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Wir lebten einmal in einem Sommerland. Im Wald hingen Baumhäuser, auf dem See schwammen Boote. Selbst mit dem kleinsten Kanu gelangten wir bis ans Meer. Wir mussten nur über den See paddeln, durch ein Sumpfgebiet hindurch und einen kleinen Fluss entlang, und schon waren wir an der Mündung. Wo Wasser und Himmel sich trafen. Wir ließen die Boote im Sand liegen und rannten in der salzigen Meeresbrise über den Strand.

Wir fanden einen Dinosaurierschädel. Vielleicht stammte er auch von einem Schweinswal. Wir fanden Rocheneier und Mondschnecken und Seeglas.

Vor Sonnenuntergang paddelten wir zurück zum See, um zum Abendessen wieder da zu sein. Seetaucher schickten ihre eindringlichen Rufe über das Wasser. Um uns den Sand von den Füßen zu waschen, sprangen wir kreischend vom Steg. Wir tauchten und schlugen Purzelbäume, und währenddessen färbte sich der Himmel violett.

Oberhalb des Stegs zogen Hirsche auf die weitläufige Rasenfläche. Doch ihre Anmut war trügerisch: Sie hatten Zecken, und Zecken machten krank. Man konnte von ihnen verrückt werden, das Gedächtnis verlieren, dicke Beine bekommen. Oder die Gesichtszüge hingen einem schlaff herunter wie bei einem Basset.

Deshalb beschimpften einige von uns die Hirsche laut, wenn sie ihre eleganten Hälse beugten, um Gras zu rupfen. Und rannten mit fuchtelnden Armen auf sie zu.

Ein paar von uns gefiel es, dass die Hirsche vor unserer Macht in Panik gerieten. Die Tiere sprangen hoch und preschten auf die Bäume zu. Ein paar von uns johlten den fliehenden Hirschen hinterher.

Ich nicht. Ich blieb still. Mir taten sie leid. Sie konnten ja nichts für die Zecken.

Für einen Hirsch waren Menschen wahrscheinlich Ungeheuer. Zumindest manche Menschen. Wenn ein Hirsch einen Menschen durch den Wald laufen sah, spitzte er die Ohren und blieb wie angewurzelt stehen. Wartend. Wachsam. Nichts Böses wollend.

Was bist du?, fragten seine Ohren. Und was bin ich?

Manchmal lautete die Antwort: Du bist tot.

Und der Hirsch brach zusammen.

Ein paar Haustiere waren den Sommer über mitgekommen: drei Hunde und eine Katze, eine schlecht gelaunte Siamkatze mit einer Hautkrankheit. Sie hatte Schuppen. Wir steckten die Hunde in Kostüme aus einer Korbtruhe, aber die Katze konnten wir nicht verkleiden. Sie kratzte.

Einen der Hunde schminkten wir, mit Lippenstift und blauem Lidschatten. Der Hund hatte ein weißes Gesicht, das Make-up war also gut zu sehen. Wir machten gerne was her. Danach steckten wir den Lippenstift zurück in die Fendi-Handtasche einer Mutter. Und sahen zu, wie sie ihn ahnungslos auftrug. Das freute uns.

Wir inszenierten ein Theaterstück mit den Hunden und luden die Eltern dazu ein, denn außer ihnen hatten wir ja kein Publikum. Aber die Tiere waren schlecht erzogen und befolgten unsere Anweisungen nicht. Es gab zwei Soldaten und eine schicke Dame, die wir in einen rüschenbesetzten Push-up gesteckt hatten. Die Soldaten waren Feiglinge. Quasi Deserteure. Sie ergriffen die Flucht, als unser Schlachtruf ertönte. (Eine quäkende Hupe. Sie machte tröööt.)

Die Dame pinkelte.

»Das arme Ding hat eine Reizblase!«, rief eine mollige Mutter. »Ist das etwa ein Perserteppich?«

Wessen Mutter das war? Unklar. Natürlich würde das niemand eingestehen. Wir brachen die Aufführung ab.

