W arum hat mich nur niemand gewarnt? Warum hat mir niemand gesagt, dass es so verdammt anstrengend werden würde?
Mittlerweile sind die Zwillinge etwas älter als ein Jahr. Zwei Wochen bleiben mir, um die Zwei in der Krippe einzugewöhnen. Bis dahin müssen wir es hinbekommen. Ich. Und die zwei kleinen Wesen.
Wir stehen zum sechsten Mal vor der Tür der privaten Kinderkrippe. Ein ganz normales Wohnhaus, das zur Einrichtung umgebaut wurde. Torben und ich haben uns mehrere Einrichtungen angeschaut, aber das Konzept hier hat uns am meisten überzeugt.
Die Kinder tun sich noch ein bisschen schwer, sich von mir zu lösen. Mir fällt es auch ein bisschen schwer, mich von ihnen zu lösen. Hennes und Ida sind doch meine Kleinen. Ich bin überhaupt noch nicht bereit, sie aus meiner Obhut zu entlassen. Alles in mir sträubt sich dagegen. Natürlich vertraue ich den Erzieherinnen. Trotzdem …
Aber was habe ich denn für eine andere Wahl? Ich muss arbeiten und Geld verdienen. Obwohl wir immer noch in der Wohnung über Torbens Eltern leben, reicht das, was Torben verdient, nicht aus. Ständig sind wir knapp bei Kasse.
Ich hoffe so sehr, dass ich den Spagat zwischen Mutter sein und berufstätig sein hinbekomme.
Klar hat Torbens Mutter ihre Hilfe angeboten und uns vorgeschlagen, die Kinder zu betreuen, solange ich in der Arbeit bin, aber Hennes und Ida sind keine einfachen Kinder. Sie haben ihren eigenen Kopf. Was dem einen nicht einfällt, hat ganz sicher die andere auf Lager oder umgekehrt. Es vergeht kein Tag, an dem sie sich nichts einfallen lassen. Obwohl ich das Gefühl habe, dass mein Kopf nur noch aus grauen Haaren besteht, würde ich sie auf keinen Fall hergeben wollen. Die Zwei bereichern mein Leben.
Ich bin nie allein.
Das erste Mal in meinem Leben ist immer jemand um mich herum. Jemand, der auf mich und meine Aufmerksamkeit angewiesen ist.
Hennes hängt an meinem rechten Arm, Ida an meinem linken. Auf meinem Rücken sitzt ein Rucksack, der, seit der Geburt der Zwillinge, mein ständiger Begleiter ist.
Ich atme mehrmals tief durch und nehme beide Kinder in den Arm.
Mit »Wir bekommen das schon hin.« versuche ich nicht nur ihnen Mut zu machen.
Hennes und Ida sind zwei muntere und temperamentvolle kleine Menschen, die begeistert auf andere Kinder zugehen. Sie lieben es, mit anderen zu spielen und zu lachen. Trotzdem ist ihnen die Krippe noch nicht ganz geheuer. Es ist alles so fremd hier. So neu und so undurchsichtig.
Ich bin grundsätzlich immer für alles Neue offen, aber auch mir fällt es schwer. Wahrscheinlich auch, weil die Zeit, die nur mir und den Kindern gehört, bald nur noch sehr reduziert sein wird. Ab sofort werden Hennes und Ida einen großen Teil ihres Tages in der Krippe verbringen. In der Obhut fremder Leute.
Ich seufze auf. Hennes packt meine Hand noch fester. Er zieht. Richtung Spielplatz. Weg von diesem Haus. Über Idas Wangen kullern Tränen. Sie schüttelt ihr kleines süßes Köpfchen.
Es ist nicht schwer zu erkennen, dass sie nicht hier sein möchte. Oh man. Ich will das doch auch nicht. Aber es geht nicht anders. Nur, wie soll ich das meinen Kindern erklären?
Ich straffe die Schultern und schiebe meine Kinder vor mir her ins Haus. Eine andere Mutter sitzt auf der Holzbank im Flur und liest etwas auf dem Handy. Sie hebt kurz den Kopf und nickt mir zu. Ihr Kind hat die Eingewöhnungszeit so gut wie geschafft. Sie sitzt nur noch ein paar Minuten um sicher zu gehen, dass es doch nicht noch zu weinen anfängt.
»Hallo.«, sage ich freundlich und helfe beiden Kindern auf die Bank.
Erst ziehe ich ihnen die Schuhe aus, dann die Jacke. Entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit laufen die Kinder einfach los und sind kurz darauf hinter der offenen Tür des Gruppenraums verschwunden. Aus dem Inneren des Raums weht fröhliches Gelächter heraus.
»Hallo.«, sagt eine Stimme, die ich irgendwann schon mal irgendwo gehört habe.
Allerdings nicht hier in diesem Haus.
Wer ist das?
»Oh, hey.«
Die Frau lächelt mich an. Sie trägt eine kunterbunte Schürze.
»Sie sind doch … Kerstin, oder?«
»Äh, die bin ich. Ja.«
»Ich bin Steffi.«
Steffi. Steffi? Wer war doch gleich wieder Steffi? Nachdenklich lege ich die Stirn in Falten.
»Wir kennen uns von der Hochzeit.«
Allmählich dämmert es mir wieder. Die Hochzeit. Meine Hochzeit. Und die von Birgit. Steffi ist die beste Freundin von Birgit.
»Oh, hast du auch ein Kind hier?«, frage ich obwohl ich eigentlich wissen müsste, dass das gar nicht sein kann.
»Nein. Nein. Ich bin Erzieherin hier.«
Oh, mein Gott. Ist mir das peinlich. Ich habe die Erzieherin meiner Kinder geduzt.
»Kein Problem. Wirklich nicht. Wir sind hier eigentlich alle ganz locker. Möchtest du noch mit rein kommen?«
Ich bin mir nicht sicher, was richtig ist. Einfach so verschwinden, halte ich für nicht so gut. Wenn die Kinder merken, dass ich weg bin, erschrecken sie vielleicht so sehr, dass ich sie überhaupt nicht mehr überreden kann, in die Krippe zu gehen.
