1.
Fix und fertig. Chucks an, Hut auf, Rucksack gepackt, jetzt nur noch schnell frühstücken und dann free. Jella versuchte, die steinharte Butter auf der Scheibe Brot zu verteilen, die sich dabei leider in sämtliche Einzelteile zerlegte, nur noch gehalten von den hartnäckigsten Teigfetzen. Vier Tage mit den besten Freunden und ohne, absolut ohne Aufsichtsperson bei Rock am Ring. Etwas Besseres konnte sich Jella im Moment nicht vorstellen. Etwas Besseres gab es nicht. Vier Tage ohne dieses beständige Chaos hier, ohne ihre Mutter mit ihrem Splatterfilm, den sie gerade ausstattete und wegen dem sie seit Monaten tote Tiere mit stieren Glasaugen überall in der Wohnung stapelte. Wildschweinköpfe, Hirschschädel und Geweihe, ein Fuchs mit nur noch einem Ohr. Dieses Wochenende war das große Finale in der Jagdhütte dran, in der sich Werwölfe versteckt hatten und dort sehr blutig umgebracht werden sollten. Gerade schleppte sie die Tierkiste an Jella vorbei, rutschte aber auf einem blinkenden Rollsneaker ihrer Sis aus, fiel auf den Hintern und dabei platzte eine Tüte Kunstblut. Beständiges Chaos.
»Violetta!«, schrie Stine, und Jellas Halbsis kam mit großen Augen aus dem Bad und war wie immer an nichts schuld. Beständiges Chaos. Nichts wie weg.
Jella starrte auf das Frühstücksangebot auf dem Tisch. Salami mit welligen Kanten oder Omas Saftmarmelade. Wurst oder Marmelade? Sie entschied sich für Marmelade und ließ sie direkt aus dem Glas auf ihr Fetzenbrot tropfen, während ihre Mutter sich seufzend auf einen Stuhl neben sie fallen ließ und versuchte, das Blut abzuwischen.
»Mann, wir haben sowieso viel zu wenig von dem Zeug, hoffentlich konnte Kajo noch was über die Ostconnection auftreiben.«
Jella versuchte, das Brot so zu falten, dass die Marmelade gefangen war, beugte sich weit über den Teller und biss hinein.
Es floss, spritzte und tropfte, alles über die Hände, der ganze Mund verschmiert, Sauerei. »Kack!« Jella versuchte verzweifelt, die Marmelade zu besiegen, aber dann passierte dieses Zeitlupending, das irgendwie schneller ist als man selbst und wo man nicht eingreifen kann, obwohl es doch eigentlich so langsam ist. Ein riesiger Marmeladenklecks spritzte vom Brot weg, flooooog in weiter Kurve auf Jella zu, änderte dann, durch die Erdanziehung bedingt, die Richtung und landete mitten auf ihrer Hose. Zeitlupe Ende. Dazu muss man sagen, dass es Jellas Lieblingshose war, in der sie ihrer Meinung nach am allerbesten aussah. Mehrere Wochen extra nicht getragen, damit zum richtigen Zeitpunkt sauber. Alles umsonst! Und außerdem war Jellas Lieblingshose besonders saugfähig. Knallroter Marmeladefleck allererster Güte. »Scheiße, verdammt!«
»Hihi, Mutter und Schwester, die Blutmonster, waaaah!« Die Sis hatte Spaß. »Vergiss nicht ein Foto vom Poohbär zu machen, wenn der auftritt! Du musst ganz nah ran, ja?«
Jella schnaubte verächtlich und versuchte, den Fleck mit dem Küchenhandtuch zu besiegen, was alles noch schlimmer machte.
»Bestimmt nicht!« Der Poohbär sang für kleine, elfjährige Mädchen wie die Violetta-Sis. Ein dämlicher Typ im Bärenkostüm, Kopf immer schaukel, schaukel, hin und her, der Poohbär.
Puhbär.
