Narzissmus und narzisstischer Missbrauch sind zwei Paar Schuhe. Wer sich mit dem Thema Narzissmus auseinandersetzt, konfrontativ oder aufklärend, findet sich schnell in einem Spannungsfeld zwischen Opfern narzisstischen Missbrauchs und narzisstischen Tätern wieder.
Ich möchte niemals verharmlosen, was den Opfern narzisstischen Missbrauchs passierte und passiert. In meinem Bemühen, die ganze Breite des Themas zu erfassen, die unterschiedlichen narzisstischen Verhaltensmuster, die gelegentlich anspringen, oder die gefestigten narzisstischen Muster, die dauerhaft und zerstörerisch auf menschliche Beziehungen wirken können, wird mir von Aktivistinnen vorgehalten, Victim Blaming, Täter-Opfer-Umkehr und sogar den »Gaslicht-Effekt« zu nutzen. Das trifft mich, und es trifft nicht zu. Zumal ich selbst aktiv in der Opferhilfe engagiert bin und in der Aufklärung über toxische Führungskräfte auch wissenschaftlich arbeite. Was wiederum deren Widerstand auslöst, weil sie sich ertappt und wiedererkannt fühlen in den Veröffentlichungen, die meine Fachkollegen und ich verfassen, wenn wir über Toxic Leaders berichten. In einem Fall entanonymisierte sich sogar eine Führungskraft und attackierte die wissenschaftliche Abhandlung mit einem Klageverfahren.
Es gibt also Tretminen an beiden Fronten. Denn wir leben in einer merkwürdigen Zeit, in der einzelne Interessengruppen sich stark selbst legitimieren und das bekämpfen, was den Zusammenhalt der eigenen Gruppe – der Opfer und der Täter – gefährdet. Meinungen und Fakten werden gleichermaßen aus dem Weg geräumt, statt den Dialog zu suchen. In einer westlichen, demokratischen und wissenschaftlich denkenden Welt muss es jedoch möglich sein, so differenziert wie nur möglich über das komplexe Thema Narzissmus zu arbeiten, auch in Form von Anekdoten, Fallvignetten, Berichten, Abhandlungen und Büchern wie diesem, ohne von der einen oder der anderen Seite unter Beschuss zu geraten.
Allem voran stehen für mich die Aufklärung, Information und eine Kultur guter Kommunikation. Auch und besonders vor dem individuellen Leid, der Erfahrung und Wahrheit des Einzelnen. Sonst setzt sich die Spaltung fort zwischen den Lagern, wird tiefer, radikaler und degeneriert mehr und mehr zu einem Weltbild, wie ein Narzisst es sieht: aufgeteilt in zwei, die sich bekämpfen, weil sie unterschiedliche Meinungen haben, nur ihre Fakten sehen, verschiedene Rechtsansprüche geltend machen, alles einteilen in Gut und Böse, in Richtig und Falsch und in Schwarz und Weiß.
Das wirklich Böse aber liegt, wie Hannah Arendt sagte, im Banalen. Heute mehr denn je in der Verwirrung durch bewusst gestreute Halbwahrheiten und Unwahrheiten, die die größte Gefahr für unsere Gesellschaft darstellen. Schauen wir also genauer auf das Gewöhnliche in uns und wie wir miteinander umgehen; jede und jeder, soweit es zumutbar ist.
Um erlittene Verletzungen zu heilen, gibt es mittlerweile sehr gute Behandlungskonzepte, für Opfer narzisstischen Missbrauchs und auch für die Täter, von denen sich eine immer größere Zahl bewusst für einen korrigierenden Weg entscheidet.
Missbrauchsopfer werden leicht »getriggert«, und Narzissten reagieren »hyperallergisch«, wenn sie mit ihrer seelischen Verletzbarkeit konfrontiert werden. Es herrschen große Lagerkämpfe um Begriffe, die einer Seite zugehörig sind und der anderen zugeschrieben werden. Dabei muss uns bewusster werden, dass ein narzisstischer Täter oder ein Opfer narzisstischer Gewalt nicht synonym zu verwenden ist für stark selbstbezogene narzisstische Muster, die hin und wieder auftauchen, ohne einen deutlichen Wiederholungscharakter zu zeigen. Beide Lager müssen sehr behutsam mit ihrer Wortwahl umgehen, um nicht unfair zu sein, auch wenn sie selbst großes Unrecht erfahren haben.
Die Wissenschaft2 ist sich heute einig, dass Narzissmus kein starres Phänomen ist, sondern sich von einem »Stil« (maladaptive Akzentuierung) mit noch guter Verträglichkeit und vielen positiven Aspekten bis zu einer sehr seltenen, schweren Störung (Persönlichkeitsstörung) erstreckt und die Grenze zur Psychopathie (leicht bis schwer ausnutzend-impulsiv) überschreiten kann. Von der Norm abweichend betrifft uns alle ein narzisstisches Verhaltensmuster, das je nach Situation, eigener Not, genetischer Ausstattung und Hirnfunktion mehr oder weniger stark ausgeprägt ist.3 Wer narzisstisch ist, kann auch eher histrionisch (narz-/histriotypische Kombination bei Leuten wie mir!), paranoid, antisozial oder borderline sein. Dabei unterscheiden sich gesunde und selbstbewusste Verhaltensweisen der Selbstbehauptung von grenzüberschreitender Selbstbezogenheit, die zerstörerisch für andere ist. Am Narzissmus leiden also meist die anderen, dem Narzissten selbst geht es für gewöhnlich prima damit. Narzissmus ist sichtbar oder verdeckt, großartig (grandioser, dickhäutiger Narzissmus) oder verletzlich (vulnerabler, dünnhäutiger Narzissmus), männlich und weiblich, erfolgreich, erfolglos und gescheitert.4, 5, 6
In der populären Narzissmus-Debatte sollten wir daher sehr darauf achten, in welche Kisten wir andere Menschen packen, denn wer der Voreingenommenheit unterliegt und stigmatisiert, wird sich schwertun, eigens vorgenommene Kategorisierungen wieder aufzugeben oder zu korrigieren. Es ist die Aufgabe der Wissenschaft und deren geduldiges Streben, komplexes menschliches Verhalten in Fakten aufzuschlüsseln. Bringen wir also Geduld auf, denn es gibt berechtigte Hoffnung für beide Seiten, dass Therapie hilft und es eine Zeit nach der narzisstisch-missbräuchlichen Phase gibt, in der sich Opfer und Täter neu begegnen können.