2.
Jella rannte dem Wohnmobil hinterher, wedelte mit beiden Armen in der Luft und schrie sich die Seele aus dem Leib. »Anhalten, sofort, oder ich hole die Polizei, hey, anhalten!«
Der Fahrer hupte fröhlich. Jella konnte nicht mehr und musste stehen bleiben. Seitenstechen, verschwommene Sicht. Scheiße. Verschwommene Bremslichter. Das Ding stoppte in einer Seitenbucht. Nach den Bremslichtern jetzt die Warnblinkanlage, winke, winke, Jella, komm! Stocksauer stapfte sie zu dem Wohnmonster und riss die Tür auf. »Steig aus!«
Die Sis saß grinsend zwischen drei Minikindern und verteilte Marshmallows.
»Winke, winke, Jella!« Alle winkten.
»Steig sofort aus!«
Ein nettes, sehr breites Frauengesicht beugte sich über den Vordersitz nach hinten und lächelte Jella freundlich an. »Wir nehmen euch ein Stück mit!«
»Danke, aber …!«
Die Sis kam zur Tür und steckte Jella eines der Gummiteile in den Mund. »Jetzt los, dann kommen wir wenigstens voran. Die sind total nett!«
»Ja, wir sind total nett!«, krähte eines der Kinder.
»Warum ist die Frau nicht nett?« Ein anderes.
»Das ist ein Mädchen und sie ist bestimmt nett, Linchen, sie ist nur vorsichtig und das ist ja auch gut so.« Die Mutter lächelte immer noch.
»Karl hat gepupst!«, schrie der Älteste der drei und hielt sich die Nase zu. Karl konnte dazu noch nicht viel sagen. Dafür meldete sich der Mann vom Fahrersitz zu Wort. »Also, können wir?«
Die Sis zog die Augenbrauen hoch, eine Spezialität der Familie, Jella seufzte und stieg ein. »Wo fahren Sie hin?«
»Köln und ihr wollt zu Rock am Ring, hat deine Schwester schon erzählt. Such dir einen Platz, man darf während der Fahrt nicht stehen.«
Jella setzte sich auf einen Klappsitz direkt hinter dem Fahrer. Köln war gut. Vielleicht konnten sie ja sogar den Zug noch einholen. Dachte sie, bevor sie merkte, dass das Wohnmonster entweder nur hundert fahren konnte oder der Vater sich nicht schneller traute. Sie tuckerten auf der rechten Spur dahin. Immerhin auf der Reise. Endlich! Draußen die karge Autobahnlandschaft, drinnen die Sis zwischen drei Kindern, Jella gegenüber. Die lächelnde Mutter war in Plauderstimmung. »Also ehrlich gesagt haben wir uns schon gewundert, als deine kleine Schwester da am Straßenrand stand. Da denkt man ja gleich, die will abhauen oder so was, andererseits muss man sich ja dann erst recht kümmern, so ein kleines Mädchen da ganz alleine, stimmt’s, Steve?«
Wenn Fitti jetzt da gewesen wäre, hätte Jella mit ihm gewettet, dass der Typ in echt Stefan hieß, einfach Stefan.
»Ich hoffe, dass eure Eltern wissen, wo ihr euch rumtreibt. Also, ich würde das nicht erlauben.«
»Na ja, also, wir haben nur eine Mutter, die passt auf uns auf, weil unsere Väter es mit ihr nicht ausgehalten haben!«
Jella warf ihrer halben Schwester einen ihrer Meinung nach sehr eindeutigen Blick zu. Halt die Klappe! Aber Violetta machte ihr unschuldiges Fragezeichengesicht und redete weiter.
»Jellas Vater ist schon vor der Geburt abgehauen, aber meiner ist noch da, nur im Moment auf den Malediven mit seiner neuen Frau und dem neuen Kind.«
Jella saß mit dem Rücken zu den Eltern, aber sie konnte fühlen, wie sie sich einen Blick zuwarfen. Mitleid mit diesen armen Mädchen aus derart ungeordneten Verhältnissen.
»Aber die Mutter, die auf euch aufpasst, weiß, dass ihr hier seid?«
»Natürlich!« Jella versuchte, der Sis gegen das Bein zu treten, die Kinder fanden das lustig und traten zurück, ein lustiges Tretespiel.
»Mama muss arbeiten! Die macht immer die Deko bei Filmen und diesmal geht es um Werwölfe und wie die in einer Jagdhütte umgebracht werden, voll brutal, mit Köpfe ab und dann das ganze Blut, aber da ist noch ein Problem …!«, plapperte Violetta weiter.
»Na, dann ist es doch schön, dass sie euch zu dem Festival fahren lässt«, unterbrach die Mutter sie schnell, weil die Kinder das auf keinen Fall hören durften, sonst war die Seele für immer kaputt.
»Na ja«, fand der Vater, »aber Zug wäre vielleicht sicherer gewesen!«
»Ja, das stimmt. Mama hat uns auch beiden eine Karte gekauft, aber dann haben wir den verpasst und wir wollen doch so gerne dahin!« Die Sis konnte so geil lügen. Musste man aufpassen!
Der kleine Pupskarl stand auf und kletterte auf Jellas Schoß, um ihren Hut zu kriegen. Er durfte ihn aufsetzen und alle lachten. Mutter machte ein Foto. Jetzt wollten die anderen beiden den auch aufsetzen und Jella wollte wissen, wie der Älteste hieß. Linchen, Karl und …?