»Gib’s doch zu, das war deine Mutter«, sagte ein Junge namens Rafe zu einem Mädchen namens Sukey, nachdem die Eltern abgezogen waren. Einige ihrer Sektkelche, Longdrinkgläser und Bierflaschen waren komplett geleert. Ausgetrunken.

Deshalb hatten diese Eltern es eilig.

»Fehlanzeige.« Sukey schüttelte entschieden den Kopf.

»Wer ist denn dann deine Mutter? Die mit dem fetten Arsch? Oder die mit dem Klumpfuß?«

»Keine von beiden«, sagte Sukey. »Also fick dich.«

Das Landhaus war im neunzehnten Jahrhundert von Räuberbaronen errichtet worden, als prunkvoller Rückzugsort für die grünen Monate. Unsere Eltern, die sogenannten Autoritätspersonen, zogen unter dem breiten Gebälk unbestimmte Kreise durch die Räume, ihre Ziele blieben undurchsichtig. Und interessierten uns nicht.

Sie tranken gern: Das war ihr Hobby, oder – so drückte es jemand von uns aus – vielleicht auch eine Art Kult. Sie tranken Wein und Bier und Whisky und Gin. Und Tequila und Rum und Wodka. Mittags bezeichneten sie es als Kontergetränk. Sie schienen sich damit wohlzufühlen. Oder zumindest zu funktionieren. Abends versammelten sie sich, um zu essen und noch mehr zu trinken.

Das Abendessen war die einzige Mahlzeit, an der wir teilnehmen mussten, und selbst das hassten wir. Sie ließen uns hinsetzen und redeten über: nichts. Ihre Gespräche richteten sie aus wie einen dumpfen grauen Strahl. Er traf uns und lullte uns ein. Was sie erzählten, war so langweilig, dass sich Frust in uns breitmachte und bald darauf Wut.

Hatten sie denn keine Ahnung, dass es dringliche Themen gab? Fragen, die gestellt werden mussten?

Wenn jemand von uns etwas Ernsthaftes sagte, taten sie es ab.

Darfichbitteaufstehen.

Später wurden die Gespräche lauter. Befreit von unserem Einfluss, stießen einige von ihnen plötzlich ein raues Bellen aus. Offenbar lachten sie. Über die umlaufende Veranda mit ihren Bambusfackeln, hängenden Farnen und Hollywoodschaukeln, den mottenzerfressenen Sesseln und blau leuchtenden Insektenvernichtern wurde das bellende Gelächter weitergetragen. Wir hörten es von den Baumhäusern und Tennisplätzen und von dem Feld mit den Bienenkästen, um die sich tagsüber eine langsame Nachbarin kümmerte, die unter dem Netz ihres Imkerhuts vor sich hin murmelte. Wir hörten es durch die gesprungenen Fenster des verfallenen Gewächshauses oder auf dem kühlen schwarzen Wasser des Sees, wo wir uns um Mitternacht in Unterwäsche treiben ließen.

Ich für meinen Teil streifte gerne alleine im Mondschein durch das Gelände. Ich hatte eine Taschenlampe dabei, die ich über Wände mit weißen Fensterläden tanzen ließ, über im Gras liegende Fahrräder, Autos, die still auf der breiten, bogenförmigen Zufahrt standen. Erscholl das Gelächter, fragte ich mich, ob es wirklich möglich war, dass jemand von ihnen etwas Lustiges gesagt hatte. Zu späterer Stunde bildeten sich manche Eltern ein, tanzen zu müssen. Leben durchzuckte ihre fülligen Körper. Ein trauriges Schauspiel. Sie zappelten zu ihrer alten Musik. »Beat on the brat, beat on the brat, beat on the brat with a baseball bat, oh yeah.«

Die Mütter und Väter, durch die kein Leben zuckte, saßen in ihren Sesseln und sahen den Tanzenden zu. Mit schlaffer Miene, teilnahmslos – also praktisch tot.

Wenigstens nicht so peinlich.

Manchmal schlichen sich Eltern zu zweit in die Schlafzimmer im ersten Stock, wo ein paar Jungs von uns sie durch die Lamellen der Wandschranktüren beobachteten. Ihnen bei ihren dunklen Akten zusahen.

