben läuft ziemlich viel ziemlich schief. Außer dem Leben, das unter meiner Brust heranwächst. Wenigstens in diesem Punkt habe ich mal alles richtig gemacht, obwohl ich gestehen muss, dass ich kurzzeitig über einen Abbruch nachgedacht habe.

Torben und ich kennen uns erst seit ein paar Monaten und eigentlich hatte ich mich von ihm trennen wollen, als ich bemerkte, dass meine Tage ausbleiben. Verdammt. Tagelang habe ich nur geheult. Und dann habe ich meinen Mut zusammengenommen und das Gespräch mit Torben gesucht.

Er hat ganz anders reagiert als ich es mir vorgestellt habe. Statt auszurasten und mir Vorhaltungen zu machen, hat er sich gefreut wie ein kleines Kind. Seitdem lerne ich eine ganz andere Seite an ihm kennen. Er ist aufmerksam und gibt sich Mühe, was vorher nicht unbedingt der Fall war. Er bringt mir sogar immer mal wieder Blumen mit. Ich mag Blumen nicht besonders. Jedenfalls nicht in der Vase. Gefreut habe ich mich trotzdem immer wieder. Allein der Aufmerksamkeit wegen.

Ursprünglich verband Torben und mich nicht viel, doch jetzt sind wir durch die Kinder untrennbar miteinander verwoben. Komme, was da wolle.

Ich bin eigentlich kein Mensch für langfristige Beziehungen. Alles, was über drei Monate hinausgeht, ist bei mir schon gut. Meistens liegt es nur zum Teil an den Männern, obwohl ich auch leider bei meiner Männerwahl bisher öfter ins Klo gegriffen habe. Aber ich bin auch ziemlich unstet. Ich brauche Abwechslung und Veränderung und kann mich nur schwer an einen Mann binden. Woran das liegt … weiß ich nicht.

Dabei sehne ich mich schon eher nach etwas Dauerhaftem und heute … habe ich wohl den ersten Schritt in die richtige Richtung gemacht.

»Bist du mir böse, wenn ich wieder rein gehe?«, fragt Birgit unvermittelt.

»Ich friere mir gleich den Hintern ab.«

»Neee. Klar. Kein Problem. Wir sehen uns später sicher noch.«, sage ich und ringe mir ein Lächeln ab.

Ein bisschen traurig bin ich schon. Ich wäre gerne noch länger mit Birgit hier draußen am Feuer geblieben und hätte ihr zugehört.

»Spätestens in einer Stunde muss ich sowieso aufs Klo.«, murmelt sie und zwinkert mir zu.

»Bis später also.«

Ich schaue ihr so lange hinterher, bis sie in ihrer Scheune verschwindet. Dann mache ich mich selbst auf den Weg und nehme mir ganz fest vor, in einer Stunde vor der Hütte, in der die Toiletten untergebracht sind, auf sie zu warten.

P ünktlich eine Stunde später stapfe ich durch den Schneeregen. Torben wollte mich unbedingt begleiten, doch ich habe ihn davon überzeugen können, es schon alleine hinzubekommen.

Ich finde Birgit vor einer offenen Klotür stehend vor. Mit in die Seiten gestemmten Händen begutachtet sie den engen Raum.

»Wie soll ich das denn bitte hinbekommen?«, brummelt sie und ich weiß sofort, worauf sie anspielt.

»Vielleicht kann ich dir helfen?«, schlage ich vor.

»Oh, hey.«

Birgit fährt herum.

»Es ist ein Segen, dass du hier bist. Ich habe nicht erwartet, hier jemanden zu treffen.«

Ja. Neee. Ist klar. Deswegen hat sie mir ja vorhin gesagt, dass sie spätestens eine Stunde später auf die Toilette geht. Meine Mundwinkel zucken. Ich grinse.

»Also, sag an. Was kann ich tun?«

Birgit schaut erst zu mir und dann zum engen Toilettenraum. Sie legt die Stirn in Falten.

»Ich fürchte, du wirst mein Kleid halten müssen.«

»Kein Problem. Wir wollen schließlich nicht, dass der Stoff aus Versehen im Wasser hängt.«