Arthur Capel war verheiratet. Er hatte die Ehe mit der reichen Bergwerkserbin in aller Stille geschlossen, ohne Gabrielle damit zu behelligen. Boy und Coco liebten einander weiterhin. Ihre Liebe war eine Naturgegebenheit, so wie Wasser abwärts floss und im Herbst die Blätter fielen. Aber ihre Liebe war in die Jahre gekommen. Boy war äußerlich unverändert, doch Gabrielle sah in ihm nun einen Ehemann, der seine Ehe schwänzte. Cocos Achtung vor ihm sank, weil er seine Frau mit ihr betrog.
Für sich selbst fand sie die Vorstellung, jeden Tag mit ein und demselben Mann zusammen zu sein, etwa so, als sollte sie täglich das Gleiche essen. Sie beanspruchte ihre Freiheit absolut und zog daraus die Konsequenz, nicht zu heiraten.
In Cocos Augen verweigerten die Männer genau diese Konsequenz. Sie zogen es vor, zu lügen. Sie belogen ihre Ehefrauen und erschufen eine zweite und dritte Identität, in der sie sich mit Geliebten und Mätressen umgaben. Sie liebten nicht wirklich, lautete Cocos Urteil, weder die Frau, die ihnen vor Gott angetraut worden war, noch die anderen Frauen. Sie gefielen sich nur in der Manier der Liebe.
Gabrielle verachtete diesen Manierismus. Boy stand hier stellvertretend für alle Männer, die so handelten, daher begann sie, auch Boy zu verachten. Konnte man jemanden, den man verachtete, noch lieben? Vielleicht bedurfte es eines anderen Namens dafür. Liebe, das war so ein überschäumendes Wort, das die vielen Möglichkeiten abseits des normalen Weges ertränkte.
Je mehr Gabrielle ihr Leben allein bestimmte, desto stärker verlor das sonderbare Spiel, das sich Liebe nannte, an Glanz für sie. Machte sie das bitter? Machte es sie sarkastisch, herablassend, vielleicht sogar böse? Gabrielle Chanel fehlte die Zeit, über ihr eigenes Wesen nachzudenken. Sie war, die sie war, die anderen mussten damit zurechtkommen.
Sie bemerkte Veränderungen an sich nur an Kleinigkeiten. Wenn sie sich, selten genug, in ihrem Betrieb zum Essen in den Speisesaal setzte, blieb sie an ihrem Tisch oft allein. Dahinter verbarg sich nicht nur Respekt vor der allgewaltigen Modeschöpferin und Chefin des Hauses. Man scheute sich, mit der Frau zusammenzusitzen, die auf alles eine spitze Bemerkung wusste.
Die Schneiderinnen plauderten gern harmloses Zeug, ohne über Formulierungen oder Tiefgang nachzudenken. Das missfiel Mademoiselle Chanel. Ein Gespräch, dem jeglicher Witz fehlte, langweilte sie. Eine Neuigkeit ohne nennenswerte Aussage machte sie ärgerlich. Sie war eine Jongleuse mit Worten. Cocos Konversation funkelte, ihre knappen, scharfen Bonmots wurden als Aphorismen weitererzählt. Cocos Bild in der Öffentlichkeit setzte sich aus diesen Aphorismen zusammen. Ihre Schöpferin erschien als Collage der eigenen Spritzigkeit. Die Gespräche der Menschen rund um Coco waren wie ein langsam fließender Fluss. Gabrielle ertrug Langsamkeit nicht. Bei ihr musste schnell gedacht, schnell gesprochen und schnell abgehakt werden. Wer nicht mitkam, den ließ sie gelangweilt zurück.
Boy hatte sich an Cocos Art gewöhnt und war imstande, ihr Paroli zu bieten. Meistens ließ er sie einfach reden und vor allem machen. Coco Chanel musste ununterbrochen etwas tun, anders war ihre sagenhafte Kreativität nicht zu erklären. Sie schuf in einem fort. Kaum hatte sie eine Sache beendet, nahm sie sich die nächste vor. Pausen gab es bei ihr nicht. Wer sollte mit so jemandem in Frieden leben? Die wenigsten Männer waren dazu imstande.
Sie wählte ihre Männer sorgfältig. Coco mochte Männer wie Bären, die zwar schwerfällig aussahen, aber im Kopf schnell waren. Sie mochte Männer wie weite Ebenen. Sie selbst wollte das Rennpferd sein, das über die Ebene sprengte. Sie mochte Männer wie Ozeane, wie Berge, wie Abgründe, Männer, die groß und weit und bleibend waren. Das Schnelle und Wandelbare, das Bezaubernde brachte sie selbst mit. Bezaubernde Männer, Männer wie Paradiesvögel fand sie vollkommen uninteressant.
* * *
Arthur Capel war nicht glücklich. An ihm fraß das Unglück, ein Don Juan zu sein. Er erschien jedem und jeder liebens- und begehrenswert. Die Frauen genossen seine Nähe, die Männer standen ihnen in nichts nach.