Manchmal regte sich dabei etwas in ihnen. Das wusste ich. Auch wenn sie es nicht zugeben wollten.

Doch öfter empfanden sie Abscheu.

Die meisten von uns kamen nach den Sommerferien in die elfte oder zwölfte Klasse, aber einige waren noch nicht einmal in der Pubertät – es gab ein breites Altersspektrum. Kurz gesagt, manche waren unschuldig. Andere vollzogen selbst dunkle Akte.

Die waren nicht so abstoßend.

Unsere Abstammung geheim zu halten, war ein Zeitvertreib für uns, aber wir nahmen ihn sehr ernst. Manchmal rückte ein Vater oder eine Mutter ziemlich nahe und drohte, uns zu verraten. Eine familiäre Verbindung preiszugeben. Dann liefen wir davon wie die Hasen.

Das durften wir aber auch nicht zu offensichtlich machen, damit unsere Hektik uns nicht erst recht entlarvte, besser wäre also, wir verkrümelten uns leise. Für den Fall, dass mein eigener Vater oder meine eigene Mutter käme, hatte ich folgende Technik entwickelt: so tun, als würde ich jemanden im Nebenzimmer sehen. Mich ganz selbstverständlich und mit entschlossener Miene auf mein Fantasiegespinst zubewegen. Durch die Tür hinausgehen. Mich langsam ausblenden.

Anfang Juni, in der ersten Woche unseres Aufenthalts, waren mehrere Eltern die Treppe in den weiträumigen Dachboden hochgestiegen, auf dem wir schliefen, ein paar in Stockbetten, die meisten aber auf dem Boden. Sie riefen die Jüngsten: »Wir bringen euch jetzt ins Be-hett!«

Wir versteckten uns unter unseren Decken, und einige von uns maulten sie unfreundlich an. Die Eltern zogen sich zurück, womöglich beleidigt. Wir befestigten ein Schild an der Tür: ELTERNFREIE ZONE. Am nächsten Morgen redeten wir ein ernstes Wörtchen mit ihnen.

»Ihr könnt euch im ganzen Haus frei bewegen«, argumentierte Terry ruhig, aber energisch. »Ihr habt alle ein eigenes Schlafzimmer. Und ein zugehöriges Bad.«

Er trug eine Brille und war gedrungen und sehr überheblich. Trotzdem machte er Eindruck, wie er dort am Kopf des Tisches stand und seine kurzen Arme verschränkte.

Die Eltern tranken ihren Kaffee. Mit saugenden Geräuschen.

»Wir haben nur ein Zimmer. Für uns alle. Ein einziges Zimmer!«, stimmte Terry an. »Also bitte. Gönnt uns unseren heiligen Raum. In diesem winzigen Territorium. Stellt euch den Dachboden als Reservat vor. Stellt euch vor, ihr wärt die weißen Eroberer, die unser Volk brutal niedergemetzelt haben. Und wir wären die Indianer.«

»Die amerikanischen Ureinwohner«, sagte eine Mutter.

»Eine unsensible Metapher«, sagte eine andere. »Kulturell betrachtet.«

»Eine der Mütter hat einen Klumpfuß?«, fragte Jen. »Echt jetzt? Hatte ich gar nicht bemerkt.«

»Was ist denn überhaupt ein Klumpfuß?«, fragte Low.

Eigentlich hieß er Lorenzo, aber das war zu lang. Außerdem war er der Größte von uns allen, deshalb nannten wir ihn Low. Rafe hatte sich das ausgedacht. Low war es egal.

»Der wird so nachgezogen«, sagte Rafe. »So ein Schuh mit einem klobigen Absatz. Kennst du nicht? Die Dicke ist bestimmt Sukeys Mutter.«

»Klaro, klaro. Ist sie nicht«, sagte Sukey. »Ich hab eine viel bessere Mutter als diese Niete. Meine Mutter steckt die locker in die Tasche.«

»Aber sie kann ja nicht die Mutter von niemandem sein«, widersprach Low.

»Hm. Könnte sie schon«, sagte Sukey.

