4. Kerstin

W hat the fuck, ist das eine langweilige Veranstaltung. Jeder hockt einfach nur herum, oder ist in irgendeiner Weise in Gespräche vertieft. In einem Seniorenheim geht es temperamentvoller zu. Sogar ein Friedhof ist lebendiger. Unfassbar.

Es gibt keine Spiele, oder sonst etwas, was etwas mehr Action in die Veranstaltung bringen würde.

Wegen der zwei kleinen Wesen in meinem Bauch darf ich mir nicht mal mit Alkohol den Tag schön saufen. So ein Mist. Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich meine Teilnahme an diesem Event ganz sicher abgesagt.

Ich kichere unterdrückt vor mich hin. Wie praktisch, dass wenigstens die Gedanken frei sind.

Tanzen … ist auch nicht erwünscht.

Als wir gestern Abend hier waren, um die letzten Vorbereitungen zu treffen, ist es beinahe zum Eklat gekommen. Torbens bester Kumpel hat immer wieder davon angefangen, dass doch wenigstens ein Hochzeitstanz drin sein muss. Torben hat es ihm erst im ruhigen Ton erklärt, dass er auf keinen Fall tanzen wird, doch Frank, oder Peter, oder wie er heißt, ich habe leider den Namen vergessen, hat nicht locker gelassen. Obwohl Torben erkennbar unruhiger geworden ist, hat er einfach weiter gemacht. Bis Torben um ein Haar die Hochzeit hätte platzen lassen. Erst als er damit gedroht hat, hat sein bester Kumpel kapiert, dass es ihm ernst ist.

Mich macht die Tatsache, dass nicht getanzt wird, traurig. Ich tanze für mein Leben gern. Aber … kein Hochzeitstanz, kein allgemeiner Tanz. Schade eigentlich. So bleibt mir nicht viel, als auf meinem Platz zu sitzen und zu lächeln.

Und an Birgit zu denken.

Was sie wohl macht?

Ob sie wenigstens Spaß hat?

Meine Fresse, hat die mich vorhin überrumpelt. Mich einfach so zu küssen. Auch, wenn mir bewusst ist, dass der Kuss aus einer Laune heraus entstanden ist, hat er mich doch ziemlich berührt. Augenblicklich hat mein Bauch angefangen zu kribbeln. Und dann … hat es ein Stückchen tiefer noch mehr gekribbelt. Es war ein schönes Gefühl, Birgit zu küssen und von ihr geküsst zu werden.

Nein. Ich stehe nicht auf Frauen. Auch, wenn ich offen gestehen muss, dass der Kuss … schon etwas sehr Besonderes war.

Birgit küsst wirklich gut. So bin ich noch nie geküsst worden. So voller Gefühl mit einem Spritzer Erotik. Oh ja. Es war großartig. Schade, dass man Momente nicht einfrieren kann. Oder festhalten. Aber ich kann ihn in meinem Herzen halten und dafür sorgen, dass er nie wieder verloren geht.

Ob es wohl jemandem auffällt, wenn ich mich mal wieder davonstehle? Ich brauche einen Augenblick Ruhe und Zeit nur für mich.

Sonst drehe ich durch und fange an, in einer Ecke ganz für mich allein zu tanzen. Ich muss mich bewegen. Irgendetwas tun. Egal was. Diese Veranstaltung ist so langweilig. Das hält doch keiner aus.

Ich erhebe mich und bewege mich zielstrebig auf den Ausgang zu. Torben sitzt bei seinen Freunden am Tisch und lacht mit ihnen. Sein Kumpel schaut in meine Richtung. Unsere Blicke begegnen sich. Er tippt Torben an und deutet eine Bewegung mit dem Kopf an. Torben dreht sich um. Er steht auf und kommt auf mich zu.

»Alles klar?«, fragt er.

»Geht es dir gut?«

»Na klar.«, flunkere ich.

»Ich muss nur mal an die frische Luft. Hier drin steht der Mief.«

»Möchtest du, dass ich dich begleite?«

Er legt seinen Arm um mich. Obwohl er mir so nahe ist, fühlt es sich an, als wäre er meilenweit weg.

Verdammt. Warum habe ich das getan? Warum habe ich nur ja gesagt? Es hätte doch bestimmt andere Mittel und Wege gegeben. Aber so weit bin ich gar nicht erst gekommen.

