S chade, dass Kerstin keinen Führerschein hat. Ich bin so nervös, dass es mir schwer fällt, mich auf den Verkehr zu konzentrieren. Was packe ich ein? Was ist für die ersten Tage besonders wichtig? Ich bin völlig überfordert.
Ich muss mich sortieren, aber … das Haus, in dem ich so viele Jahre mit Marcel gelebt habe, kommt immer näher.
Kerstins Hand liegt auf meinem Oberschenkel. Meine Süße redet beruhigend auf mich ein und erzählt mir, dass alles gut werden wird. Ich möchte ihr gerne glauben, aber … wie soll alles gut werden, wenn ich ab heute obdachlos bin? Ich. Und das Kind in meinem Bauch.
Ich kann Marcel ja verstehen, dass er mich vor die Tür setzt, aber in seinem Zorn hat er vergessen, dass ich sein Kind unter meiner Brust trage. Er setzt also genau genommen nicht nur mich vor die Tür, sondern auch unser ungeborenes Kind.
»Wow. Das ist mal ein Haus.«
Es fällt Kerstin nicht schwer, ihre Begeisterung zu zeigen. Ein Lächeln mogelt sich auf meine Lippen. Ich winke ab.
»Im Endeffekt ist es doch bloß ein goldener Käfig.«, erkläre ich.
»So ein Haus kostet doch ein Vermögen.«
»Ich habe geerbt.«
»Heißt das, dass das Haus im Grunde dir gehört?«
Meine Augenlider flattern. Hoffnung keimt in mir auf.
»Fünfundsiebzig Prozent. Ich müsste Marcel ausbezahlen. Wir müssen unbedingt die Unterlagen mitnehmen.«
Als wir angekommen sind, wäre ich am liebsten einfach im Auto sitzen geblieben, doch jetzt … geht es mir nicht schnell genug. Ich muss ins Haus. Ein paar Klamotten und persönliche Sachen einpacken und die Verträge rund ums Haus zusammen suchen.
»Komm schon!«, herrsche ich Kerstin an.
Ich habe schon den Griff vom Gartentürchen in der Hand. Kerstin steht immer noch neben dem Auto und schaut abwechselnd mich und das Haus an.
»Von so einem Haus habe ich immer geträumt.«
Ich gehe auf sie zu und lege meinen Arm um sie.
»Es ist nur ein Haus. Ein Haus sagt gar nichts. Eine kleine Wohnung kann viel schöner und gemütlicher sein, wenn die Liebe in ihr wohnt.«
»Hoffentlich hast du recht.«
Ich sehe Kerstin ihre Unsicherheit an. Es ist ihr unangenehm, dass sie sich nicht mehr als ihre kleine Wohnung leisten kann. Ich hingegen bin mir sicher, dass es mir so vorkommen wird als wäre die kleine Wohnung ein nobles Zuhause. Weil ich mit Kerstin dort sein kann.
Außerdem bin ich ab heute quasi obdachlos.
Ich laufe wie ein geölter Blitz durchs Haus und werfe Klamotten, meinen Laptop, Ladekabel und zwei Festplatten in meine Tasche. Dann gehe ich in unser privates Büro und fange an, die Ordner durchzuwühlen.
Irgendwo müssen die verdammten Unterlagen doch sein.
Ich bin aber auch echt bescheuert. Warum habe ich all die Jahre Marcel mit der Aufgabe betraut, den Überblick über unsere Unterlagen zu behalten? Ich hätte mich selbst darum kümmern müssen. Dann wäre ich nicht so planlos.
Meine Herren, haben wir viele Versicherungen. Wir haben echt alles abgesichert. Der Wahnsinn. Nur unsere Ehe, die konnten wir nicht absichern. Sonst hätten wir wahrscheinlich sogar das getan.
»Kann ich dir helfen?«, fragt Kerstin und schaut über meine Schulter auf das Chaos um mich herum.