Allerdings sind sie jetzt schon mitten im Gewühl. Mache ich es ihnen womöglich noch schwerer, wenn ich noch mal auftauche? Ich weiß es nicht. Ich weiß überhaupt nichts. Aber vor allem weiß ich nicht, was ich tun soll. Ist es nicht eigentlich der Job der Erzieherin mir zu sagen, was richtig oder falsch ist?
Hilflos suche ich den Blick der Erzieherin meiner Kinder.
»Komm doch mit rein. Dann können wir uns unterhalten.«
Der anderen Mutter erklärt sie, dass sie keine Probleme erwartet und sie gehen könne. Die Mutter lächelt dankbar und ist schneller zur Tür raus als ich meinen Namen sagen könnte. Ich folge Steffi in den Gruppenraum und quetsche meinen dicken Hintern auf einen viel zu kleinen Stuhl und die Beine unter einen viel zu kleinen Tisch. Wie schaffen die Erzieherinnen und Erzieher das bloß, jeden Tag mehrere Stunden so zu sitzen? Mir tut das Kreuz schon nach wenigen Minuten weh. Meine Bewunderung wächst. Und dann auch noch das Geschrei der Kinder. Unglaublich. Schrecklich.
Nein danke, dieser Job wäre nichts für mich.
»Du trinkst doch Kaffee, oder?«, fragt Steffi und setzt sich zu mir.
»Sehr gerne, danke.«
Ich nehme den Becher in die Hand und trinke einen kleinen Schluck. Hennes und Ida sind in einer Ecke verschwunden, in der sie mit anderen Kindern spielen. An mich scheinen sie sich gar nicht mehr zu erinnern. Ich werte das als gutes Zeichen.
»Wie geht es dir?«, fragt Steffi.
»Ich bin ein bisschen aufgeregt.«, gebe ich ehrlich zu.
»Es fällt mir noch schwer, Hennes und Ida ziehen zu lassen. Sie sind doch noch so klein.«
»Mach dir keine Sorgen.«, sagt Steffi und legt ihre Hand auf meine.
»Am Anfang ist es für die meisten Mütter schwer, ihre Kinder loszulassen.«
»Wird das besser?«
Steffi schüttelt den Kopf.
»Wohl eher nicht.«
Na, das klingt ja aufbauend. Steffi kneift zwar ein Auge zu und grinst, trotzdem glaube ich, dass ihre Worte einen gewissen Wahrheitsgehalt beinhalten. Meine eigene Mutter erzählt mir immer mal wieder, dass es egal ist, wie alt die Kinder sind. Sorgen macht man sich immer um sie.
Sie ist überzeugt, dass mir kein Mensch näher kommen wird als meine Kinder. Egal wie sehr ich meinen Partner auch liebe, wird diese Liebe niemals an das heranreichen, was ich für meine Kinder empfinde.
Meine Mutter macht sich heute noch Sorgen um mich, dabei bin ich mittlerweile fast Mitte dreißig. Sie erzählt mir immer wieder, dass sie sich einen anderen Partner für mich gewünscht hätte. Einen, der finanziell frei ist und locker für mich und unsere Kinder sorgen kann. Dass sie meinen Mann trotzdem so nimmt, wie er ist, bedeutet mir sehr viel.
»Aber was kann ich machen, damit es leichter wird?«, frage ich nach.
Steffi legt die Stirn in Falten.
»Du wirst nicht viel machen können. Wichtig ist, dass du uns vertraust und dass du dir sicher bist, dass deine Kinder bei uns in guten Händen sind.«
»Aber das tue ich doch.«
Nicht hundert prozentig. Aber immerhin teilweise. Das ist doch schon mal ein guter Ansatz, oder? Ich vertraue generell nicht so leicht. Ein Rest Skepsis und Unsicherheit bleibt immer. Das hat aber nichts mit meinem Gegenüber zu tun, sondern ausschließlich mit mir.
Mein Vater hat früher immer gesagt, dass ich zu naiv und leichtgläubig wäre und mein Herz an Menschen verschenken würde, die mich nur ausnutzen. Das hat mich wachsam werden lassen. Ich öffne mich nicht mehr so leicht wie früher und schaue mir mein Gegenüber sehr genau an. Nur, wenn es für mich wirklich passt, lasse ich mich auf eine Freundschaft ein.
Torben bildet eine Ausnahme. Die einzige Ausnahme. Allerdings nur aus den zwei Gründen, die fröhlich lachend in einer Ecke mit den anderen Kindern spielen.
Unsere kleine Familie ist darauf angewiesen, dass Torben und ich zusammen funktionieren. Deshalb tun wir das, obwohl wir definitiv nicht das sind, was man als Liebespaar bezeichnet. Aber wir haben uns arrangiert so dass es verhältnismäßig gut läuft zwischen uns.
Außer Torben und meiner Familie gibt es nicht viele Menschen, die eine wichtige Rolle in meinem Leben einnehmen. Mein Vater hat offensichtlich sein Ziel erreicht. Ich bin nicht mehr naiv oder leichtgläubig. Ich bin eher vorsichtig geworden. Manchmal wohl auch zu vorsichtig. Ich halte mir Menschen vom Leib und flüchte, wenn ich Gefahr laufe, mich angreifbar zu machen. Angreifbar bin ich immer dann, wenn ich zulasse, dass sich mein Herz für jemanden öffnet.
Ich würde den Menschen um mich herum gerne mehr Vertrauen schenken, doch das ist gar nicht so einfach, wenn man so viele Jahre hart daran gearbeitet hat, nur sich selbst zu vertrauen.
Ich weiß, dass ich etwas an meiner Denkweise ändern muss, wenn ich erfolgreicher und zufriedener durchs Leben kommen will als es bis jetzt der Fall ist. Mir ist nur nicht ganz klar, wie das gehen soll. Vielleicht sollte ich genau hier und genau jetzt damit anfangen.