Seit die Zwillinge ihre Ankunft angekündigt haben, hechle ich nur noch mir selbst hinterher. So richtig zum Nachdenken bin ich noch nicht gekommen. Außer jetzt.

Habe ich einen Fehler gemacht?

»Ich liebe dich.«, sagt Torben mit seiner tiefen Stimme und legt seine Lippen auf meine.

Sein Kuss kratzt. Seine Lippen sind fest.

Sein Kuss ist nicht annähernd so sinnlich und weich wie der von Birgit.

Aber … Torben ist halt auch ein Mann.

Nicht ein Mann. Mein Mann.

Hmh …

Im Moment weiß ich nicht so genau, was ich davon halten soll. Ich liebe tanzen, auch wenn ich es nicht besonders gut kann. Dass es keinen Hochzeitstanz gibt … ach Menno. Ich hätte so gerne mit Torben getanzt. Oder überhaupt mit irgendjemandem.

»Verrätst du mir, warum du nicht tanzen willst?«, frage ich.

»Fang du nicht auch noch damit an. Bitte nicht.«, stöhnt Torben und klingt sogar ein bisschen verzweifelt.

»Ich habe einfach zwei linke Füße. Reicht dir das als Erklärung?«

Eigentlich nicht, aber da ich keine Lust auf eine Diskussion habe, nicke ich.

Als Kind und Jugendliche und auch noch als junge Frau habe ich mir das alles so ganz anders vorgestellt. Ich habe von einem romantischen Antrag geträumt. Irgendwo an einem Strand. Die Strahlen der Sonne im Gesicht.

Nur der Mann meiner Träume und ich. In meinen Träumen hat er einen Kniefall vor mir gemacht. Er sah sexy aus und hinreisend und hat mich voller Liebe angestrahlt.

Torbens Antrag fiel minimal anders aus.

»Ist ja klar, dass wir heiraten.«, hat er gesagt, als er von den zwei kleinen Wesen in meinem Bauch erfahren hat.

Das war sein Antrag. Damit war das Thema durch. Für ihn. Und für mich wohl irgendwie auch.

Dass unsere Party so langweilig ist, war wohl auch nicht anders zu erwarten. Torben ist ja auch langweilig. Seine Familie ist noch schlimmer und an Langweile unübertroffen. Seine Freunde sind auch nicht besser. Lauter versnobte möchte gern Reiche, von denen niemand etwas Besonderes ist.

Sie sind weder reich, noch schön, noch bemerkenswert. Lauter Gesichter, die man schon im nächsten Moment wieder vergessen hat, was aber auch nicht schlimm ist. Solche Gesichter und die dazugehörigen Leute kann man schnell wieder vergessen. Sie sind so null acht fünfzehn.

Einfach nur langweilig.

»Möchtest du, dass ich dich begleite?«, fragt Torben erneut.

»Brauchst du nicht. Kümmere dich um deine Freunde.«

»Aber … du bist der wichtigste Mensch für mich. Ich möchte mich um dich kümmern.«

Ich bin nicht der wichtigste Mensch für Torben. Genauso wenig, wie er der wichtigste Mensch für mich ist.

Torben hat nur zufällig den Treffer gelandet und mich geschwängert. Scheiß Dünnpfiff. Hat die Wirkung der Pille ausgehebelt. Und ich habe es verpeilt. Sonst hätte ich … Egal. Vorbei ist vorbei. Die Kurzen sind nun mal auf dem Weg. Und ich werde ihnen einen tollen Empfang bereiten.

Da wir auf die Schnelle keine geeignete Wohnung gefunden haben, leben wir in der ersten Zeit wohl oder übel in der kleinen Dachwohnung, die Torben im Haus seiner Eltern bewohnt. Ja, genau, im Haus seiner Eltern.

Diese Tatsache war niemals Teil meiner Träume. Ganz sicher nicht.

Ich bin zwar nicht unbedingt ein Glückskeks. Mir gelingt so gut wie nie etwas, aber wenigstens hatte ich immer eine eigene Wohnung, die ich selbst finanziert habe. Wie die meisten anderen Menschen auch.

Ich bin nicht reich und habe noch nicht viel von der Welt gesehen, aber … immerhin war ich nie von jemandem abhängig. Ich habe immer selbst für meinen Lebensunterhalt gesorgt.

Und so soll es auch bleiben.