»Benjamin!« Die Mutter kicherte. »Wir fanden das lustig, den ersten Benjamin zu nennen, das ist ja sonst immer der Kleinste, der so heißt, aber wir …«, sie prustete stolz, »… wir haben das einfach andersrum gemacht, stimmt’s, Steve?«
Stefan konnte nicht antworten, weil der lustige Benjamin jetzt Pipi musste, und zwar auf der Stelle, also wieder rechts ran. Jella hätte eher vermutet, dass Karl mal raussollte, weil er jetzt auf ihrem Schoß schon wieder gepupst hatte, aber bei ihm war es egal, wegen Windelschutz.
Als sie endlich wieder auf der Autobahn entlangschlichen, war viel zu viel Zeit vergangen und viel zu wenig Strecke geschafft. Linchen kletterte neben Karl auf Jellas Schoß und sie wunderte sich. Kinder standen anscheinend auf nicht nette Mädchen, die sich fest vornahmen, bei der nächsten Gelegenheit die Mitfahrgelegenheit zu wechseln.
Die Mutter strahlte. »Na, du kannst aber gut mit Kindern. Möchtest du später auch mal welche?«
Bevor Jella auch nur anfangen konnte, über die Antwort nachzudenken, plapperte die Sis schon wieder drauflos.
»Könnte schwierig werden. Wenn man Kinder haben will, muss man Sex mit einem Mann machen, und Jella steht nicht besonders auf Jungs.«
Wenn Jella die Sis jetzt umbringen würde, wäre sie dann schuldig im Sinne der Anklage? Darf jemand ungestraft so ein Zeug erzählen? Die Mutter hörte auf zu lächeln, wahrscheinlich, weil die Kinder das Wort Sex nicht hören durften.
»Nur weil jemand nicht andauernd irgendwelche Typen knutscht, heißt es noch lange nicht, dass er nicht auf sie steht.« Knurrantwort.
»Richtig«, beeilte sich die Mutter und wollte gerade das Thema wechseln und übers Wetter reden, aber die Sis war noch nicht fertig.
»Aber wenn jemand gar keine Typen knutscht …«
»Was ist knutschen, Mama?«
»Das ist, wenn Mama und Papa sich einen Kuss geben, Linchen.«
Und die probierte das gleich mit Karl. »Karl und ich knutschen, Karl und ich knutschen!«
»Bäh!«, machte Benjamin.
»Also, was ich sagen wollte …«, übernahm die Sis wieder das Kommando, wurde aber vom Vater jäh ausgebremst.
»Deine Schwester wartet wahrscheinlich auf den Richtigen. Und jetzt Schluss mit der Debatte!«
Violetta grinste und ignorierte Jellas Töteblick so was von. Sie liebte es, Jella mit diesem Thema aufzuziehen, und noch mehr, vor anderen. Weil sie wusste, wunder Punkt irgendwie. Scheiß drauf.
War doch egal, wann man damit anfing. Nur weil Bella schon drei sogenannte Beziehungen hinter sich hatte! Und? Immer der gleiche Mist. Erst flauer Magen, scheeler Blick, nichts mehr essen können, dann großartige, weltumfassende Liebe, die etwas später irgendwie verschwand, und schon wieder nichts mehr essen können, scheeler Blick, diesmal traurig und wochenlang auf Trauerstation.
»Aber man muss es doch ausprobieren«, fand BFF Bella. »Hast du da gar keinen Bock drauf?«
Hatte Jella nicht. Aber weil alle sagten, man sollte, irgendwann den schönen Lasse geküsst, der eine Zeit lang eindeutig auf sie stand.
»Das ist ja das Krasse«, jammerte Bella immer, »die fahren alle voll auf dich ab und dann direkt gegen die Wand! So eine Verschwendung!«
Der Kuss war hart und hektisch gewesen. Kein Gefühl bei Jella, nichts von dem, was die anderen immer beschrieben und so unbedingt haben wollten. Versuchsreihe beendet, Lasse musste sich wohl oder übel entlieben.
Jella starrte gedankenverloren aus dem Fenster, der kleine Karl war auf ihrem Schoß eingeschlafen und Linchen zur Sis gewechselt. Da war es nicht so langweilig. »Was machst du?«
»Schreibe SMSe.«
»An wen?«
»Gerade an Paula, davor an Zina und danach an Becky.«
Jella warf ihr einen warnenden Blick zu.
»Nur so«, beruhigte die Sis sie, und Jella fragte sich, warum das nichts half. Bei der Sis konnte man eben nie wissen.
»Soll ich eure Lieblingsmusik anmachen?«, fragte die Lächelmutti. Linchen und Benjamin schrien Jaaaaaa, und Violetta hätte auch mitgeschrien, hätte sie gewusst, dass die Lieblingsmusik der Poohbär war.
»Seht doch hin und seht doch her, für euch und immer der Poohbär!«
Alle sangen mit und wackelten dabei bärenmäßig hin und her. Während die Sis erzählte, dass sie ihn morgen auf dem Festival sehen würden, und die beiden Kinder vor Begeisterung kreischten und jetzt auch unbedingt zu Rock am Ring wollten, lehnte Jella ihren Kopf an die Scheibe und versuchte, untermalt von kleinen Karlpupsen, verzweifelt an etwas Schönes zu denken. Ihre Freunde, Rock am Ring, Soleil. Immer mal wieder Soleil, seit fast einem Jahr.
»Seht doch hin und seht doch her, für euch und immer der Poohbär!«