Für Hennes und Ida, aber auch für mich selbst.
»Ich werde mir Mühe geben.«, verspreche ich der Erzieherin.
Steffi lächelt mich an und gibt mir Tipps, wie den Kindern und mir morgens die Trennung leichter fällt. Ab morgen werde ich jedem von den Beiden etwas geben, was nach mir riecht. Angeblich würde das helfen. Ich weiß nicht recht, aber … versuchen können wir es ja mal.
»Wenn es dir hilft, rufe ich dich während der ersten Tage, in denen die Zwillinge länger hier sind, ab und zu an. Dann weißt du, dass es ihnen gut geht.«
»Das würdest du machen?«, frage ich verblüfft.
»Logisch. Ihr sollt euch hier schließlich alle wohl fühlen.«
»Danke. Ich danke dir so sehr.«, sage ich in einer Stimmlage, die Steffi vermitteln soll, wie dankbar ich wirklich bin.
Ich bin für jeden noch so kleinen Tipp dankbar, der uns dabei hilft, das Zusammenleben für uns einfacher zu gestalten. Ich umfasse ihre Hand mit meiner. Eine Geste, die für eine erfahrene Erzieherin wie Steffi vermutlich viel zu viel über mich aussagt.
»Aber was ist, wenn die Kinder mich nicht mehr so lieb haben.«, frage ich ängstlich.
»Wieso sollte das so sein?«
Ich weiß es nicht. Es ist nicht mehr als ein dumpfes Grummeln in meinem Bauch. Wo dieses Grummeln herkommt, weiß ich auch nicht. Besser gesagt will ich es nicht wissen.
Die Kinder sind das Wichtigste in meinem Leben. Ich würde zerbrechen, wenn sie nicht mehr hier wären oder mich nicht mehr lieben würden. Mein Herz hängt an ihnen.
Ich weiß, dass das nicht ganz richtig ist, aber...
Hennes, Ida und ich sind während der letzten Monate zu einer Einheit zusammen gewachsen. Zwangsläufig, da Torben gefühlt rund um die Uhr arbeitet. Ich habe Angst vor der Veränderung. Das erste Mal in meinem Leben habe ich wirklich Angst.
»Wir nehmen dir deine Kinder nicht weg. Wir sorgen nur dafür, dass sie gut betreut sind und jeden Tag eine Kleinigkeit dazu lernen. Und du kannst deiner Arbeit nachgehen. Dafür sind wir da. Das ist unser Job. Natürlich treten neue Personen in Hennes und Idas Leben, aber deswegen bist du doch nicht weniger wert und nicht weniger wichtig.«
Steffi redet noch eine Weile mit mir. Danach fühle ich mich überraschenderweise wirklich ein Stück leichter. Innerlich einigermaßen beruhigt erhebe ich mich und gehe zu Hennes und Ida, die mittlerweile zum Maltisch gewechselt haben.
Sie sitzen am Tisch und versuchen mit ihren kleinen Händen die Stifte so zu halten, dass krakelige Linien auf dem Papier erscheinen.
Hennes Zungenspitze lugt zwischen den Lippen hervor. Er beißt darauf, was so zuckersüß aussieht, dass mir das Herz aufgeht.
»Tschüss, meine Süßen. Mama ist gleich wieder da.«
Einen Schmatzer rechts, einen zweiten Schmatzer links, dann bin ich abgemeldet und Hennes und Ida widmen sich wieder dem Papier und den Stiften.
Ich atme erleichtert auf und verlasse den Gruppenraum. Draußen schlage ich den Weg zur Erwachsenentoilette ein. Ich schließe die Tür hinter mir und lehne mich an die Wand. Mein Herz fühlt sich so unendlich schwer an. Ich bin eine Rabenmutter.
S eit Steffi vom Urlaub zurück ist, fällt Hennes und Ida, aber auch mir die morgendliche Trennung sehr viel leichter. Wir müssen zwar immer noch jeden Morgen ein paar Tränchen vergießen, doch es wird besser.
»Wie geht es dir heute?«, fragt Steffi mich an dem Morgen, an dem ich das erste Mal wieder an meinen Arbeitsplatz zurückkehre.
»Schon viel besser. Dank dir.«
Steffi strahlt mich an.
»Das freut mich sehr.«
Wir nicken uns zu, ich verabschiede mich von den Kindern, um zur Arbeit zu gehen. Das Handy habe ich vorhin schon auf laut gestellt.
An der Tür drehe ich mich noch einmal kurz um.
»Du, sag mal, was ich dich die ganze Zeit schon fragen wollte … «, fange ich an, halte mich dann aber zurück.
»Worum geht es?«
»Um Birgit. Wie geht es Birgit?«
Ich bin mir nicht ganz sicher, aber mich beschleicht das Gefühl, dass der Blick der Erzieherin sich verfinstert.
»Gut. Denke ich.«
Ich schaue sie fragend an, doch sie winkt ab. Ihre Reaktion ist überdeutlich. Sie wird mit mir gerne über meine Kinder und vielleicht auch über andere Themen, die die Kinder betreffen, sprechen. Alles, was mit Birgit zu tun hat, ist ihr zu privat. Okay. Kann ich auch verstehen, aber immerhin gibt es Birgit nun mal und ich wüsste wirklich gerne, wie es ihr geht und was sie macht. Ob sie und Marcel erfolgreich geübt haben und mittlerweile stolze Eltern geworden sind, interessiert mich zum Beispiel sehr.
Ich habe die Zeit mit Birgit wirklich genossen. Sehr sogar. Ich habe mir sogar vorgestellt, wie es wäre, wenn wir Freundinnen wären. Aber obwohl wir in einer Kleinstadt leben, bin ich Birgit nicht einmal über den Weg gelaufen. Deshalb habe ich versucht, nicht mehr an sie zu denken. Bis ich hier in der Einrichtung auf Steffi getroffen bin, ist mir das auch ganz gut gelungen. Aber seitdem … muss ich immer wieder an sie denken. Das ist auch der Grund, warum ich über meinen Schatten gesprungen bin und gefragt habe.