»Bütte, bütte, Jella!« Die Sis kam ganz nah und schaute ganz lieb, aber nichts zu machen bei Jella im Moment, der Fleck würde nie wieder rausgehen, Ei, Blut, Kakao. Sie schaute auf die Uhr. Noch etwas Zeit. Sie wollte eigentlich extra früh los, lieber früher, um den Zug nicht zu verpassen. Den nicht. Da durfte nichts dazwischenkommen. Null Komma null.
Monatelang hatte sie dafür gearbeitet, um das Geld zusammenzukriegen, weil Stine nie welches hatte. Deswegen auch der Splatterfilm, Hauptsache Kohle.
Für BFF Bella war das nicht so ein Problem. Die Eltern stinkreiche Architekten, zahlten so was aus der Portokasse. Zahlten alles, nur nicht das Futter für Sportsfreund, Bellas geliebte Ratte. Mutter Zilli konnte Ratten nicht ausstehen, bekam sofort Pusteln auf der glatten, kalkweißen Haut. Bella konnte sich die langen blonden Haare pechschwarz färben oder drei Mathefünfen hintereinander anschleppen, wen scherte das, aber diese Ratte! Nur, dass Bella ohne Sportsfreund nicht leben konnte, das war nun mal so.
Der schöne Lasse hatte Geld auf seinem Konto gespart. Genau für solche Anlässe. Für solche grandiosen Ideen.
Und die stammten immer von MCFitti, dem Vierten im RaR-Bunde. Eigentlich Alex, aber jetzt mit dem roten Bart und der schrillen Sonnenbrille eben wie sein Vorbild. »Was haltet ihr davon, wenn wir zu Rock am Ring fahren?« Man könnte meinen, aus heiterem Himmel, andererseits hatte er gelesen, dass MCFitti im Jahr davor da aufgetreten war. Und so ist er vielleicht dann drauf gekommen. Alle sofort Feuer und Flamme!
Auch Fitti musste sich das Geld verdienen, aber kein Problem, weil seine Mutter Betriebsrätin in der Papierfabrik war, da gab es immer was zu tun. Vier Freunde, vier Tage: passte genau!
Jella sprintete in ihr Zimmer, hörte noch das Telefon klingeln, dachte sich nichts dabei, zerrte alle Hosen raus, welche, welche, welche? Sie entschied sich schließlich für die Boyfriend, aber da musste dann auch noch ein anderes T-Shirt her. Wo war denn das blaue, verdammt? Stine plärrte irgendetwas ins Telefon, dann war es wieder leise, dann ein anderer Tonfall. Aber noch immer aufgeregt. Was war los? Jella entschied sich für ein Shirt und in der Küche schrie die Sis wie am Spieß. Sie stritten mal wieder, beständiges Chaos, juckte Jella aber nicht, sie würde gleich verschwinden. Auf dem Weg zum Bahnhof und mit dem Zug davon. Weit weg. Lebt wohl, erst mal!
Ein Gürtel. Schön, diese Gürtel mit Nieten, aber man konnte sie nicht durch die Schlaufen ziehen, blieben ständig hängen, das dauerte Stunden. Wer hatte da mal wieder nicht mitgedacht? Den würde Jella gerne mal sprechen, am liebsten jetzt, dann würde ihm Hören und Sehen vergehen. Sie schaute in den Spiegel. Zweitbestes Outfit, okay. Hut auf japanischen Stangenhaaren, pechschwarz, kerzengerade.
»Dabei war dein Vater blond und lockig – ich schwöre!« Vielleicht war ihr Vater ja gar nicht ihr Vater. Bei Stine konnte man das nicht wissen. Der, von dem sie es zumindest behauptete, war ein blonder, lockiger und direkt nach Jellas Zeugung verschwundener Stuntman. Jetzt in Neuseeland. Auf jeden Fall war Jella die Einzige mit diesen Haaren und auch der riesige Herzformmund kam sonst nicht in der Familie vor.
