8. Birgit

I ch sitze auf dem Klo und verberge den Kopf mit den Händen. Meine Schultern zucken. Mir ist schlecht.

Marcel klopft an die Tür.

»Schatz? Alles in Ordnung bei dir?«, fragt er.

Ich schniefe und schlucke.

»Ja. Ja, alles klar.«, rufe ich zurück.

»Bin gleich fertig.«

Ich schiebe das Tampon hinein, putze mich ab und wasche die Hände. Dann drücke ich die Spülung und trete aus der Gästetoilette.

Marcel ist nicht blind. Er wird innerhalb weniger Sekunden erkennen, dass etwas mit mir nicht stimmt. Aber was hätte ich denn tun sollen? Ich kann doch nicht so lange auf dem Klo sitzen bleiben, bis meine Augen etwas weniger verheult aussehen.

Natürlich bekommt Marcel sofort mit, dass mich etwas quält.

»Wieder nichts?«

Ich winde mich aus Marcels Umarmung und schleiche mit hängendem Kopf an ihm vorbei. Seit unserer Hochzeitsreise nehme ich keine Hormone mehr. Wir üben fleißig, aber irgendwie will es nicht klappen. Ich habe keine Idee, woran es liegt, da wir beide kerngesund sind.

Einmal hat es geklappt, aber dann habe ich das Kind verloren.

Mir schwinden die Kräfte. Ich habe keine Energie mehr. Jeden Monat dieses Hoffen und Bangen. Ich kann nicht mehr.

Ich will auch gar nicht mehr.

»Wir sollten uns einen Hund anschaffen.«, schlage ich ohne jeglichen Elan in der Stimme vor.

»Oder eine Katze.«

»Du bist bescheuert.«, knurrt Marcel und fängt an, mich zu kitzeln.

»Warum? So schlecht finde ich die Idee gar nicht.«

»Klar. Ist ja auch deine eigene.«

Eben.

Obwohl mir überhaupt nicht danach ist, grinse ich.

»Ich will nicht mehr. Kannst du das denn überhaupt nicht verstehen?«

»Doch, natürlich kann ich dich verstehen. Trotzdem können wir unseren Traum von einer kleinen Familie doch nicht begraben. Wir haben uns doch immer Kinder gewünscht.«

Schon klar. Nur wird halt nicht jeder Wunsch zur Realität. Ich ertrage die Belastung nicht länger. Meine ganze Lebensfreude ist verloren gegangen. Ich erkenne mich kaum noch wieder.

»Lass uns bitte eine Pause einlegen.«, flehe ich Marcel an.

Marcel streichelt mir übers Haar.

»Gut. Okay. Wie du meinst.«, sagt er mit vor Enttäuschung bebender Stimme.

Er zieht sich mit einem Buch in der Hand aufs Sofa zurück und fängt an zu lesen. Obwohl er einen anderen Einband um das Buch gemacht hat, weiß ich, was er liest. Seit Monaten bereitet er sich auf den Tag x vor. Er möchte ein guter Vater sein. Ein Vater, auf den das Kind sich verlassen kann. Ein Vater, der seinem Kind liebevoller Erzieher und bester Freund ist.

Mir kommen die Tränen.

Wie gerne würde ich ihm seinen sehnlichsten Wunsch erfüllen, aber es klappt einfach nicht.

Andere Paare müssen nur ihre Unterhosen nebeneinander auf die Leine hängen und schon klappt es. Die Frau, die am gleichen Tag wie ich geheiratet hat, zum Beispiel. Ein Schuss – und Volltreffer. Und dann gleich doppelt. Wie es Kerstin wohl geht? Ob sie glücklich ist?

Ich muss so viel an sie denken. Gerade jetzt würde ich sie gerne anrufen. Bei unserer Hochzeit ist sie mir zur Verbündeten geworden, aber ich habe es leider versäumt, sie nach ihrer Nummer zu fragen. Eine Freundin wie sie hätte mir gut getan. Jemand, die mich versteht. Jemand, auf die ich mich in jeder Lebenslage verlassen kann. Wir könnten uns sogar gegenseitig unter die Arme greifen.