Schade, dass Kerstin nicht bereit ist, über sie zu sprechen. Kerstin wirkt verletzt. Ich würde sie gerne fragen, ob etwas vorgefallen ist, aber ich traue mich nicht.
»Biggi und ich haben keinen Kontakt mehr.«, sagt Kerstin plötzlich ganz leise.
»Wir sind seit dem Sandkastenalter beste Freundinnen.«
Oh je. Das tut mir leid. Steffi tut mir leid. Sie schaut so traurig und mitgenommen aus.
»Seit sie mit Marcel verheiratet ist, hat sich viel verändert. Biggi hat sich verändert.«
Kerstin zuckt mit den Schultern.
»Kann man nichts machen. Muss ich wohl so akzeptieren wie es ist.«
Ich würde so gerne etwas über die Hintergründe erfahren. Allerdings fehlt mir der Mut dazu. Deswegen verabschiede ich mich rasch.
Während ich mit dem Rad durch die Straßen unserer Stadt strample, muss ich an den Abend von Birgits und meiner Hochzeit denken.
Obwohl wir uns nicht kannten, haben wir viel miteinander geteilt. Für ein paar Stunden waren Birgit und ich mehr als nur zwei Bräute. Wir waren Verbündete. Wir waren zusammen auf der Toilette und haben sogar miteinander getanzt. Das, was Birgit mir von sich gezeigt hat, hat mir gefallen. Die Frau, Birgit, hat mich ehrlich beeindruckt. Sie hat eine Saite in mir zum Klingen gebracht. Es war alles andere als leicht, sie wieder aus meinem Leben zu streichen. Irgendwie hat sie es damals geschafft, einen Platz in meinem Herzen einzunehmen. Wie sie das hinbekommen hat, werde ich wohl nie erfahren.
Vor allem unser Kuss ist mir in lebhafter Erinnerung geblieben. Mein Bauch hat noch nie so gekribbelt wie in diesem Moment. Dieses Gefühl war unbeschreiblich. Unbeschreiblich schön.
Ich strample weiter. Die Kinderkrippe, in der wir die Kinder untergebracht haben, liegt auf der einen Seite der Stadt direkt am Waldrand. Um in die Arbeit zu kommen, muss ich durch die ganze Stadt kurven und mich mehrere Hügel hinauf quälen. Ich keuche wie ein altes Walross. Herrje. Wird Zeit, dass ich wieder in Form komme und die zusätzlichen Kilos, die ich mir während der Schwangerschaft angefressen habe, wieder los bekomme.
Ich möchte mir wieder gefallen. Im Moment gefällt mir das, was mir aus dem Spiegel entgegen starrt, so überhaupt nicht. Alt sehe ich aus. Und verbraucht. Das Leben und alles, was damit zusammenhängt, hat die eine oder andere Kerbe in mein Herz gemeißelt und in meinem Gesicht hinterlassen. Die Ringe unter meinen Augen sind dunkel. Ich sehe müde aus.
Hoffentlich hat sich in der Firma, in der ich arbeite, nicht allzu viel verändert.
Automatisch trete ich nicht mehr ganz so energiegeladen in die Pedalen. Ich habe einen Job, den ich eigentlich nicht mag. Dass dieser Job noch dazu nicht besonders viel Geld abwirft, macht die Sache nicht leichter. Trotzdem. Job ist Job. Ich bin ja auch selbst schuld. Hätte ich als Jugendliche auf meine Eltern gehört, sähe die Sache bestimmt sehr viel anders aus. Aber ich habe nicht gehört, sondern wie eigentlich immer meinen eigenen Kopf durchgesetzt. Nach der neunten Klasse habe ich die Schule verlassen. Da sich kein Ausbildungsplatz für mich finden wollte, habe ich einfach irgendeine Arbeitsstelle angenommen. Und dabei ist es geblieben.
Der Betrieb, in dem ich arbeite, ist in einem unübersichtlichen und großen Gebäudekomplex am Stadtrand untergebracht. Für den Job, den ich da mache, bekomme ich nur minimal mehr als den Mindestlohn, was zum Leben gerade so ausreicht. Große Sprünge werden wohl nie drin sein. Aber das ist okay. Ich bin auch mit wenig zufrieden. Solange es den Menschen, die ich liebe, gut geht, bin ich glücklich.
Ich schließe das Rad am dafür vorgesehenen Ständer fest und gehe auf den Empfangsbereich zu.
»Hallo!«, rufe ich den Damen am Empfang freundlich zu.
Wie früher auch winken sie mir zu.
»Du weißt ja noch, wo es langgeht, oder?«, fragt die eine.
»Klar. Bis später und schönen Tag.«
Die Damen am Empfang sind zu beneiden. Sie haben einen gemütlichen Job, können Kaffee trinken und rauchen gehen, wann immer ihnen der Sinn danach steht. Ich hingegen habe klar geregelte Pausenzeiten. Zwischendurch aufs Klo gehen? Unmöglich.
Ich unterdrücke ein Seufzen. Nach einem kurzen Zwischenstopp im Umkleideraum für die weiblichen Mitarbeiter mache ich mich auf den Weg zu meinem Arbeitsplatz. Je näher ich komme, desto lauter wird es.
Die Maschinen arbeiten beinahe rund um die Uhr auf Hochtouren.
»Vorsicht!«, schreit jemand und ich mache einen Satz zur Seite.
Gerade noch rechtzeitig. Ein Gabelstapler rauscht an mir vorbei. Ich atme mehrmals heftig ein und aus und versuche, mich zu beruhigen. Trotzdem zittern meine Beine noch. Wie konnte das nur passieren? Ich arbeite seit meinem sechzehnten Lebensjahr in diesem Betrieb und kenne die Abläufe. Eigentlich.
