I ch hätte nicht gedacht, dass es so anstrengend werden würde, Kerstin zu einer Ausbildung zu überreden. Mit Händen und Füßen hat sie sich gegen meine Ideen gesträubt. Erst, als ich ihr versichert habe, dass sie ihr aktuelles Gehalt behalten kann, hat sie versprochen, sich ernsthaft Gedanken zu machen.
Vor vierzehn Monaten ist sie mit Hennes und Ida bei ihrem Mann ausgezogen. Ich bin stolz auf sie, dass sie diesen Schritt geschafft hat.
Leider ist sie nicht bei mir eingezogen. Mir ist klar, dass sie sich zwar weiterhin von mir angezogen fühlt, mich aber nicht liebt.
Da ich nicht komplett auf sie verzichten will, habe ich mich, in der Hoffnung, dass sie ihr Herz irgendwann doch noch an mich verliert, auf eine Affäre mit ihr eingelassen. Ich liebe es, mit ihr zusammen zu sein und Zeit mit ihr und den Zwillingen zu verbringen. Die Drei in meinem Leben zu haben, tut mir gut und bereichert mich. Seit Kerstin Teil meines Lebens ist, bin ich ausgeglichener geworden und schaffe es manchmal sogar, fünfe gerade sein zu lassen, obwohl mir das wirklich schwer fällt.
Dieses Wochenende wird Kerstin wieder bei mir sein. Wir werden zusammen im Pool planschen und einfach in den Tag hinein leben. Sonst habe ich mir die Tage immer so vollgestopft, dass ich kaum zum Durchatmen gekommen bin, doch das gehört Gott sei Dank der Vergangenheit an.
Hennes und Ida sind bei ihrem Vater und bei ihren Großeltern.
Ich sitze am Schreibtisch und schaue aus dem Fenster. Ob ich wohl irgendwann eine der Leichen auf Kerstins Weg sein werde? So wie Torben auch?
Aus Kerstins Erzählungen weiß ich, wie sehr Torben auch heute noch, Monate nach Kerstins Auszug, unter der Trennung leidet. Kerstin blüht immer mehr auf. Sie sieht von Tag zu Tag besser aus. Die Männer und Frauen liegen ihr reihenweise zu Füßen und versuchen, an sie heranzukommen.
Ich bin eine von diesen Frauen, doch das Einzige, was sie mir gibt, ist Freundschaft Plus.
Heute Nacht wollen wir auf Piste gehen und die Bars, Kneipen und Clubs unsicher machen.
Ich hoffe, dass ich mit ihrer Energie mithalten kann.
Als ich ihr das erste Mal über den Weg gelaufen bin, kam sie mir zurückhaltend und schüchtern, fast ängstlich vor, doch von diesem ersten Eindruck ist nicht mehr allzu viel zu erkennen. Kerstin hat sich verändert. Und wie sie sich verändert hat. Das Problem ist, dass ich, je besser ich sie kennenlerne, desto tiefer in meine Verliebtheit hinein rutsche.
Kerstin nutzt mich nicht aus. Sie lässt sich aber auch in keine Richtung drängen, vor allem, was das Private betrifft.
Immer wieder muss ich daran denken, wie sie ausgeflippt ist, weil ich ihre Kaution übernommen und eine Bürgschaft geleistet habe. Sie hat gewartet, bis Steffi sich verabschiedet hat. Dann hat sie sich vor mir aufgebaut und mich ordentlich rund gemacht. Niemals hätte ich so eine Energie erwartet. Kerstin ist … meine absolute Traumfrau, aber wahrscheinlich fallen eher Ostern und Weihnachten auf den gleichen Tag, als dass sie mich erhört. Wie sehr hatte ich gehofft, dass ihre Zurückhaltung nur daran liegt, dass ich erstens ihre Vorgesetzte bin und sie zweitens aktuell keine Beziehung möchte. Leider ist das wohl nicht der Grund.
Ich seufze auf.
Mir ist klar, dass es gesünder für mich wäre, wenn ich mich zurückziehen und mein Werben um sie zurückschrauben würde, aber so einfach ist das wohl nicht. Nicht bei einer Frau wie Kerstin.
Mir graut vor dem Tag, an dem sie ihr Herz an eine andere Frau verschenkt. Ich weiß nicht, was ich dann tun werde.
Das Läuten des Türgongs durchbricht meine Gedanken. Meine Mundwinkel zucken. Kerstin ist, wie fast immer, überpünktlich. Ich springe auf und laufe zur Tür.
»Oh. Wow.«, stottere ich.
Kerstin sieht komplett verändert aus. Mit einem strahlenden Lächeln im Gesicht dreht sie sich einmal um die eigene Achse.
»Und?«, fragt sie mit nervösem Flackern in den Augen.
»Gefalle ich dir?«
»N … natürlich.«
Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Natürlich gefällt sie mir. Sie würde mir auch mit Glatze gefallen. Aber … warum … in aller Welt musste sie ihr schönes langes Haar so kurz schneiden lassen? Ich verstehe es nicht.