Natürlich könnte ich auch Steffi anrufen, aber...

Ein dunkler Schleier legt sich vor meine Augen. Ich will nicht weinen. Aber ich kann nicht verhindern, dass mir die Tränen in die Augen treten. Steffi und ich sind seit dem Sandkasten miteinander befreundet. Wir sind miteinander durch dick und dünn gegangen. Sogar unsere ersten sexuellen Erfahrungen haben wir fast gleichzeitig gemacht. Ich mit Marcel und sie mit irgendeinem Typen, den sie gleich danach wieder in den Wind geschossen hat.

Ich dachte immer, dass unsere Leben untrennbar miteinander verwoben sind, doch so, wie es im Moment aussieht, habe ich mich getäuscht. Seit ich verheiratet bin, hat sich so viel verändert. Marcel und ich haben schon immer so viel Zeit wie möglich miteinander verbracht. Trotzdem habe ich mir viele Freiräume für sie geschaffen. So war es eigentlich auch weiterhin gedacht, doch Steffi hat sich zurückgezogen. Ich weiß nicht mal, warum, oder was passiert ist. Sie war schon bei meiner Hochzeit ganz verändert, besonders als ihr bewusst wurde, dass ich mich gut mit Kerstin verstehe. Ich hielt ihre Anwandlungen für völlig überzogene Eifersucht und habe deshalb nicht besonders darauf geachtet, aber nach der Hochzeit haben wir uns immer seltener gesehen. Warum auch immer.

Ich will ihr aber auch nicht nachlaufen.

So war ich nie. So bin ich nicht. Und so möchte ich auch nie sein.

Ich bin eine selbstbewusste Frau. Also … eigentlich. Im Moment hat mein Selbstbewusstsein einen ordentlichen Knacks kassiert.

Ich wünschte, ich hätte jemanden, mit dem ich reden kann. So richtig reden, meine ich. Jemanden, der mir zuhört und mich einfach in den Arm nimmt und mir sagt, dass alles gut wird. Wie auch immer dieses gut aussehen soll.

Das erste Mal in meinem Leben habe ich Angst vor der Zukunft. Es war immer alles so klar. Freund finden, irgendwann zusammenziehen, dann heiraten, dann Kinder. Nebenbei einen im besten Fall hervorragenden Studienabschluss erreichen und einen guten Job ergattern. Ich habe einen guten Job, den ich auch sehr gerne ausübe. Im Grunde ist alles genau so gekommen, wie geplant.

Ich könnte mich glücklich schätzen. Kann ich aber nicht.

Weil ich nicht glücklich bin.

Mit Marcel kann ich nicht über meine Nöte sprechen. Er reagiert so typisch maskulin und schlägt dann vor, dass wir es doch einfach jeden Monat wieder probieren können.

Mir geht dieses Probieren auf die Eierstöcke. Ich möchte endlich wieder leben. Im Moment weiß ich nicht mal mehr, ob ich überhaupt noch Kinder will.

Dieser ganze Hick Hack schon im Vorfeld. Wahnsinn.

»Schatz, kommst du mal bitte zu mir?«, fragt Marcel mit einem so sanften Sing-Sang in der Stimme, dass ich hellhörig werde.

Was will mein Mann von mir?

Skeptisch gehe ich zu ihm.

»Was hältst du davon, wenn wir es mal in einer Kinderwunschklinik versuchen? Ich habe gelesen, dass dort vielen Paaren, bei denen es nicht klappt, geholfen wird.«

Kinderwunschklinik. Ich weiß ja nicht. So ein Kind soll doch durch Liebe gezeugt werden und nicht in der sterilen Umgebung einer Klinik in einem Reagenzglas. Dieser Gedanke passt nicht zu meiner romantischen Vorstellung wie ein Kind entstehen sollte.

Vielleicht bin ich naiv. Vielleicht habe ich im Moment aber auch einfach die Schnauze voll.

Dieses ganze Kind-Thema hängt mir gerade nur noch zum Hals raus.