»Alles in Ordnung bei Ihnen?«, fragt die junge Frau, die mich vor einem Zusammenstoß mit dem Stapler bewahrt hat.
Ich schaue sie an und frage mich, ob ich sie wohl kennen müsste. Ihre blauen Augen strahlen. Sie sieht … wirklich gut aus. Im Gegensatz zu den meisten anderen, die hier arbeiten, trägt sie ein klassisches Business-Outfit. Sie hält mir ihre gepflegte Hand hin.
»Kristina Michalik.«, sagt sie.
Wow. Tolle Stimme. Tolles Lächeln. Tolle Frau. Bitte sei nicht die neue Chefin.
»Kerstin … Kerstin Oester.«
Ich stottere und stammle und fühle mich wie ein Vollidiot.
»Oh, Kerstin Oester. Wunderbar. Nach Ihnen habe ich Ausschau gehalten. Schön, dass Sie wieder da sind. Ich wünsche Ihnen einen schönen ersten Arbeitstag.«
Kristina Michalik und ich nicken uns zu. Sie schlägt den Weg zu den Büros ein. Meiner führt mich in den riesigen Raum, in dem die Sortierbänder untergebracht sind.
Das große Tor zu diesem Raum wird über einen Bewegungsmelder ferngesteuert. Ich schaue mich im Raum um. Alles noch so wie immer. Gott sei Dank.
»Moin Kerstin. Schön, dass du wieder da bist.«
Die Vorarbeiterin, eine Frau mittleren Alters, begleitet mich an meinen Arbeitsplatz.
»Geändert hat sich hier nicht viel, seit du in Mutterschutz gegangen bist. Warst ja auch nur ein gutes Jahr weg.«
Sie redet wie ein Buch. Auch das hat sich nicht verändert. Wie immer zu Schichtbeginn teilt sie mir meinen Arbeitsplatz zu. Und dann geht es los. Acht Stunden lang Schrauben checken und aussortieren.
Einen Vorteil hat mein Job am Fließband immerhin. Ich muss den Denkapparat nicht wirklich anstrengen. Mir bleibt also genügend Zeit, um über die wirklich wichtigen Dinge nachzudenken. An Hennes und Ida zum Beispiel. Außerdem kann ich die Gelegenheit nutzen und mich mit der Frage auseinandersetzen, warum meine Gedanken sofort Birgits Bild projizierten als ich Kristina Michalik in die Augen geschaut habe.
Seit ich Birgit am Tag unserer Hochzeit kennengelernt habe, hat sich etwas in mir verändert. Meine Wahrnehmung für Frauen hat sich geändert. Seit diesem Tag schaue ich Frauen mit anderem Interesse an. Mir ist allerdings noch nicht ganz klar, woran das liegt.
Mein Leben mit Torben ist okay. Ich bin ganz glücklich mit ihm. Er lässt mich schalten und walten wie ich will, lässt mich sonst aber weitgehend in Ruhe. Außer er hat Bock. Aber das ist kein Problem. Dauert ja nicht lang. Männer wie er sind so einfach gestrickt. Um glücklich zu sein, brauchen sie nicht viel. Gutes Essen und Sex tragen entscheidend zu ihrem Glück bei. Nun ja. Ich mache mir nicht viel aus dem Sex mit Torben. Aber wenn es ihn glücklich macht, soll er es haben. Ab und zu. Nicht so oft wie er es gerne hätte, denn meistens bin ich viel zu kaputt, was er Gott sei Dank in der Regel akzeptiert. Er weiß, wie anstrengend unsere Kinder sind und wie sehr sie einem die Kraft rauben. Dass ich jetzt wieder mit der Arbeit anfange, wird die Sache nicht leichter für ihn machen.
»Kerstin! Du musst dich mehr konzentrieren!«, ruft die Vorarbeiterin mir zu.
»Dir sind schon ein paar kaputte Schrauben durch die Lappen gegangen! Reiß dich zusammen!«
Meine Kollegen schauen in meine Richtung. Es kommt selten vor, dass die Vorarbeiterin mich zur Schnecke macht. Ein Fest für die, die sonst immer ihren Ärger auf sich ziehen.
»Sorry!«, rufe ich zurück.
»Ich werde besser aufpassen!«
Obwohl ich mich nun doch etwas mehr konzentrieren muss, bleibt mir noch genügend Raum, um meinen Gedanken nachzuhängen. Was Birgit wohl macht? Und die Kinder? Geht es Hennes und Ida gut? Warum ruft die Erzieherin nicht an?
Die Gedanken jagen so sehr durch meinen Kopf, dass mir schwindelig wird. Ich fasse mir an die Stirn. In diesem Moment vibriert das Handy in meiner Tasche. Um das Gespräch annehmen zu können, mache ich einen Schritt vom Band zurück.
»Ja?«, schreie ich in den Apparat.
»Hey. Hier ist Steffi!«, schreit mir Steffis Stimme ins Ohr.
Im Hintergrund ist Geplärre zu hören. Oh Gott. Mir wird schlecht. Den Kindern geht es nicht gut und ich lasse sie im Stich. Ich bin eine Rabenmutter. Meine Augen füllen sich mit Tränen. Hätte ich doch auf den Rat meiner Eltern gehört.
Wenigstens einmal im Leben. Dann hätte ich etwas Anständiges gelernt und müsste mich nicht hier abquälen. Oder ich hätte mir einen Partner gesucht, der finanziell gut aufgestellt ist. Aber nöööö. Warum einfach, wenn es kompliziert auch geht?
»Tut mir leid, dass ich erst jetzt anrufe, aber wir haben heute ein bisschen Action.«, erklärt Steffi, doch eigentlich ist es nicht das, was mich interessiert.
»Mit Hennes und Ida ist alles in Ordnung.«
»Sicher?«
»Ganz sicher. Sie spielen gerade mit Conny im Garten.«
Ich atme erleichtert auf.
