Coco konnte so oft in die Welt hinausschreien, dass sie recht hatte, wie sie wollte: Es blieb bei ihrem Misserfolg. Die neuen jungen Männer in der Mode, Dior, Givenchy und deren Epigonen, setzten ihren Firlefanz fort. Niemand interessierte sich für die Strenge einer Frau namens Coco … Coco wie?
Wenn die Männer, die aktuell die Frauen anzogen, Fischbein verwendeten und sie damit wieder in Korsetts zwängten, lautete Cocos Kommentar: »Wie soll man sich darin bücken?« Es gab barocke Auswüchse, bei denen Frauen aussahen wie geblümte Sofas. Gabrielles spitze Zunge hatte auch dafür die entsprechende Bezeichnung – Velázquez-Stil. Niemand hörte auf sie, niemand interessierte sich für sie.
Bis zu dem Tag, an dem jene US-Journalistin recht behalten sollte. Die vielgeschmähten Kostüme der ersten Kollektion verdankten ihren plötzlichen Siegeszug einem Irrtum: Die New Yorker Modehäuser hatten dem Prestige der Marke Chanel vertraut und die Kleider in großer Stückzahl eingekauft. In der New Yorker Branche staunte man nun darüber, dass die erwarteten Ladenhüter weggingen wie die warmen Semmeln. Die New Yorkerinnen liebten den kühlen Charme Chanels im Gegensatz zum verspielten Unsinn französischer Jünglinge.
Die US-Presse schloss sich diesem Trend an. Das Life-Magazine schrieb: Mit 71 Jahren gelingt Coco Chanel eine Revolution. Life widmete ihr ganze vier Seiten. Auch Jacques Wertheimer hätte nicht zufriedener sein können. Nachdem er wegen des Flops bereits die Herstellung des Parfums einstellen wollte, schnellte auch dort der Verkauf wieder in die Höhe.
»Jedes Kleidungsstück hat eine Logik«, sagte Gabrielle zu Boy. »Genau wie jeder Mensch eine Logik besitzt. Wer diese Logik missachtet, muss den Preis dafür bezahlen, so wie jemand, der den Charakter eines anderen Menschen erkennt, aber ignoriert. Dieser Mensch kann damit rechnen, verlassen zu werden.«
Gabrielle küsste Boys Bild, das Bild ihrer großen Liebe. Sie legte die Perlen ab. »Ich habe die Menschen, die ich liebte, immer richtig eingeschätzt«, sagte sie. »Aber ich habe sie in ihrer Persönlichkeit oft nicht gewähren lassen. Ich habe ihnen mein Wesen häufig aufgedrängt. Da mich diese Menschen ebenfalls liebten, haben sie das eine Zeit lang mitgemacht. Aber irgendwann vermag sich ein Mensch nicht länger zu verstellen. Das war der Moment, als sie mich verlassen haben.«
Sie öffnete ihre Bluse. »Privat war ich oft selbstsüchtig und unlogisch. Nur in der Mode habe ich mir jede Unlogik verboten. Mein Werk ist logisch und darum schön. Frauen sind schön, wenn sie meine Mode tragen. Ich habe recht behalten.«
Sie öffnete die Manschetten. »Ach, wenn mir dieses Kunststück nur in der Liebe gelungen wäre!« Ein Blick in den Spiegel. »Warum ist keiner bei mir geblieben? Warum stehe ich als alte Frau allein in meinem Zimmer im Ritz? Kannst du mir das sagen?«
Die Frau im Spiegel sah die Frau im schmalen Rock mit den spindeldürren Beinen stumm an.
»Bin ich wirklich ein Monster, wie so viele behaupten? Oder war ich als Frau meiner Zeit einfach voraus? Die Männer sind mit ihrer Vorstellung von Frauen im 19. Jahrhundert stehengeblieben. Sie haben das 20. Jahrhundert noch nicht erreicht. Leider geben sich viele Frauen mit der Rolle zufrieden, die ihnen zugedacht wird. Sie sind niedlich, sie sind häuslich, und sie können zuhören. Das ist das Wichtigste für Männer. Ich konnte nie gut zuhören, dazu habe ich selbst zu viel zu sagen.« Sie hob die Schultern.