Jella machte »Quak«, weil das mit Herzformmund besonders gut geht, und schaute auf die Uhr. Höchste Eisenbahn. Geiles Wortspiel dachte sie noch, dann stand sie vor ihrer blutverschmierten Mutter. Das Gesicht irgendwie blass und die Sis total verheult. »Du kannst nicht fahren, Jella.«
Wie bitte? Was war denn das für eine Art von Humor? »Paula hat die Masern, ich kann Violetta da jetzt nicht abgeben und muss gleich los, ich muss die ganze Jagdhütte noch einrichten, es tut mir leid, Schätzchen, du musst hierbleiben!«
In Jellas Kopf riss eine Gitarrenseite mit lautem Knall. »Auf keinen Fall, niemals. Was ist mit ihrem Scheißvater?«
»Papa ist auf den Malediven!«, heulte Violetta, auf die Art, wie nur sie heulen konnte, laut und die Tränen wie im Comic, spritzten nach allen Seiten. So kam es einem wenigstens vor.
»Jojo? Diese Zina, oder was ist mit Becky?«
Stine schüttelte den Kopf. »Haben wir alle schon vorher abgefragt. Paula war eh die letzte Hoffnung!«
»Ich will aber nicht mit Jella hierbleiben!«, kreischte die Sis.
»Musst du auch nicht!« Jella schulterte ihren Rucksack. »Ich fahre nämlich. Und zwar jetzt!«
Stine stellte sich vor die Tür. »Das tust du nicht. Es ist ein Notfall! Jella! Schätzchen!«
»Ich bin nicht dein Schätzchen!« Jella schrie. Das konnte jetzt nicht die Wahrheit sein. Das gehörte irgendwie zu Stines Splatterscheiß oder in eine andere Welt, einen Albtraum, auf jeden Fall nicht ins Hier und Jetzt. »Dann musst du sie halt mitnehmen!«
Stine packte Jella am Arm und kam viel zu nah ran. »Der Film ist ab achtzehn«, zischte sie, »und die Dreharbeiten auch, das kannst du mir glauben!« Dann ließ sie Jella los, ging ein Stück zurück und legte den Kopf leicht in den Nacken. Bekannte Haltung. Kam nicht oft vor, aber wenn, bedeutete sie: Nichts geht mehr! »Du bleibst hier und passt auf deine kleine Schwester auf!«
Jella hasste sie. Stine und ihre kleine Schwester, die noch nicht mal richtig echt war. Nur halb. Sie ließ den Rucksack fallen, stampfte zurück in ihr Zimmer und knallte die Tür zu.
»Sie wird mich umbringen, Stine!«, heulte Violetta, und sehr gut möglich, dass das diesmal nicht eine ihrer Übertreibungen war. Dann knallte auch ihre Tür.
Jella warf sich aufs Bett. Vergrub das Gesicht im Kissen und ließ das Blut durch ihre Ohren sausen, sich dann in den Nasennebenhöhlen sammeln und dort diesen Druck erzeugen, der immer entstand, wenn sie sich aufregte. Noch nie so stark wie jetzt. Ihre Mutter wusste ganz genau, was ihr diese vier Tage bedeuteten! Mit ihren besten Freunden in Zelten übernachten, frei sein, geile Musik live hören und vor allem PerLe, PerLe würde dort auftreten und Jella konnte sie wieder nicht sehen. Wie schon vor einem halben Jahr, auch wegen der verdammten Sis. Aber Stine war das egal. Immer nur die Arbeit, die Kohle, sie selbst. Stine war jetzt zufrieden. Sie hatte das Ding geregelt und konnte sich konzentrieren.
»Tschüss, ihr zwei, Geld für Essen liegt auf dem Tisch, ich melde mich!«, rief sie zum Abschied, und die Wohnungstür fiel ins Schloss. Vielleicht war sie gar nicht Stine, die liebende, fürsorgliche Mutter, lol, sondern einer dieser gefühlskalten Werwölfe, die ihren Opfern das Herz aus dem Leib rissen? Wie konnte sie Jella das antun? Wie, wenn nicht ein Herz aus Stein und Grausamkeit in ihr klumpte?