»Es gibt doch ein paar Singles«, bemerkte Juicy. Er wurde wegen seines reichlich vorhandenen Speichels so genannt. Er spuckte gerne.

»Und kinderlose Paare«, sagte Jen. »Traurig, unfruchtbar.«

»Dazu bestimmt, ohne Vermächtnis zu sterben«, fügte Terry hinzu, der sich für einen Sprachkünstler hielt. Sein richtiger Name lautete Irgendwer der Dritte. Als wäre das nicht schlimm genug, hieß »der Dritte« auf Lateinisch »Tertius«. Das wurde dann zu »Terry« abgekürzt. So ist sein Spitzname entstanden.

Er führte ein persönliches Tagebuch, in dem er womöglich seine Gefühle festhielt. Über diese Option wurde eine Menge Spott ausgeschüttet.

»Schon, aber ich habe gesehen, wie die Dicke in der Küche Sukeys Vater angegrapscht hat«, sagte Rafe.

»Ist nicht wahr«, sagte Sukey. »Mein Vater ist tot.«

»Seit Jahren«, nickte Jen.

»Immer noch«, sagte David.

»Dann eben Stiefvater. Was auch immer«, sagte Rafe.

»Sie sind nicht verheiratet.«

»Reine Formsache.«

»Ich hab sie auch gesehen«, sagte Low. »Sie hatte die rechte Hand auf seiner Hose. Auf dem Geschröt. Mittendrauf. Der Typ hatte einen krassen Ständer.«

»Widerlich.« Juicy spuckte aus.

»Jetzt pass doch auf, Juicy. Du hast fast meinen Zeh getroffen«, sagte Low. »Punktabzug.«

»Selbst schuld, wenn du Sandalen anziehst«, sagte Juicy. »Mega schwach. Kriegst selber einen Punktabzug.«

Wir führten ein Buchhaltungssystem, eine Tabelle an der Wand. Es gab Pluspunkte und Minuspunkte. Einen Pluspunkt bekam man für eine erfolgreich begangene Schandtat, einen Minuspunkt gab es für etwas, wofür man sich schämen sollte. Juicy kassierte Punkte, wenn er unbemerkt in Cocktails sabberte, während wir Low einen Punkt abzogen, weil er sich bei einem Vater eingeschleimt hatte. Wahrscheinlich war es nicht sein eigener – es war ein wohlgehütetes Geheimnis, wer Lows Eltern waren. Aber wir hatten ihn dabei beobachtet, wie er sich von einem Mann mit anlagebedingtem Haarausfall in Sachen Kleidung beraten ließ.

Low war ein milchgesichtiger Riese mongolischer Abstammung, aus Kasachstan adoptiert. Von uns allen war er am schlechtesten angezogen. Er kultivierte einen Seventies-Look, samt gebatikten Muskelshirts und Short Shorts mit weißen Paspeln. Ein paar davon waren aus Frottee.

Wir konnten unser Elternspiel nur deshalb durchziehen, weil die Eltern nahezu gar kein Interesse zeigten. Laisser faire war ihre Einstellung. »Wo ist Alycia?«, fragte eine Mutter nebenan.

Mit siebzehn war Alycia die Älteste. Und sie ging schon das erste Jahr aufs College.

»Ich hab sie kaum gesehen, seit wir hier sind«, fuhr die Stimme fort. »Wie lange ist das jetzt her, zwei Wochen?«

Die Mutter sprach vom Frühstücksraum aus, wo ich sie nicht sehen konnte. Ich mochte den Raum sehr gerne, mit seinem langen Tisch aus Eichenholz und der Verglasung auf drei Seiten. Hinter den Glaswänden glitzerte hell der See, und das Sonnenlicht flocht sich durch die wogenden Äste einer uralten Weide, die das Haus beschattete.

Leider wimmelte es jeden Vormittag in dem Raum von Eltern. Für uns war er unbenutzbar.

Ich versuchte, die Stimme zu identifizieren, aber sobald ich mich durch die Tür schob, wurden andere Themen besprochen – Krieg in den Nachrichten, die tragische Abtreibung einer Freundin.