Er besaß Einfluss in England und Frankreich, war mit den höchsten politischen Kreisen vertraut, seine Kohlenbergwerke hielten die Staatsmaschine am Laufen. Die Steinkohle seiner Gattin vervielfachte diesen Einfluss noch.
Aus ihrer Geschäftsehe war ein Kind hervorgegangen. Im Winter 1919 war Boys Frau wieder schwanger. Er konnte sich kaum daran erinnern, mit ihr geschlafen zu haben. Seine Frau war ein Teil seines Lebens, so wie auch Coco ein Teil seines Lebens war – der verrückte, lebendige, fröhliche Teil. Mit Coco fiel ihm alles leicht. Ein himmlischer Zustand, sollte man meinen, doch immer, wenn er mit ihr zusammen war, sehnte sich Boy nach dem Schwierigen und der Tiefe. War er mit seiner Ehefrau zusammen, lechzte er nach Leichtigkeit und Witz. Boy träumte von einem Utopia, in dem er beides haben durfte. Er, der Belesene, möblierte dieses Utopia mit den Erkenntnissen der großen Philosophen, bis er zu einer erschreckenden Erkenntnis gelangte: All diese Gedankengrößen wussten am Ende so wenig wie er. Sie hatten weder der Angst vor dem Tod noch der Qual der Liebe etwas entgegenzusetzen, am allerwenigsten aber der Zerrissenheit des Menschen.
Boy, der Liebling der Götter, wurde immer verzagter. Häufig spazierte er über die Friedhöfe von Paris und London und beneidete diejenigen, die es bereits hinter sich hatten. Geboren, gestorben – Unvergessen für immer – Die Liebe währet ewiglich – las er und sah die frommen Sprüche auf den Grabsteinen entlarvt: Das Ewiglich war nach wenigen Jahren vom Efeu überwuchert worden. Efeu und Geißblatt waren stärker als die Liebe.
Als Boy Capel wieder einmal mit dem Auto nach Cannes aufbrach, stand er vor einer Entscheidung. Er wollte sich endgültig für das eine oder das andere entscheiden. Während er mit seinem Mechaniker Mansfield losfuhr, fällte er die Entscheidung, Weihnachten in Cannes mit seiner Frau und dem Baby zu verbringen. Seine Ehe und seine Familie sollten ihm zu der Ganzheit verhelfen, die er vermisste.
Nachdem sie in Dover übergesetzt hatten, Reims erreichten und sich Troyes näherten, nahm dieser Entschluss immer mehr Gestalt an. Boy wollte in Cannes ein Haus für die Familie mieten, ein gemütliches Haus für die Weihnachtsfeiertage.
Er beschloss, die weitere Strecke über das Massif Central zu fahren, weil sie ihm besser gefiel als der Weg über Dijon und Lyon. Unterwegs bekam sein Entschluss bereits erste Risse. Er würde mit der Familie Weihnachten feiern, allerdings zogen sich die Tage bis Silvester meistens schrecklich in die Länge. Zwischen den Jahren schien ganz Frankreich, auch das winterliche Cannes, in Tiefschlaf zu verfallen. Wie lange konnte man sich über Weihnachtsgeschenke freuen oder mit dem Kleinen spielen? Wäre es da nicht angenehm, zwischendurch einen Abstecher zu Coco zu machen?
Boy lehnte sich auf dem Beifahrersitz zurück. Mit geschlossenen Augen entwarf er den Plan, ein Haus für die Familie zu mieten, zugleich aber auch eines für Coco. Sie hasste Weihnachten und würde sich nicht lange bitten lassen, zu ihm nach Cannes zu kommen. Es wäre einigermaßen frivol, abends mit Frau und Kind am Kaminfeuer zu sitzen, die sündigen Nachmittage aber mit Coco zu verbringen.
Kurz vor Avignon zerschlug Boy seine unselige Sehnsucht, ganz zu sein, endgültig und erschuf eine Ganzheit, die besser zu ihm passte. Er wollte liebevoll zu seiner Frau sein und liebevoll zu Gabrielle. War das nicht Ganzheit in ihrer reinsten Form? War es nicht die beste aller Entscheidungen?
»Lass mich jetzt mal ein bisschen fahren«, sagte er zu Mansfield. »Dir müssen ja die Augen zufallen.«
»Es geht schon«, antwortete der Mechaniker.
Boy bestand darauf. Sie wechselten die Sitze.
»Du bist plötzlich so gut gelaunt«, sagte Mansfield.
»Weil ich einen Entschluss gefasst habe.« Boy steuerte die nächste der vielen Kurven an.
Der Reifen platzte rechts vorn. Boy galt als versierter Fahrer, aber links und rechts rückten die Abgründe dicht an die Straße heran. Der Wagen brach aus der Spur aus. Alles, was er tun konnte, um nicht abzustürzen, war, auf einen Baum zuzusteuern. Er schrie vor dem Aufprall nicht auf.
»Das wird eng«, sagte Mansfield.
Boy Capel war sofort tot. Der Mechaniker überlebte schwer verletzt.