»Du bist selbst schuld«, sagte die Frau im Spiegel. »Frauen, die gut ohne Männer auskommen, sind bei Männern nicht sehr beliebt.«
»Aber ich habe viele Männer geliebt. Und sie haben mich geliebt.«
»Weil es einen Triumph bedeutet hat, dich zu erobern«, antwortete die Frau im Spiegel. »Eine Amazone, eine geschäftstüchtige Frau, die von ihrem eigenen Geld lebt, eine intelligente Frau, die eine scharfe Zunge besitzt – ein Mann, der sich mit dir messen, dir gefallen kann, muss ein besonderes Exemplar sein.«
»Ein besonderes Exemplar –« Coco lächelte. »Das gefällt mir. Ich hatte eine Menge besonderer Exemplare.«
Die Frau im Spiegel nickte. »Leider halten die Männer eine Frau, die eine Sonne für sich ist, als Partnerin nicht lange aus.«
Coco öffnete den Rock und ließ ihn fallen. »Du sagst es. In dem Fall gehen sie wieder zu ihren Ehefrauen zurück, die gut zuhören können.«
Da stand sie. Coco sah es selbst: Ein Ritter war sie! Nicht besonders furchterregend, aber ein Ritter allemal. Die weiße Bluse reichte ihr bis auf die Schenkel. Die schwarze Strumpfhose gab ihr etwas von einer Rüstung. Die kleine, ungebeugte alte Frau machte sich den Spaß, ihre Leselupe vom Schreibtisch zu nehmen und sie drohend wie ein Schwert zu erheben. Sie lachte der Frau im Spiegel zu und die erwiderte ihr Lachen. »Allons enfants à la patrie!«, rief die Kämpferin, legte die Lupe zurück und zog sich endgültig aus.
Wie in ihren Jugendtagen in Royallieu schlüpfte sie in einen blütenweißen Schlafanzug. Wenn sie in diesem Anzug dagelegen hatte, war Étienne auf ihr Zimmer gekommen. Auch ihre erste Begegnung mit Boy hatte in einem solchen Anzug stattgefunden. Manche Dinge änderten sich nicht.
Gabrielle legte sich zu Bett. Sie freute sich auf den kommenden Tag. Auch morgen durfte sie wieder arbeiten, und sie würde arbeiten, was sonst? Es war das Einzige, was zählte. Sie hatte ihre neue Kollektion präzise im Kopf, jedes Kleid, jedes Detail. Nur zeichnen musste sie es noch. Und die Stoffe aussuchen. Und den Schnitt überwachen. Im Grunde fand Gabrielle es lästig, dass sie zuerst schlafen sollte, bevor sie mit der Arbeit fortfahren konnte. Sie fand es unnötig, auf den Morgen zu warten.
»Wozu?«, fragte sie nach einer schlaflosen Stunde in ihrem dunklen Zimmer. »Wozu warten?«
Mademoiselle Chanel stand auf, legte den weißen Schlafanzug ab, wählte eine frische weiße Bluse und ein Kostüm. Obwohl ihre Füße noch müde vom Tag waren, schlüpfte sie in die Schuhe.
»Jetzt habt euch nicht so«, befahl sie den Füßen.
Sie setzte den Hut auf, sperrte ihr Zimmer ab, stöckelte durch den Korridor und grüßte den Nachtportier an der Rezeption.
»Sie gehen noch aus, Mademoiselle?«
»Ich habe zu arbeiten. Gute Nacht.«
»Gute Nacht, Mademoiselle Chanel.«
Sie verließ das Ritz, lief um die Ecke und wechselte die Straßenseite. Mit dem riesigen Schlüssel, den sie seit den dreißiger Jahren in der Tasche trug, schloss sie das Haus in der Rue Cambon auf. Im Erdgeschoss machte sie kein Licht, den Weg durch den Korridor fand sie blind. Im ersten Stock knipste sie eine Lampe nach der anderen an, bis der Raum eine strahlende, eine diamantene Atmosphäre bot. So konnte man arbeiten. So musste man arbeiten.
Coco trat vor das unfertige Kostüm auf der Kleiderpuppe, eine elfenbeinfarbene Jacke mit roten Applikationen an den Ärmeln und auf der Brusttasche. Ein gerader Schnitt, der Rock so schlicht wie möglich. So logisch wie möglich.
Coco hatte vor, davon eine weitere Variation in Mitternachtsblau zu entwerfen. Sie holte einen entsprechenden Stoffballen aus dem Regal. Plötzlich gefiel ihr die Entscheidung für das Blau nicht mehr. Es sollte Schwarz sein. Es musste Schwarz sein, denn Schwarz, nicht wahr, war doch immerhin die Farbe aller Farben.