»Kerstin! Du kannst nicht einfach telefonieren!«
Die Vorarbeiterin baut sich vor mir auf. Sie sieht aus wie die Reinkarnation des Racheengels. Ihre Fäuste hat sie in die Seiten gestemmt. Ich ziehe den Kopf ein.
»Aber … Hennes und Ida sind heute das erste Mal richtig lang in der Krippe.«, jammere ich.
»Dann soll die Erzieherin deinen Mann anrufen!«
»Wie soll das gehen?«, zische ich gereizt.
»Mein Mann ist Busfahrer!«
»Na und? Ist das mein Problem? Mein Problem ist nur, dass ihr eure Arbeit anständig macht!«
»Steffi? Tut mir leid. Ich muss auflegen. Drück Hennes und Ida von mir.«
»Mache ich. Bis dann.«
Hoffentlich hat Steffi nicht so viel von meiner Auseinandersetzung mit meiner Vorarbeiterin mitbekommen. Mir ist mein Job sowieso schon peinlich. Wenn jemand mitbekommt, wie wir hier teilweise behandelt werden, ist mir das Ganze noch unangenehmer.
»Du hast nicht das Recht, mich so anzubrüllen!«, schleudere ich meiner Vorarbeiterin entgegen, doch die zuckt nur mit den Schultern.
»Es zwingt dich niemand dazu, hier zu arbeiten. Aber solange du hier bist, machst du deinen Job anständig! Dann muss ich dich auch nicht anschnauzen. Mach weiter!«
Ich fasse es nicht. Was in aller Welt ist mit der Vorarbeiterin passiert? Früher war sie doch viel umgänglicher und hat durchaus ab und zu beide Augen zugedrückt.
Ich schaue meine Kolleginnen und Kollegen fragend an.
»Die Neue in der Leitungsebene ist passiert.«, erklärt Klaus, ein älterer Mann, der schon so viel erlebt hat.
Er hat schon auf der Straße gelebt, aber auch schon in einer Villa. Sein Leben ist ein einziges Auf und Ab. Im Moment ist er wohl wieder eher weiter unten.
»Was ist mit der neuen Leitung?«, frage ich alarmiert.
»Die ist ein Hausdrachen! Seit die da ist, müssen wir das Pensum ständig erhöhen. Die macht uns alle fertig.«
»Bist du ihr schon begegnet?«, fragt Erika, die jede Schwankung mit ihrem Mann Klaus gemeinsam erträgt und sich nun auch den Job mit ihm teilt.
»Keine Ahnung. Wie heißt sie?«
»Michalik. Sei froh, wenn du der Michalik nicht über den Weg läufst. Die ist eine Hyäne, das kannst du mir glauben.«
Also, auf den ersten und den zweiten Blick hat Kristina Michalik nicht viel Ähnlichkeit mit einer Hyäne. Trotzdem muss ich den Worten meiner Kollegen wohl Glauben schenken. Sie erleben sie schließlich schon etwas länger.
Ein Teufel im Engelsgewand anscheinend.
Mir soll es egal sein. Schön anzuschauen war sie auf jeden Fall.
»An die Arbeit! Ihr werdet nicht fürs Babbeln bezahlt!«
Wir flitzen wie die Ameisen auseinander. Wieder ein kaputtes Schräubchen. Ich frage mich, was die in der Fertigung machen. Wenn sie anständig arbeiten würden, … wäre mein Job überflüssig. Okay. Sollen die machen, was sie wollen. Ich brauche den Job, aber vor allem brauche ich das Geld, das er abwirft.
Meine Gedanken kreisen immer wieder um die Kinder, um Birgit und um Kristina Michalik. Schade, dass sie so eine Hyäne ist. Sie ist wirklich nett anzuschauen.
Den Rest des Tages verbringe ich damit, meiner Vorarbeiterin aus dem Weg zu gehen und ihr keinen Grund mehr zu geben, ihren Frust an mir auszulassen. Nach der Schicht latsche ich mit hängendem Kopf durch die Haupteingangstür.
»Bis morgen!«, rufen mir die Damen am Empfang zu.
»Bis morgen.«, brumme ich ohne Elan und entferne mich so schnell es mir ohne zu rennen möglich ist.
Zu den Schichtwechseln ist auf dem Parkplatz vor der Firma immer die Hölle los. Hunderte Leute kommen und gehen nahezu zur gleichen Zeit. Bevor ich in Mutterschutz gegangen bin, habe ich die Zeit gerne genutzt, um mich mit ein paar Kolleginnen bei einem Becher Kaffee und einer Zigarette auszutauschen und über unsere Vorgesetzten herzuziehen.
Heute habe ich nicht viel Zeit. Die Krippe schließt in nicht mal einer halben Stunde und ich muss noch durch die ganze Stadt radeln.
»Hey! Mutze! Dass man dich auch mal wieder sieht!«, ruft mir eine Kollegin aus der Fertigung zu.
»Hast wohl Urlaub gemacht!«
»Dafür schaust du aber ganz schön fertig aus!«
Mit dem Fahrrad fest im Griff gehe ich auf meine Kolleginnen zu.
»Sie war in Elternzeit.«, sagt jemand, deren Stimme ich heute schon mal gehört habe.
Die Kolleginnen um den Aschenbecher sind augenblicklich still. Sie schauen hochkonzentriert in die andere Richtung. Anscheinend ist Kristina Michalik wirklich nicht besonders beliebt.
»Lassen Sie sich nicht stören. Fahren Sie ruhig fort.«
Kristina Michalik legt ein Päuschen ein.
»Fahren Sie ruhig fort mit Ihren Lästereien.«, sagt sie dann, zwinkert mir zu und entschwindet im nächsten Moment aus meinem Blickfeld. Die Frauen um mich herum atmen tief durch.