»Es … gefällt dir nicht.«, stellt Kerstin mit einer Spur Enttäuschung in der Stimme fest.
»Doch. Schon.«
»Das sieht man.«
»Doch. Sieht wirklich gut aus. Komm doch erst mal rein.«
Ich hauche ein Küsschen auf Kerstins rechte Wange und eines auf die linke. Dann mache ich einen Schritt zur Seite und lasse sie herein.
»Wo hast du deine Tasche gelassen?«
»Hab keine. Ich habe auch nur ein halbes Stündchen Zeit.«
Mein Blick verfinstert sich.
»Torben muss heute doch spontan arbeiten.«
Kerstins Blick ist finster.
»Du könntest doch mit Hennes und Ida zu mir kommen.«
»Heute nicht. Die Zwei kränkeln ein bisschen. Ich will nicht, dass sie dich anstecken.«
Als ob mir das etwas ausmachen würde.
»Was ist los?«, frage ich alarmiert.
»Nichts.«
»Kerstin!«
»Es ist wirklich nichts. Also … fast nichts. Ich hatte nur einen kleinen Streit mit Torben.«
»Worum ging es?«
»Um ihn, um mich und um Hennes und Ida.«
Na, da wäre ich im Leben nicht drauf gekommen. Ich grummle still in mich hinein.
»Was willst du denn hören? Willst du wirklich wissen, dass er versucht hat, mich zu küssen und mit mir zu schlafen? Willst du das wirklich wissen?«
Kerstin brüllt die Worte regelrecht heraus und ich … breche innerlich zusammen.
»Willst du hören, dass er keinen Unterhalt für die Kinder zahlen möchte und ich nicht weiß, woher ich das Geld für die Krippenplätze nehmen soll? Willst du das wirklich alles wissen?«
Ich werde noch ein Stück kleiner. Ich kenne Kerstin zwar mittlerweile ganz gut. Ahnung von ihrem Leben habe ich deswegen trotzdem nicht. Ich weiß nicht, wie sie es schafft, durch den Tag zu kommen. Ich weiß … Überhaupt nichts weiß ich.
Kerstin ist eine Lebenskünstlerin, die auch aus Nichts viel machen kann. Weil sie es gelernt hat. Weil sie es lernen musste.
»Ich brauche einen zweiten Job, doch den kann ich mir nicht leisten, weil ich mir den Babysitter nicht leisten kann. Willst du das wirklich alles wissen?«
»Ich bin deine Freundin!«, schreie ich zurück.
In meiner Not und Hilflosigkeit mache ich einen Schritt auf Kerstin zu und ziehe sie alles andere als liebevoll an mich. Sie drückt mich zurück, greift in ihre Tasche und zieht einen Stapel Bargeld hervor.
»Wir sind quitt!«, spuckt sie aus und knallt das Geld auf den Tisch.
»Fass mich nie wieder an!«
Was habe ich nicht mitbekommen? Ich verstehe überhaupt nichts mehr.
»Du hast das mit der Kaution doch nur übernommen, um alles von mir haben zu können. Du hast mich gekauft!«
Wer redet denn so einen Blödsinn? Ich habe sicher einige fiese Fehler, aber ein so durchtriebenes Arschloch bin ich nicht. Außerdem habe ich es nicht nötig, Menschen zu kaufen. Ich frage mich, wer Kerstin so den Kopf verdreht hat. Mir fällt nur einer ein. Torben.
Aber wieso sollte er? Nach so einer langen Zeit? Immerhin ist Kerstin nicht erst gestern bei ihm ausgezogen.
Ich bin so fassungslos, dass ich Kerstin nur anstarren kann.
Kerstin ist richtig in Fahrt. Wie ein eingesperrtes Raubtier läuft sie im Flur hin und her.
»Du hast es doch von Anfang an nur darauf angelegt, dass ich abhängig von dir bin.«
Schwachsinn. Ich bin so geschockt, dass ich nichts entgegnen kann.
»Damit du mich immer haben kannst, wenn du Bock auf mich hast.«
Bullshit. Ich wollte ihr doch nur helfen. Meine Gefühle für sie hatten mit meiner Entscheidung, ihr zu helfen, fast nichts zu tun.
Natürlich war ich zu diesem Zeitpunkt schwer verliebt. Aber … deswegen kaufe ich sie doch nicht. Das habe ich überhaupt nicht nötig. Wer hat ihr nur diesen Floh ins Ohr gesetzt?
»Komm mal wieder runter!«, brülle ich und endlich bleibt Kerstin stehen.
In ihren Augen lodert blanker Zorn.
»Warum sollte ich dich kaufen wollen? Was habe ich denn davon?«
»Dass ich abhängig von dir bin zum Beispiel.«
»Was sollte mir das bringen?«
»Woher soll ich das wissen? Woher soll ich wissen, was in deinem Hirn vor sich geht? Du willst mich doch die ganze Zeit. Also hast du die Chance genutzt und zugegriffen. Ich habe es dir aber auch verdammt leicht gemacht. Weißt du was? Ich ärgere mich gar nicht so sehr über dich wie über mich selbst.«
»Jetzt halt doch mal den Rand. Wer hat dir denn diesen Floh ins Ohr gesetzt? Torben?«
Das Feuer in Kerstins Augen wird kleiner. Wir starren uns zwar immer noch an wie zwei Kampfhennen kurz vor dem Angriff, doch allmählich kommt wieder Ruhe in Kerstins Körper. Sie steht mit hängenden Schultern vor mir.