Alycia hatte sich in den nächsten Ort abgesetzt; ein Gärtner hatte sie mitgenommen. Der Ort bestand aus einer Tankstelle, einer Drogerie, die selten geöffnet war, und einer Kneipe. Alycia hatte einen Freund dort. Der ein paar Jahrzehnte älter war als sie.

Wir deckten sie, so gut es ging. »Alycia ist gerade unter der Dusche«, verkündete Jen an dem Abend, als sie verschwand, bei Tisch.

Wir prüften die Mienen der Eltern, aber Fehlanzeige. Pokerfaces.

Am nächsten Abend dann David: »Alycia liegt im Bett, sie hat Bauchkrämpfe.« Am dritten Sukey: »Alycia kommt leider nicht runter. Sie ist ziemlich mies gelaunt.«

»Das Mädchen muss doch mehr essen«, meinte eine Frau, während sie eine Bratkartoffel aufspießte. War sie die richtige Mutter?

»Sie ist ein Strich in der Landschaft«, sagte eine zweite.

»Aber spucken tut sie nicht, oder?«, fragte ein Vater. »Sich dauernd übergeben?«

Beide Frauen schüttelten den Kopf. Das Rätsel blieb ungelöst.

»Vielleicht hat Alycia zwei Mütter«, sagte David danach.

»Ja, vielleicht zwei Mütter«, meinte Val. Sie war ein Wildfang und sagte nicht viel. Meistens plapperte sie nur nach.

Val war so klein und schmächtig, dass ihr Alter unmöglich zu schätzen war. Im Gegensatz zu uns anderen kam sie von irgendwo auf dem Land. Am liebsten kletterte sie. Hoch hinauf und geschickt – auf Häuser oder Bäume, das war ihr egal. Hauptsache, es ging in die Vertikale.

»Das Mädchen ist der reinste Affe«, sagte ein Vater einmal, der ihr zusah, wie sie die Weide erklomm.

Eine Elterngruppe saß mit Getränken auf der Veranda.

»Ein Gibbon«, sagte ein anderer. »Oder ein Berberaffe.«

»Ein Weißschulterkapuziner«, fiel ein dritter ein.

»Ein Zwergseidenäffchen.«

»Eine jugendliche Schwarze Stumpfnase.«

Einer Mutter reichte es. »Ein Halt-die-Fresse«, sagte sie.

Wir waren streng mit den Eltern: Es wurden Strafmaßnahmen ergriffen. Wir stahlen, spotteten, verunreinigten Essen und Getränke.

Sie merkten nichts. Und wir fanden, die Strafen seien ihren Vergehen angemessen.

Der schlimmste dieser Frevel war allerdings schwer festzumachen und deshalb auch schwer, richtig zu bestrafen – die Natur ihres Seins. Der Kern ihrer Persönlichkeiten.

In manchen Bereichen hatten wir großen Respekt. Zum Beispiel respektierten wir das Haus, eine prächtige alte Festung, unsere Burg. Allerdings nicht die Einrichtungsgegenstände. Wir beschlossen, ein paar von ihnen kaputt zu machen.

Wer am Ende der Woche die meisten Pluspunkte hatte, durfte das nächste Ziel auswählen. Was würde es wohl sein? Die erste Wahl: die Porzellanfigurine eines rotwangigen Jungen in Kniehose, der einen Korb mit Äpfeln hielt und lächelte.

Die zweite Wahl: ein rosa-grünes Stickmustertuch mit einer Pusteblume darauf und, in geschwungener Schrift, den Worten »Atme sanft ein. Puste. Verbreite deine Träume und lass sie wachsen.«

Die dritte Wahl: eine dicke Lockente mit aufgeblähter Brust und gruselig leerem Blick, samt einem bizarren aufgemalten Smoking.

»Das ist eine fette Schwuchtelente«, sagte Juicy. »Eine Ente mit Fliege. Eine Schwuchtel, wie ein Schnulzensänger. Eine Frank-Sinatra-Entenschwuchtel.«

Er kicherte wie verrückt.