Außerdem, die Sis war elf. Und aufpassen konnte man auf die sowieso nicht. Hatte die Gene definitiv nicht von ihrem Spießervater in seinem Reihenhäuschen, derzeit Malediven. Jella würde das ganze Wochenende mit dem Gesicht im Kissen liegen. Zumindest bis ihr Handy klingelte, da setzte sie sich auf und ging dran.
»Hey, wo steckst du, der Zug fährt gleich ab? Sag bloß nicht, du hast verschlafen!« BFF Bella höchst aufgeregt. Verschlafen! Jella hatte die ganze Nacht kein Auge zugetan, damit sie den Wecker nicht überhören würde. »Ich kann nicht mit, muss bei Violetta bleiben!«
Stille. Dann: »Nicht wahr. Jella, sag, dass das nicht wahr ist!« Bella wartete keine Antwort ab, sondern verkündete den anderen die dramatischen Neuigkeiten. »Und PerLe? Und die ganze Arbeit? Und überhaupt, wie kann Stine dir das antun?«
Jemand presste Jellas Kehle zusammen, drückte zu, Luft weg, sie konnte kaum sprechen. »Sie kann das einfach.« Rau und leise.
Es knisterte und dann war Fitti am Apparat. »Jellantine, bitte, das kannst du nicht machen, ich hab mich so gefreut! Ohne dich ist das doch alles scheiße!«
Kehle auf, dafür jetzt echte Tränen. »Sorry … es ist einfach zum Kotzen.«
»Wir müssen uns was überlegen, hey, das lassen wir uns nicht gefallen. Denk an PerLe, wir sind zu groß für diese Welt, heißt es nicht so?«
Jella musste trotz allem lächeln. Fitti, der Süße, der uralte Freund aus Kindertagen. Er kann nichts anfangen mit PerLe, aber er kennt die Sätze, die Jella wichtig sind.
»Jellantine, ohne dich fahren wir auch nicht!«
»Quatsch, du Pfosten …!«
Da kam der Pfiff, das Piepen, wenn die Türen zugingen, der Zug fuhr ab. Ohne Jella.
»Trink ein Bier für mich mit!« Sie legte auf. Wischte die Tränen weg. Starrte auf das Poster von PerLe. Wild auf der Bühne, Faust in der Luft. »Nichts, was uns hält, nichts, was uns hält, verdammtes Herz, wir sind zu groß für diese Welt! Zu groß für diese Welt!« Und plötzlich war alles ganz klar. Jella stand auf, zog sich den Hut tief ins Gesicht, verließ ihr Gefängnis und klopfte bei der Sis. »Hey, pack ein paar Sachen, beeil dich, wir fahren.«
Sofort wurde die Tür aufgerissen, verheultes Gesicht, große Kleinmädchenaugen. »Wohin?«
»Zu Rock am Ring, wohin sonst, los, zack, zack!«
»Scheiße, du meinst, in echt?«
»In voll echt, los, zieh dir was an!«
»Ja, klar, Moment, bin gleich fertig, eine Sekunde!«
»Siiiiis!« Es reichte! Konnte ja wohl nicht so schwer sein, ein paar Klamotten einzupacken. Jella pfiff schrill auf den Fingern.