»Ich kann das nicht. Ich habe es wirklich versucht, aber ich kann dir nicht das geben, was du dir wünscht.«
Aber das weiß ich doch schon die ganze Zeit und habe mich damit abgefunden. Deswegen verstehe ich Kerstins Ausbruch gleich noch viel weniger.
»Ich will doch einfach nur deine Freundin sein und Freunde stehen nun mal füreinander ein.«
»Dir geht es wirklich nur darum?«
»Klar. Die ganze Zeit.«
Kerstins Schultern fangen an zu zucken. Die Frau vor mir zittert am ganzen Körper. Ich mache einen Schritt auf sie zu und halte sie fest.
»Es … tut mir so leid, dass ich dich so angemacht habe. Torben macht mich einfach gaga. Am Liebsten würde ich Hennes und Ida gar nicht mehr zu ihm lassen, aber das verbietet mir das Gesetz. Ich hasse die Wochenenden, an denen ich die Zwei zu ihm geben muss. Danach sind sie immer so aufgeputscht. Wahrscheinlich füttert er sie mit Süßkram und lässt ihnen alles durchgehen.«
Irgendwie kann ich Kerstins Gedankengänge nachvollziehen, auch wenn ich, ehrlich gesagt, nicht so richtig glauben will, dass er Hennes und Ida tatsächlich bewusst so verwöhnt, dass sie, wenn sie nach Hause zurückkehren, so am Rad drehen, wie Kerstin beschreibt.
Dass er sauer und wütend auf seine Frau ist, ist leicht nachzuvollziehen. Er fühlt sich enttäuscht und verraten. Hintergangen und für dumm verkauft.
Viele verlassene Partner teilen sein Los. Irgendwie ist es fast normal, dass er seinen Weg sucht, um damit klarzukommen.
Allerdings verstehe ich Kerstins Ausbruch immer noch nicht so ganz. Warum lässt sie ihren Frust auf Torben an mir aus? So kenne ich sie gar nicht.
»Ich kann niemanden mehr an meiner Seite ertragen, der Ansprüche stellt. Verstehst du? Ein Torben reicht mir. Nimm bitte das Geld.«
»Meinst du nicht, dass es besser wäre, wenn du dein Geld in Möbel anlegst?«
Mit in Falten gelegter Stirn denkt Kerstin einen Moment nach. Dann zuckt sie mit den Schultern.
»Okay, aber nur, wenn wir nur miteinander schlafen, wenn wir es beide wollen.«
Äh … ist doch wohl logisch, oder? Ich meine... Habe ich ihr tatsächlich das Gefühl gegeben, dass sie mit mir schlafen muss, damit ich die offenen Rechnungen nicht auf einmal einfordere? Was denkt Kerstin nur von mir?
»Willst du mir damit sagen, dass du mit mir geschlafen hast, obwohl du es nicht wolltest?«, hake ich getroffen nach.
Ich kann Kerstin nicht anschauen, weil das, was sie sagt, zu sehr an meinem Herzen zerrt.
»Nein.«, erklärt sie.
Ich bin ein bisschen besänftigt, auch, wenn mir schlagartig bewusst wird, dass das, was hier gerade passiert, unsere Beziehung nachhaltig verändern wird. Nie wieder werde ich es genießen können, mit ihr zu schlafen, weil in meinem Hinterkopf immer die Angst leben wird, dass sie eigentlich gar nicht will.
»Freunde?«, frage ich.
»Freunde.«
»Nur ohne Plus.«, bemerke ich trocken und versuche, mir die erlittenen Verletzungen nicht allzu deutlich anmerken zu lassen.
Kerstin wird wohl immer einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben bleiben, doch ist mir mittlerweile klar geworden, dass ich mich vor lauter Verliebtheit verrannt habe. Ich war der Meinung, sie zu kennen, dabei weiß ich im Grunde so gut wie nichts über sie.
Vielleicht war der Streit mit ihr dafür gut, dass ich innerlich von ihr los komme und die Kraft habe, sie frei zu geben.
»Ich hab dich lieb.«, murmelt Kerstin.
»Es tut mir unendlich leid, dass ich meinen Frust an dir abgelassen habe. Ich bin so kompliziert und kaputt. Trete ausgerechnet die Menschen mit Füßen, die es gut mit mir meinen. Ich bin es nicht wert, deine Freundin zu sein.«
»Blödsinn. Schon vergessen? Freunde … für immer.«
Als Kerstin mein Haus verlässt, um ihre Kinder abzuholen und dann nach Hause zu fahren, stehe ich noch eine Weile an der Tür und schaue ihr nachdenklich hinterher.
Schade, dass es nicht geklappt hat. Ich wäre gerne Kerstins Partnerin gewesen.