Rafe, der schwul war und stolz darauf, sagte ihm, er solle die Klappe halten, er sei ein homophober Idiot.

Der Gewinner der Woche war diesmal Terry, und er wählte den Apfeljungen. Er holte einen Kugelhammer aus dem Geräteschuppen und schlug ihm den Kopf ein.

Aber dem Haus selbst hätten wir niemals etwas zugefügt. Rafe zündelte gerne, doch seine Brandanschläge beschränkte er auf das Gewächshaus: ein Haufen Hockeyschläger und Krocketschlägel. Er verbrannte auch Sachen auf einer Lichtung im Wald – das Opfer war ein Gartenzwerg. Das schmelzende Plastik qualmte und stank widerlich. Jemand von den Eltern bemerkte den Rauch, der über einem Nadelwald aufstieg, und entschied sich dafür, auf der Veranda zu bleiben und einen Martini Dry zu schlürfen.

Nach einer Weile war der Rauch verflogen.

Wir respektierten den See und den kleinen Fluss und am allermeisten den Ozean. Die Wolken und die Erde, aus deren verborgenen Höhlen und spitzem Gras ein Wespenschwarm entspringen konnte, eine Invasion von Feuerameisen oder auf einmal Blaubeeren.

Wir respektierten die Baumhäuser, ein kunstvolles Netzwerk aus stattlichen Bauwerken hoch oben in den Kronen. Sie hatten feste Dächer, und mit den Leitern und Brücken zwischen ihnen bildeten sie ein Dorf im Himmel.

Frühere Urlauber hatten grobe Zeichnungen, Namen und Initialen in die Holzwände geritzt. Diese alten Initialen konnten mir schnell die Laune verderben. Vielleicht hatten die Nachkommen der Räuberbarone sie eingeritzt – die Sprösslinge der Kaiser von Holz, Stahl oder Schiene, die sich längst in Wuchtbrummen der Upper East Side verwandelt hatten.

Gelegentlich saß ich mit anderen hoch oben auf einer Plattform, und wir ließen die Beine baumeln und tranken Dosenlimo oder Bier aus der Flasche. Träge warfen wir Kieselsteine nach Streifenhörnchen. (Die kleinen Jungs verboten uns das, für sie war das Tierquälerei.) Wir flochten Zöpfe, schrieben einander Sachen auf die Jeans, lackierten uns gegenseitig die Fingernägel. Wir versuchten, Klebstoff aus dem sogenannten Aufenthaltsraum, den wir nie benutzten, zu schnüffeln. High wurde man davon nicht.

Ich starrte die Initialen an und fühlte mich allein. Sogar in der Gruppe. Die trostlose Zukunft zog blitzartig an mir vorbei. Die Uhr tickte, und ich mochte diese Uhr nicht.

Schon klar, dass wir nicht ewig jung bleiben würden. Trotzdem war das schwer vorstellbar. Man konnte über uns sagen, was man wollte, aber unsere Arme und Beine waren kräftig und stromlinienförmig. Das wird mir jetzt bewusst. Unsere Bäuche waren fest und faltenfrei, so wie unsere Stirnen. Wenn wir rannten, falls wir das wollten, rannten wir wie geölte Blitze. Wir hatten den Elan von Neugeborenen.

Relativ gesehen.

Und nein, es konnte nicht sein, dass wir immer so blieben. Das wussten wir, auf rationaler Ebene. Aber die Vorstellung, dass diese zerstörten Gestalten, die durch das Landhaus wankten, eine Vision dessen waren, was uns bevorstand – unmöglich.

Hatten sie früher einmal Ziele gehabt? Einen simplen Sinn für Selbstachtung?

Wir schämten uns für sie. Sie waren ein abschreckendes Beispiel.

Die Eltern waren im College eng befreundet gewesen, hatten sich seither aber nicht mehr als Gruppe getroffen. Bis sie diesen Zeitpunkt für ihr offensiv langes Wiedersehen gewählt hatten. Einer soll gesagt haben: »Unser letztes Hurraaa.« Das hörte sich an wie ein schlecht gespieltes blödes Theaterstück. Jemand anders sagte, und zwar nicht im Scherz: »Danach sehen wir uns zum nächsten Mal auf einer Beerdigung.«

Keiner von ihnen lächelte auch nur ein bisschen.