»V-i-o-l-e-t-t-a!«
»Was denn, bin gleich fertig!« Die Sis hängte ihren Kopf aus dem Badezimmerfenster im vierten Stock und wedelte mit ihrem Kulturbeutel. »Hab’s gleich!«
»Hey, wir fahren auf ein Festival, nicht in die Oper. Da gibt’s wahrscheinlich eh keinen Spiegel.«
Violetta schwenkte einen Handspiegel. »Deswegen ja. Weißt du eigentlich, wie viele coole Jungs sich da rumtreiben, Jella, klar, dir ist das egal, aber …!«
Jella brüllte. »Du hast noch genau zehn Minuten, dann kommt der Bus. Wenn du deinen Arsch bis dahin nicht hier runterbewegt hast, fahre ich alleine!«
Die Sis knallte das Fenster zu und ein uralter Mann blieb stehen und musste auch noch was dazu sagen: »Ihr könnt doch hier nicht so rumschreien, es gibt ja auch noch andere Leute!«
»Gehen Sie einfach weiter und schon hören Sie es nicht mehr!« Jella schulterte ihren Rucksack. Bereit. Der Krawattenheini von der Plakatwand gegenüber zeigte ihr sein ewiges Zahnweißlächeln. Es war nicht klar, warum er schon seit Monaten dort hing und verkündete: »Sie entscheiden – wir versichern!« Warum er für immer da hängen würde und diesen Mist in die Welt posaunen. Warum ausgerechnet dieses Plakat nicht ausgetauscht wurde. Hatte sich jemand entschieden, die Plakatwand zu vergessen? Oder wurde diese Botschaft für so wichtig gehalten? Mitarbeiter des Jahres vielleicht? Jella stellte sich mit dem Rücken zum Plakat, schoss ein Selfie, Zahnpastalächeln, konnte sie auch, und schickte es an BFF Bella. Bella im Zug. Bella mit den anderen. Bequem, schön Bier, locker einschwingen auf das beste Wochenende, das jemals gefeiert wurde. Neben ihr ein Platz frei, auf dem Jella hätte sitzen sollen. Hätte, hätte, fette, fette!
»Sie entscheiden – wir versichern – ich komme!« Selfietext.
Noch drei Minuten. Die Sis wusste doch genau, dass Jella nicht ohne sie fahren konnte.
»Da haben wir Verantwortung!« Stines Lieblingssatz.
Wir? Jella hatte nicht mit Spießermichael gevögelt und sich eine Zukunft vorgelogen. »Wo ein Häschen, da ein Gräschen!« Ja, Stine, und ich spiele die Kinderschwester. Jella trat gegen die Mülltonne.
Der Bus. Langsam rollte er um die Ecke. Da würde die Sis Augen machen, wenn Jella weg wäre und sie schauen müsste, wo sie mit ihrem Kulturbeutel blieb. Was für ein Scheißwort überhaupt. Was hatte ein Deoroller mit Kultur zu tun?
SMS von Bella. »Jaaaa, du kommst, du musst, beeil dich, wir warten auf dich. Denk an PerLe! Luv u!«
Der Bus hielt an. Türen auf. Jella schnaubte und marschierte los.
»Warte, warte auf mich!« Die Sis kam mit einer riesigen Tasche aus dem Haus, zerrte sie hinter sich her, die aschblonden Haare zum Hupenknubbel mitten auf dem Kopf, so wie sie das schön fand und dachte, besonders erwachsen auszusehen.
»Mach hin … Moment, warten Sie, meine Schwester kommt gleich!«
»Zeitplan … könnte ja jeder … gibt ja auch noch andere Leute!« Warum reden die Alten immer von den anderen Leuten? Und wenn schon, gehört Jella etwa nicht zu denen?
»Beeil dich, los, scheiße noch mal!«
»Ich kann nicht so schnell mit der Tasche!«
Tür zu, Bus weg.
»Boah, das tut mir jetzt leid, Jella, aber zehn Minuten, da war ich drin, gib’s zu!«
Jella drehte sich von ihr weg und studierte den Fahrplan. Zwanzig Minuten. Sie seufzte und ließ sich auf einen der angekokelten Plastikstühle fallen.
»Hey, sei nicht sauer, ja? Wir kommen schon da hin! Wie eigentlich? Mit dem Bus?«
Jella blitzte die Sis an und klopfte auf den Stuhl neben sich.
»Ich erklär dir das jetzt ein Mal und du speicherst das gefälligst ab, weil ich sag’s nicht noch mal.«
Violetta verdrehte die Augen gen Himmel.