»Gib mir bitte ein bisschen Zeit.«, bitte ich deshalb.

»Bitte denk trotzdem darüber nach.«

Ich nicke und mache einen Schritt zurück. Marcel streckt die Hand aus.

»Komm, lass uns zusammen fernsehen.«

Ich weiß nicht recht. So richtig Lust habe ich nicht. Aber ich will ihm wenigstens diesen Wunsch erfüllen, wenn ich ihn sonst schon ständig enttäuschen muss.

Ich lehne mich an ihn und kuschle mich in seine Arme.

Irgendwann in der Nacht weckt er mich und bringt mich ins Bett.

I ch gehe dann jetzt los!«, rufe ich und stehe mit der Tasche über der Schulter in den Startlöchern.

Marcel biegt um die Ecke und starrt mich offen an.

»Wow. Du siehst toll aus.«, murmelt er.

Sein Blick versinkt in meinem Ausschnitt. Lächelnd schüttle ich den Kopf und schimpfe:

»Du bist unmöglich.«

»Unmöglich liebenswert. Unmöglich sexy und unmöglich geil? Wolltest du das sagen?«

Marcel ist … irgendwie immer geil. Seit wir verheiratet sind, hat sich sein Bedürfnis, mit mir zu schlafen, noch mehr gesteigert.

Ihm bereitet es Spaß, mit mir zu schlafen. Für mich steckt immer eine große Portion Druck dahinter. Ich kann es nicht mehr genießen, dabei sind wir noch so frisch verheiratet, dass es für mich nichts besseres geben sollte als meinem Mann nahe sein zu dürfen.

Ich denke wirklich darüber nach, einen Hund anzuschaffen.

Ein junges Pärchen in der Nachbarschaft hat eine junge Französische Bulldogge. Dieser Hund ist so süß. Immer, wenn ich ihn sehe, muss ich stehen bleiben und mit dem Kleinen spielen.

Ein Lächeln umspielt meine Lippen. Ein Lächeln, das Marcel falsch interpretiert. Er leckt sich über die Lippen und kommt näher.

»Halt! Halt! Halt!«, schimpfe ich lachend mit erhobenem Zeigefinger.

»Ich muss doch los.«

»Schade. Aber wenn du wieder kommst … «

»Mal sehen, ob ich dann noch zu etwas zu gebrauchen bin.«

Wahrscheinlich eher nicht. Die Betriebsfeste auf dem Jahrmarkt arten bei uns immer so aus, dass ich danach für mindestens zwei Tage zu nichts zu gebrauchen bin.

Ich weiß das. Marcel weiß es auch. Sein Blick verfinstert sich. Trotzdem ringt er sich ein Grinsen ab, was mich direkt aufregt. Er regt mich auf. Ich bin an einem Punkt angekommen, an dem mich seine hoffnungsvollen Blicke und die darauf folgende Enttäuschung, wenn ich wieder keine guten Neuigkeiten für ihn habe, fertig machen.

Wenn er besonders schlecht drauf ist, meint er, ich würde gar keine Kinder wollen und deshalb innerlich blockieren. Das ist nicht fair. Und das weiß er auch. Aber er ist eben, wie er ist. Ich wusste worauf ich mich mit der Hochzeit mit ihm einlasse. Er ist ein lieber Kerl, der mich und meine Meinung achtet, nur in diesem einen Punkt ist er unnachgiebig wie ein kleines Kind.

»Übertreib es nicht zu sehr, okay? Wir sind Sonntag bei meinen Eltern eingeladen.«

Au weia. Diesen Termin habe ich total vergessen. Mist. Marcels Eltern sind nett. Trotzdem mag ich die Termine dort nicht. Es wirkt immer alles so aufgesetzt. So unecht und gekünstelt. Brrrr. Für mich jedes Mal aufs Neue ein Spießrutenlauf. Ich verspüre erst dann wieder Erleichterung, wenn wir wieder zur Tür raus sind und nach Hause fahren können.