Anonym steckten wir Beschreibungen ihrer Berufe in einen Hut. Es war ein Klappzylinder aus dem Spielzeugschrank, in dem viele alte Artefakte aufbewahrt wurden. (Dort hatten wir die Hupe gefunden, außerdem Luftpistolen und ein abgenutztes Monopoly.) Wir schrieben die Berufsbezeichnungen in Druckbuchstaben, damit die Handschrift nicht so leicht erkannt werden konnte, dann zogen wir die Zettel aus dem Hut und lasen sie vor.

Ein paar arbeiteten an der Uni und hatten drei Monate Sommerurlaub. Andere fuhren zwischen Büro und Zuhause hin und her. Jemand war Therapeut oder Therapeutin, jemand war Vagina-Arzt oder -Ärztin. (Schallendes Gelächter von Juicy, dann trat ihm Sukey gegen sein Knie. »Hast du ein Problem mit Vaginas? Sag es: Vagina. Va-gi-na.«) Eine Person arbeitete als Architekt/in, eine andere als Filmregisseur/in. (Auf dem Zettel stand MACHT SCHWULENFILME. »Punktabzug für Homophobie«, sagte Rafe. »Und wenn ich es herausfinde? Ein fetter Minuspunkt für die verkappte Queen, die das da geschrieben hat. Danach gibt’s eine Tracht Prügel. Juicy, du bist es besser nicht.«)

Fest stand: Unsere Eltern waren kulturaffine und gebildete Leute, und sie nagten nicht am Hungertuch, sie hatten sich das Haus gemeinsam leisten können. Ein Landhaus bekam man nicht günstig zur Miete. Nicht einen ganzen Sommer über. Wir vermuteten, dass es wahrscheinlich ein paar Sozialfälle gab, zumindest eine Staffelung. David, ein Techie, der sein hochklassiges PC-Setup zu Hause sehr vermisste, war herausgerutscht, dass seine Eltern zur Miete wohnten. Dafür bekam er einen Minuspunkt. Nicht weil sie kein Eigenheim besaßen – wir hassten Geldsnobs –, sondern weil er bei einer geklauten Flasche Jägermeister weich und redselig geworden war.

Ihren Alkohol trinken? Logisch, ja und unbedingt. Aber sich so benehmen wie sie, wenn sie ihn tranken? Das gab einen Punktabzug.

Denn unter Alkoholeinfluss wurden die Eltern nachlässig, sie legten ihre schützende Hülle ab. Ohne diese Hülle waren sie Nacktschnecken. Sie hinterließen eine Schleimspur.

Meine eigenen Eltern waren: die Mutter Wissenschaftlerin, der Vater Künstler. Meine Mutter lehrte feministische Theorie, und mein Vater gestaltete vollbusige Frauen mit grellbunt bemalten Lippen, Brüsten und Geschlechtsteilen. Häufig mit Szenen von Orten, an denen Krieg oder eine Hungersnot herrschte. Die Schamlippen konnten Mogadischu sein.

Er war ziemlich erfolgreich.

Unsere jüngeren Geschwister waren eine Belastung bei dem Elternspiel, denn sie drohten ständig, unsere Herkunft zu enthüllen. Jen, David und ich hatten welche.

Jens elfjähriger Bruder Shel war ein sanftmütiger, gehörloser Junge. Er wollte Tierarzt werden, wenn er groß war. Gleich nach einer Woche hier bekam er eine Lebensmittelvergiftung und musste von den Eltern der beiden versorgt werden, daher waren sie schon identifiziert. Die Mutter trug eine Erwachsenen-Zahnspange und ließ die Schultern hängen, der Vater hatte einen fettigen Pferdeschwanz. Während er redete, bohrte er in der Nase. Er redete und bohrte, bohrte und redete.

Wir hatten ja angenommen, das Nasebohren stelle man nach der Grundschule ein, aber in seinem Fall täuschten wir uns. Es war wirklich unglaublich.