»Ich hätte zusammen mit meinen Leuten sechs Stunden mit dem Zug zum Festival gebraucht. Da kann ich aber jetzt nicht mitfahren, weil deine Scheißfreundin angeblich Masern hat.«
»Paula lügt doch nicht. Klar hat die Masern, sonst würde die das nie absagen. Weißt du, was wir alles vorhatten? Heute zum Beispiel …!«
Stechender Blick. Okay, okay.
»Deswegen trampen wir und dafür braucht man defi länger. Man kann nämlich nicht mit jedem mitfahren, klar? Also: keine Lkw-Fahrer, keine Pkws, in denen nur ein Typ sitzt. Ich entscheide, wo wir einsteigen. Wenn ich heute Abend nicht mit einem Bier in der Hand auf dem Campingplatz bei den anderen hocke, bringe ich dich um. Verstanden?«
Die Sis grinste. »Defi … was für ein bescheuerter Ausdruck.«
»Wenn Stine anruft, chillen wir gerade vor dem Fernseher oder sonst irgendwas. Wir sind auf jeden Fall brav zu Hause und alles ist top. Klar?«
»Ich bin ja nicht blöd.«
Jella lehnte sich an ihren Rucksack und schloss die Augen. Nein, blöd war sie nicht, die Sis. Unerträglich, verstrahlt, klein. Aber nicht blöd.
»Ich hab das Essensgeld vom Tisch mitgenommen. Ist ja egal, wo wir es verfressen, oder? Aber es reicht bestimmt nicht für eine Eintrittskarte, oder, Jella? Ich meine, wie komme ich denn da rein?«
Nicht blöd. Aber darüber konnten sie sich auf der Fahrt Gedanken machen. Die würde ja lang genug dauern. Noch länger jetzt. Erst mal los. Nach einer Ewigkeit kam endlich der nächste Bus. Jella schubste die Sis die Treppe hoch. Hauptsache, drin. Jella zahlte und die Sis quetschte sich in eine Sitzreihe, versperrte mit ihrer Tasche den Gang, stürzte sich auf ihr Handy und tippte wild drauflos. »Das muss ich unbedingt den anderen schreiben, dass ich zu Rock am Ring fahre, wie geil ist das denn, da träumen die alle von, aber ich, ich mach das!«, quiekte die Sis, als Jella sich neben sie fallen ließ. »Ich sehe den Poohbär!«
»Das schreibst du gar keinem!«
»Ach, Jella, warum bist du denn so muffig? Das wird doch jetzt voll das Abenteuer, da muss man strahlend durchgehen …!«
»Du schreibst das niemandem, verstanden! Das darf keiner wissen!«
»Alles klar, alles klar!« Tröstendes Klopfen auf Jellas Bein. Liebes Lächeln mit dunkelblau glitzernden Lidschattenkleinmädchenaugen. »Jetzt mal ehrlich, ich kann doch auch nichts dafür, dass ich dabei bin!«
Jella zog sich den Hut tiefer ins Gesicht. Die Sis konnte nichts dafür? Wer denn sonst? Wegen ihr hatte Jella die anderen nicht wie ausgemacht am Gleis getroffen. Großes Hallo, wie viel Bier hat wer dabei, wer schläft mit wem im Zelt, welche Bands müssen unbedingt gesehen werden und wer schlägt wen im Handflächentischtennis! Bitte einsteigen, Vorsicht bei der Abfahrt! Bierwettbewerb mit Fitti, der durchgeknallte Arsch. Auch möglich, gar nicht hinsetzen, sondern das Großraumabteil rocken! Die Sis war schuld, und Stine. Und der Krawattenheini? Keine Versicherung, bloß Zahnpastalächeln. Vielleicht hing er so lange da, damit irgendwann jemand seine Lügen aufdecken konnte? Erwischt wegen Versicherungsbetrug.