»Ich weiß nicht. Wohl eher nicht.«
Ich finde die verdammten Papiere nicht. Was, wenn Marcel etwas geahnt und die Papiere weg geschafft hat? In mir kommen ernsthafte Zweifel auf.
Ein letzter Ordner noch und dann alles noch mal von vorne. Hoffentlich kommt Marcel nicht in der Zwischenzeit nach Hause. Ich kann nur hoffen, dass er zu einem Kumpel oder in die nächste Kneipe gefahren ist. Dann ist er erst mal beschäftigt und ich kann in Ruhe weiter suchen.
»Was genau suchen wir?«, fragt Kerstin.
Sie zieht sich einen Stuhl heran und setzt sich zu mir. Ich schiebe ihr einen Ordner zu, den ich vorhin schon akribisch durchsucht habe. Gefunden habe ich nichts. Aber vielleicht bin ich ja auch einfach auf diesem Auge blind.
Kerstin blättert jede Seite einzeln um und überfliegt den Inhalt der Papiere.
Es dauert lange. Sehr lange. Nach drei Stunden haben wir jeden Ordner mehrmals überarbeitet, doch von den Papieren rund um den Hauskauf ist nichts zu sehen.
»Gibt es vielleicht noch einen anderen Ort, an dem dein Mann die Akten abgelegt haben könnte? Einen Safe oder so was in der Art?«
Oh man. Bin ich doof. Ich schlage mir mit der flachen Hand auf die Stirn.
»Das heißt anscheinend ja.«
Natürlich heißt das ja. Hektisch räume ich die Ordner wieder an ihren Platz zurück und laufe los.
Ich weiß, dass es eigentlich nicht nötig ist, aber Marcel neigt in dieser Hinsicht zu paranoiden Ideen. Unsere wichtigsten Unterlagen hat er anscheinend wirklich im Safe untergebracht.
Mit zwei Fingern schiebe ich eine Schranktür auf. Der Safe ist auf dem Boden des Schranks festgemacht.
»Weißt du den Zugangscode?«
Scheibenkleister. Da haben wir das nächste Problem. Natürlich weiß ich ihn nicht.
Ich schließe die Augen und denke nach. Dann gebe ich unser Hochzeitsdatum ins Zahlenfeld. Nichts. Gar nichts. Verdammt. Als nächstes gebe ich meinen Geburtstag und dann seinen an. Wieder nichts. Vielleicht Fietjes Geburtstag? Leider wieder Fehlanzeige. Viele Versuche bleiben mir nicht.
»Gibt es vielleicht einen Schlüssel?«
Natürlich gibt es einen, aber den habe ich seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Also weiter überlegen.
»Was ist der geplante Geburtstermin von eurem Kind?«, überlegt Kerstin laut.
Das könnte es sein. Marcel hat sich so über das positive Testergebnis gefreut, dass es ihm durchaus zuzutrauen ist, dass er den Zugangscode am Safe geändert hat.
Mit zitternden Fingern gebe ich die Ziffern ein. Die Tür springt auf. Ich schaue mit hektisch klopfendem Herzen in den Safe. Der Safe ist voll. Lauter Papiere, unsere Pässe und ein Stapel Bargeld.
Das Geld ist mir egal. Mich interessieren nur mein Pass und die Papiere. Ich hole die vielen Zettel aus dem Safe und lege sie aufs Bett. Kerstin setzt sich zu mir. Meine Aufregung überträgt sich auf sie. Kerstin atmet oberflächlich und schnell.
Ich studiere den ersten Zettel und dann den zweiten. Zettel für Zettel arbeiten Kerstin und ich uns vorwärts.
»Schau mal.«, murmelt Kerstin nach einer Weile und unterdrückt ein Gähnen.
»Kannst du damit etwas anfangen?«
»Das ist es!«, jauchze ich und reiße Kerstin in meine Arme.
»Du bist so toll! Ich liebe dich!«