Ich werde ein paar Monate Elternzeit machen. Im Anschluss daran werden die Kinder in die Krippe gehen und ich werde wieder meine Arbeit aufnehmen. So ist der Plan. Und so werde ich es auch machen. Egal, ob es Torben passt oder nicht. Torben ist mein Mann. Er ist nicht mein Herr und Gebieter.

Außerdem brauchen wir das Geld.

Selbst, wenn er diesen Umstand nicht so richtig wahrhaben will.

Er ist zufrieden mit dem, was er hat. Seine kleine Jungesellenbude, in der wir wohl bald zu viert hausen werden. Ein Stockwerk tiefer seine Eltern. Sein Vater, der sich um den Garten kümmert und seine Mutter, die ihrem Sohn jeden Tag frisch gekochtes Essen hoch bringt.

Ich bin gespannt, ob ich es hinbekomme, mit dem, was die Zukunft für mich auf Lager hat, klarzukommen. Ein bisschen graust mir schon.

»Komm, ich begleite dich.«, murmelt Torben, holt meinen Mantel von der Garderobe und legt ihn mir um die Schultern.

Er streichelt meine Wange.

»Ich liebe dich.«, haucht er.

Dann bückt er sich und geht ganz nahe an meinen Bauch. Seine Lippen sind nicht mal einen Zentimeter von meinem Bauch entfernt.

»Wenn ihr wüsstet, was für eine wunderschöne Mutter ihr habt.«

Er klingt so ergriffen, dass ich tatsächlich ein Gefühl davon gewinne, wie glücklich er ist. Ich streichle sanft über sein dunkles Haar. Als er den Kopf hebt und mir in die Augen schaut, strahlt er.

Er ist so zufrieden mit seiner eigenen kleinen Welt. Vielleicht bin doch ich das Problem. Torben ist ein großartiger Mann. Langweilig, ja. Aber auch irgendwie großartig. Ich kann mir keinen besseren Vater für meine Kinder vorstellen. Er wird alles dafür tun, dass es den Kindern gut geht. Hoffentlich tut er auch alles dafür, dass es mir gut geht. Dass es uns allen gut geht.

Doch, ich liebe meinen Mann.

»Schau doch nur, Schatz, es schneit. Ist das nicht romantisch?«

Ich schaue nach oben. Dann geradeaus. In der letzten Stunde hat es tatsächlich wieder ein bisschen angefangen zu schneien. Zumindest sind die Regentropfen zum Teil weiß eingefärbt. Trotzdem platschen sie auf den Boden, was alles andere als romantisch ist. Es ist nur nass. Nicht nass genug, dass ich mich vertreiben lasse.

An meinen Mann gelehnt schaue ich ins Feuer, das trotz Schneeregen und Matsch auf den Wegen weiterhin munter vor sich hin prasselt und den Rauchern und Frischluftfanatikern Wärme bietet.

Ich liebe es, wenn es nach Lagerfeuer riecht.

Trotz mistigen Wetters ist es hier draußen ziemlich gemütlich. Außerdem weht die Musik aus den Scheunen herüber. Ich wiege mich leicht im Takt hin und her.

Eine Weile hält Torben es draußen aus. Er versucht alles, das Zittern und Bibbern vor mir zu verbergen. Besonders erfolgreich ist er allerdings nicht. Seine Zähne klappen aufeinander.

»Geh ruhig rein. Ich bleibe noch ein bisschen hier draußen.«

»Bist du dir sicher?«, fragt er und schmiegt sich enger an mich.

»Ja. Ich genieße die frische Luft.«, erkläre ich.

Außerdem ist es spannender, den Holzscheiten beim Abfackeln zuzuschauen als drin zu sitzen und mitzuzählen, wie oft einzelne Gäste gähnen oder pinkeln gehen.

»Okay. Aber bleib nicht so lange. Ich vermisse dich nämlich schon jetzt.«

Er küsst mich zärtlich. Dann geht er. Und ich bin allein.

Ich atme mehrmals tief durch und genieße es, einfach für mich zu sein. Was für ein Tag. Was für ein Abend.

Die Musik weht immer noch aus den Scheunen zu mir herüber. In unserer Scheune wird schnellere Musik gespielt. Aus Birgits Scheune ist langsame Musik zu hören. In der Mitte treffen die verschiedenen Musikrichtungen aufeinander und vermischen sich. Ich lausche angestrengt und frage mich, ob wenigstens in Birgits Scheune getanzt wird.