»… und soll ich dir mal was sagen? Wenn du den Poohbär erst mal live gesehen hast, dann verstehst du, was ich meine, das Durchgeknallteste, was du je gehört hast!«
Jawoll. Der Poohbär! Das wäre auf jeden Fall schon mal Auftritt Nummer eins gewesen, den Jella hätte ausfallen lassen, wenn …!
»Zina hat den schon mal live gesehen, voll abgefahren in seinem Puschelkostüm, obwohl der natürlich in Wahrheit total geil aussieht, der ganze Body ein einziger Muskel, der ist bestimmt jeden Tag vier bis fünf Stunden dran, und weißt du, wie der in echt heißt …?«
Ohren auf Durchzug. Draußen die Stadt im Schnelldurchlauf. Grau und bunt und alles auf einmal. Auf Wiedersehen in vier Tagen.
Der Autobahnzubringer staubte von der Hitze, die über allem stand. Müll, hohes Verkehrsaufkommen. Jella ging vorneweg. Nicht gerade ihr Spezialding, Trampen, aber der Verstand sagte ihr, dass sie zumindest eine Einbuchtung brauchten, damit derjenige, der sie mitnehmen wollte, auch anhalten konnte. Die Sis, ihre Tasche mit den Tragegriffen geschultert, hinter ihr her, hatte aufgehört zu reden. Das war selten. Jella studierte noch einmal die Route auf ihrem Smartphone. Erst mal A2.
PerLe: »Scheißegal, Mann, was du tust, du musst’s nur tun und dann – tutut-tunlichst nichts anderes, du tust, was du tust … scheißegal, Mann, was du …«! Jellas Klingelton.
»Hallo?«
»Hey, wo steckst du?« Bella, im Hintergrund die Stimmen der anderen durcheinander.
»Auf dem Weg zur Autobahn. Gleich werde ich mal den Daumen raushalten!«
Die Sis mischte sich von hinten ein. »Hey, Jella, gehen wir eigentlich zu Fuß zum Festival, oder was?« Außer Atem.
»Du hast doch nicht etwa Violetta dabei?«
»Bleibt mir ja wohl nichts anderes übrig. Ich krieg das schon hin!«
Bella schnaubte und schnalzte mit der Zunge. »Na, das wird ja was. Sportsfreund ist auch schon ganz aufgeregt!«
Klar, Sportsfreund konnte nicht zu Hause bleiben. Hätte sofort als Käse getarntes Rattengift im Näpfchen.
»Hey, dabei sein ist alles, oder?«
»Klar, Jella, dabei sein ist …!«
»Ha-Ho-He-Hertha BSC, ha-ho-he …!«
»… boah, diese Fußballfans. Hey, Jella, du fehlst hier im Zug!«
»Jellantine!« »Prost!« »Hey, pass auf mit dem Bier … bah!« »Sind wir Ringrocker?« »Wir sind Ringrocker!«
Okay. Die Stimmung war gut, wie sollte es auch anders sein? Ein vorbeidonnernder Laster hüllte Jella in eine Staubwolke. Hustenanfall. »Ihr fehlt mir auch hier auf der Autobahn!« Obwohl, eigentlich nicht, noch drei Leute mehr, das wäre ja quasi der Todesstoß. Hallo, hallo, wer hat Lust, uns fünf nette, junge Menschen in sein Auto zu stapeln?
»Scheiße … Jella … ich hör dich nicht richtig …!«
»Bella?«
Ein Wohnmobil rollte langsam an Jella vorbei und hupte.
»Was denn, du Arsch, man darf ja wohl noch hier langlaufen!«
Die Sis beugte sich aus einem der Fenster und winkte Jella grinsend zu. »Ich fahr schon mal vor!«
»Hey!« Jella schrie. Gibt’s doch nicht, die Sis ist doch voll durch, hört die eigentlich nicht zu? Die kann doch nicht einfach irgendwo einsteigen!
»Bella, ich melde mich später …!«
»Was ist los bei euch?«
»Hölle!«