»Phu, Gott sei Dank ist der Hausdrachen weg!«
»Seit die hier ist, geht es nur noch drunter und drüber. Die Vorarbeiter sind ständig übel drauf und machen einen ohne Grund an.«
»Heute hatte Anneliese sogar unsere kleine Mutze hier auf dem Kieker.«, erzählt eine Kollegin aus meinem Team.
»Wieso? Was haste gemacht? Biste eingeschlafen?«
»Blödsinn. Ich musste nur kurz mit der Krippe telefonieren.«
»Und dann hat Anneliese dich angeschissen. Das ist so typisch. Seit die Michalik da ist, läuft es einfach beschissen! Wird Zeit, dass die mal jemand in ihre Schranken weist.«
Antonia, eine junge Kollegin aus einem anderen Team, regt sich richtig auf. Sie wird sogar laut, was für sie eher ungewöhnlich ist.
»Sorry, Mädels, ich muss los. Die Kinder warten.«
»Mit dir ist auch nichts mehr los.«
»Tut mir leid.«
»Aber am Freitag bist du doch dabei, oder?«
Freitag? Was war denn gleich wieder Freitag?
»Mensch, du Langweilerin. Hast du so viele Termine, dass du den einzigen wirklich coolen Termin verschläfst? Wir gehen alle zusammen auf den Jahrmarkt. Wie jedes Jahr.«
Oh. Verdammt. Wie konnte ich das Besäufnis auf Firmenkosten nur vergessen? Darauf freuen wir alle uns doch das ganze Jahr.
»Ich muss erst sehen, ob Torben frei hat.«, erkläre ich und bevor meine Kolleginnen etwas erwidern können, schwinge ich mich aufs Rad und fahre los.
Schweiß gebadet und schwer atmend komme ich kurz vor zu spät an der Kinderkrippe an. Hennes und Ida sind die letzten Kinder. Sie spielen mit ihrer Erzieherin im Sandkasten und heben nicht mal den Kopf um mich zu begrüßen.
»Alles in Ordnung?«, fragt Steffi.
»Hast du Ärger bekommen, weil du mit mir telefoniert hast?«
»Nur ein bisschen.«, flunkere ich und begegne Steffis Lächeln.
»Dann brauche ich dich wohl nicht fragen, wie dein Arbeitstag war.«
»Ach, war schon ganz okay. So wie immer eben. War mit den Kindern alles in Ordnung?«
»Klar. Die Zwei sind tolle Kids.«
Steffis Worte tun mir gut. Es beruhigt mich, dass wenigstens Hennes und Ida eine gute Zeit hatten. Sie können schließlich nichts dafür, dass ihre Eltern so bescheuerte Jobs haben.
Ich bin gespannt, wie Torben wieder drauf ist, wenn er heute von der Arbeit kommt. Er ist einer der wenigen deutschen Busfahrer in unserer Stadt. Die meisten anderen Busfahrer sind Griechen oder Portugiesen. Meistens sind sie es, über die sich die Leute bei Torbens Arbeitgeber beschweren, aber manchmal trifft es eben auch Torben. Ich verstehe nicht, wie die Leute es fertig bringen können, sich zu beschweren. Die Stadtbusfahrer haben einen harten Job. Sie müssen absolut im Zeitplan bleiben und das, obwohl sie ständig andere Routen haben oder Baustellen umfahren müssen. Sie müssen immer topfit sein und spielenden Kindern, Tieren, älteren Leuten, die mit ihrem Rollator über die Straße schippern, aber auch Autofahrern ausweichen. Eine Möglichkeit zum Pinkeln haben sie auch nicht, weswegen sie in die Büsche gehen müssen.
Vor ein paar Monaten kam Torben tropfnass nach dem Dienst nach Hause, obwohl es überhaupt nicht geregnet hat. Eine ältere Dame hat sich von ihm belästigt gefühlt, weil er in einen Busch gepinkelt hat. Sie hat den Gartenschlauch ausgerollt und ihn nass gespritzt. Torben war zwar ziemlich angepisst deswegen, konnte eine Weile später aber wieder darüber lachen.
So ist es nicht immer. Es gibt mehr als genügend Tage, an denen er mit einer riesigen Portion Ärger im Bauch nach Hause zurückkommt. Wenn er versucht, seinen Ärger an mir auszulassen, drücke ich ihm die Boxhandschuhe in die Hand und schicke ihn in den Keller. Er darf unsere Wohnung erst dann wieder betreten, wenn er sich so am Boxsack ausgelassen hat, dass er so weit wieder auf dem Boden ist, um normal mit mir zu sprechen.
Wir haben einen ganz guten Weg gefunden. Denke ich. Ich hoffe trotzdem, dass sein Tag besser war als meiner. Allzu schwierig ist das leider nicht.
»Sau mal, Mama, die Burg.«
Hennes hockt freudestrahlend im Sandkasten und wedelt mit seiner kleinen roten Schaufel durch die Luft. Ein Schwall Sand rieselt auf seine Schwester nieder. Im Normalfall ist Ida nicht besonders empfindlich. Heute aber anscheinend schon. Sie fängt an zu brüllen. Sie schreit so laut, dass ich das Bedürfnis verspüre, mir die Ohren zuzuhalten.
»Wie hältst du das nur den ganzen Tag aus?«, frage ich Steffi.
Die Erzieherin meiner Kinder grinst.
»Mann gewöhnt sich an alles, glaub mir.«
Ist das so? Wirklich an alles? Also an voll geschissene Windeln könnte ich mich nie gewöhnen.
»So laut ist es meistens gar nicht. Bei dir ging es im übrigen auch nicht leise zu.«
Ich arbeite ja auch in einer Fabrik, in der Schrauben, Muttern und andere Gegenstände, die Handwerkerherzen höher schlagen lassen, hergestellt werden.
Ida brüllt immer noch. Hennes lacht und gackert. Ich rolle mit den Augen. Noch vor wenigen Tagen wäre ich beim ersten Brüllen aufgesprungen und zu meinen Kindern gerannt. Dank Steffis Hilfe lerne ich gerade, erst mal abzuwarten und zu schauen, ob sich die Sache nicht von selbst beruhigt. Im Moment schaut es leider gar nicht gut aus.