»Okay. Ich versuche, daran zu denken.«

Ich hauche Marcel einen Kuss auf die Wange und verschwinde durch die Tür, bevor er doch noch auf die Idee kommen kann, mich wieder meiner Klamotten zu entledigen.

Wie in jedem Jahr haben wir einen richtig guten Tisch. Gerade so weit von der Bühne, den Toiletten und den Fressbuden entfernt, dass wir nur kurze Strecken zurücklegen müssen und einen guten Blick auf das, was auf der Bühne geboten wird, haben.

Ich freue mich auf den Abend. Obwohl ich ziemlich pünktlich bin, sind die meisten meiner Kolleginnen und Kollegen schon eingetroffen.

»Hey Biggi! Komm hierher. Wir haben dir einen Platz freigehalten.«

Meine Kollegin Ulla winkt mit beiden Händen. Eine Kollegin schnalzt mit der Zunge.

»Wow. Du hast dich ja aufgebrezelt. Bist du etwa auf Männerjagd?«, witzelt sie grinsend.

»Sie muss nicht mehr auf die Jagd. Wie du vielleicht weißt, ist sie verheiratet.«

»So what? Wo ist das Problem?«

Ich schaue kopfschüttelnd von einer zur anderen Kollegin und hocke mich grinsend hin.

Um uns herum geht es ziemlich temperamentvoll zu. Sämtliche Firmen aus der Stadt und der näheren Umgebung haben für heute hier Tische gebucht. Wie es aussieht, ist das große Festzelt bis zum letzten Platz ausgebucht. Cool. Ich schaue mich um.

Ulla schiebt mir ein randvolles Glas unter die Nase.

»Zum Berg hat es wohl nicht mehr gereicht.«, brummle ich und Ulla lacht herzhaft.

»Flasche war leer.«, kontert sie und schüttelt die leere Flasche.

Statt mit den Kolleginnen anzustoßen, lege ich die Lippen ums Glas und trinke vorsichtig ab. Zwei drei Schlucke, dann kann ich es endlich heben.

»Prost!«, rufe ich.

Gläser klirren. Wir haben einen guten Grund zu feiern. Die Geschäftszahlen sind gut. Wir stehen sehr gut da. Aktuell haben die Leute Freude am Kaufen und Verkaufen und da kommen wir ins Spiel. Das ist unser Business.

Wenn es weiterhin so gut läuft, wird es Anfang Dezember eine nette kleine zusätzliche Provision für alle geben. Innerlich reibe ich mir die Hände. Diese Provision wird Marcel und mir den Weihnachtsurlaub finanzieren. Ein Grund mehr für mich, alles zu geben. Und noch ein bisschen mehr.

Heute Abend werde ich es allerdings krachen lassen und zwar so richtig. Ich will endlich mal wieder Spaß haben, ohne dabei an die Kopfschmerzen und die Übelkeit, die mich spätestens morgen erwarten, zu denken.

Ich will tanzen und singen und einen Tisch oder eine Bank zum Einkrachen bringen. So wie letztes Jahr.

»Weißt du noch, letztes Jahr?«, fragt Ulla mit einem spitzbübischen Grinsen im Gesicht.

»Klar weiß ich das noch!«, schreie ich zurück, da es ziemlich laut um uns herum geworden ist.

Mir wird morgen nicht nur der Schädel dröhnen und der Magen rebellieren. Auch die Stimme wird heute Nacht ganz sicher ordentlich in Mitleidenschaft gezogen. Wie gut, dass morgen erst Samstag ist. Die Hühnersuppe, die ich ganz sicher brauchen werde, ist schon vorgekocht. Ich muss sie also nur noch aufwärmen. Im äußersten Notfall kann auch Marcel diesen Job übernehmen. Je nachdem, wie krank ich sein werde.

Beschwingt stürze ich mich auf das frisch gefüllte Weinglas.

Nach dem dritten oder vierten Glas fangen wir an zu singen. Wir grölen so laut, dass die Männer und Frauen an den anderen Tischen keine andere Wahl haben als in unseren Gesang einzusteigen.