Hennes hat Freude daran gefunden, seine Schwester mit Sand zu übergießen. Er hat schon wieder eine Schippe voll gemacht.
»Jetzt reicht es aber, junger Mann.«, schimpfe ich, gehe hin und nehme ihm die Schippe aus der Hand bevor er Ida erneut mit dem Sand bewerfen kann.
Nun fängt auch noch Hennes an zu brüllen. Er regt sich auf und schlägt um sich. Da hilft nur der kurze Prozess. Das strampelnde Kind auf den Arm nehmen und ganz fest an mein Herz drücken. Ich streichle über seinen Rücken. Idas Brüllen wird lauter und durchdringender.
Steffi nimmt meine kleine Tochter auf den Arm und redet beruhigend auf sie ein. Ida kuschelt ihr Köpfchen an Steffis Schulter.
»Die Zwei sind wahrscheinlich einfach nur müde. Es ist wohl am besten, wenn wir jetzt nach Hause fahren.«
Mit Steffis Unterstützung gelingt es mir, meine müden Kinder in den Anhänger an meinem Fahrrad zu setzen. Ich schwinge mich auf den Sattel und bin noch nicht mal richtig losgefahren, als die Köpfe der zwei müden Krieger zur Seite kippen.
»Sie schlafen.«, flüstert Steffi.
»Das ging ja flott.«
Steffi schüttelt den Kopf. Ich zucke grinsend mit den Schultern. So sind sie, Hennes und Ida. Gerade noch Party high five und dann … schnarchen sie innerhalb weniger Sekunden friedlich vor sich hin. Eng aneinander gekuschelt, versteht sich.
Manchmal wundere ich mich selbst und frage mich, wie sie das machen. Selbst im größten Chaos legen sie sich einfach ab und schlafen ein.
Bewundernswert.
Ich nutze den friedlichen Moment, verabschiede mich von Steffi und strample los.
Daheim wartet ein hoher Wäscheberg auf mich, den ich unbedingt noch abarbeiten muss, wenn ich eine Chance haben will, am Freitag bei der Party auf dem Jahrmarkt dabei zu sein.
Der Stapel ist auf ungefähr die Hälfte reduziert als Torben nach Hause kommt.
»Hey Schatz.«, flüstert er ganz nahe an meinem Ohr.
»Wie war dein erster Tag?«
»Ganz okay.«, gebe ich genauso leise zurück, da die Kinder sich tief in ihrem ganz eigenen Träumeland befinden.
»Na, so besonders toll klingt das ja nicht gerade.«
Was hat er erwartet? Dass ich nach einem Jahr Erziehungsurlaub zurückkehre und als Dankeschön wird mir eine Stelle in der Chefetage angeboten?
Ich jage das Bügeleisen über den Ärmel von Torbens Hemd.
»Was gibt es zum Essen?«
»Auf dem Herd steht Milchreis.«
»Uääh. Schon wieder?«
Ich hebe die Schultern.
»Wir sind mal wieder am Ende des Geldes angekommen.«
»Heute schon? Scheiße!«
In diesem Fall kann ich ihm nur beipflichten. Hennes und Ida haben einige Sachen für die Krippe gebraucht. Der Einkauf für die Zwei hat das Loch in unserer ohnehin nicht sehr üppig ausgestatteten Haushaltskasse noch größer gefressen.
»Tut mir leid.«
»Muss es nicht. Du kannst ja nichts dafür.«
»Danke.«
Ich drehe mich zu ihm um und hauche einen Kuss auf seine Lippen.
Torben zieht mich an sich.
»Was hältst du davon, wenn du für heute die Bügelwäsche Bügelwäsche sein lässt?«
Er zwinkert mir zu und fängt an, mir über die Arme und die Schultern zu streicheln. Eigentlich bin ich müde. Außerdem schmerzen meine Muskeln. Ich bin total angespannt.
»Ach, was solls.«, murmle ich und ziehe den Stecker aus der Dose.
»Die Wäsche wird mir schon nicht davon laufen.«
»Sicher nicht.«, erwidert Torben und lacht leise.
Er setzt sich aufs Sofa. Ich nehme auf seinem Schoß Platz und schlinge beide Beine um ihn. Seine Küsse werden tiefer und leidenschaftlicher. Er stöhnt und drängt sich an mich.
Danach liegen Torben und ich nackt auf dem Sofa. Ich streichle in Gedanken versunken den Bauch meines Mannes.
»Musst du Freitag Abend arbeiten?«
»Freitag Abend? Neee, da habe ich frei. Warum?«
»Weil ich gerne zum Jahrmarkt gehen würde.«
»Jahrmarkt klingt toll. Aber wovon sollen wir das bezahlen?«
»Ich. Nicht wir als Familie. Du weißt doch, die Firmenfeier.«
»Ach so. Stimmt ja.«
Er denkt einen Augenblick lang nach.
»Musst du da unbedingt mit hin?«
»Müssen nicht, aber ich würde gerne gehen. Ich habe die Mädels ein Jahr lang nicht gesehen. Außerdem … du weißt, wie wichtig mir dieser eine Termin im Jahr ist.«
Torben steht auf und schaut mich mit gerunzelter Stirn an.
»Wenn es sein muss, dann mach das halt.«, brummelt er.
Mir war klar, dass er sich seinen freien Abend anders vorgestellt hat. Trotzdem … Ich verlange doch nicht viel von ihm. Um meine Enttäuschung über seine Reaktion zu verbergen, drehe ich mich zur Seite. Torben schaut auf mich herunter.
Dann setzt er sich zu mir und streicht mir das Haar aus der Stirn.
»Tut mir leid, Schatz. Nimm mich nicht zu ernst. Ich bin nur müde. Natürlich kannst du gehen. Ich bin bei den Kindern.«