Jen tat uns leid.

Und auch David war erledigt. Seine Schwestern, IVF-Zwillinge mit Namen Kay und Amy, waren richtige Blagen und interessierten sich null für das Spiel. Sie hatten ihn an Tag zwei verraten, indem sie nach ihrer Mutter langten und sie streichelten – sie gingen sogar so weit, dass sie sich zu ihr auf den Schoß setzten und sich an ihren Hals kuschelten. Und Nettigkeiten flüsterten.

Mein eigener kleiner Bruder Jack war ein Prinz unter den Jungs. Als er einmal mit Giftsumach in Berührung kam, wandte er sich nur an mich und weigerte sich, einen Elternteil um Hilfe zu bitten. Das machte mich stolz. Jack war pflichtbewusst.

Ich ließ ihm Bäder ein und hielt ihm kalte Kompressen an die Beine, während ich bei ihm am Bett saß. Ich trug pinke Lotion auf und las ihm aus seinen Lieblingsbüchern vor. Er klagte kaum, sondern sagte nur: »Das juckt aber schon ziemlich, Evie.«

Jack war mein absoluter Liebling. Schon immer.

Trotzdem war er nur ein kleiner Junge – ich machte mir Sorgen, dass ihm ein Ausrutscher passierte. Und blieb wachsam.

Irgendwann trafen wir dann eine kollektive Entscheidung: Wir mussten den Eltern von dem Spiel erzählen. Es wurde einfach zu schwierig, ihnen allein mit taktischen Manövern auszuweichen.

Wir gaben dem Ganzen natürlich einen positiven Anstrich. Wir mussten ja nicht verraten, weshalb wir das überhaupt spielten. Es musste ja nicht laut ausgesprochen werden, dass unsere Verbindung zu ihnen uns entwürdigte und unsere persönliche Integrität beeinträchtigte. Es musste ja nicht erwähnt werden, dass ein direkter Beweis für unsere Verwandtschaft uns schon körperlich krank gemacht hatte.

Wir sagten einfach, wir bräuchten ein Projekt. Sie hätten uns doch den ganzen Sommer über unserer liebsten Spielsachen und Rettungsleinen beraubt? Sie hätten doch unsere Handys beschlagnahmt, unsere Tablets, sämtliche Bildschirme und den digitalen Zugang zur Außenwelt?

Sie hielten uns in einem analogen Gefängnis fest, sagte David.

Die Obrigkeiten waren am empfänglichsten in der magischen Stunde vor dem Abendessen, in ihrem leichten, angenehm angeheiterten Zustand. Davor waren sie meistens eher unleidlich und lehnten unter Umständen ab. Danach betranken sie sich womöglich blindlings und erinnerten sich am nächsten Morgen nicht mehr.

Während der Trink- und Plauderzeit, wie sie es nannten, brachten wir es zur Sprache.

»Wir spielen da so ein Spiel«, sagte Sukey.

»Ein soziales Experiment, wenn man so will«, sagte Terry.

Ein paar Eltern lächelten milde, als wir es erklärten, während andere sich wehrten und versuchten, ihre Verärgerung zu verbergen. Aber schließlich stimmten sie zu. Sie machten keine Versprechungen, doch sie wollten sich bemühen, uns nicht zu belasten.

Außerdem hätten wir vor, ein paar Nächte am Strand zu kampieren, sagte Rafe.

»Selbstversorgertraining«, fügte Terry hinzu.

»Also, das ist jetzt aber ein ganz anderes Paar Stiefel«, meinte ein Vater.

Er war einer der Uni-Dozenten. Sein Spezialgebiet waren Hexenverbrennungen.

»Ihr alle?«, fragte eine Mutter.

Die Jüngsten nickten – bis auf Kay und Amy, die IVF-Zwillinge. Die schüttelten den Kopf.

»Zum Glück«, murmelte David.

»Aber wir haben doch gar keine Zelte dabei!«, sagte eine zweite Mutter.

Diese Mutter stand weit unten in der Hierarchie. Sie trug lange, fließende Kleider mit Blumen- oder Paisleymuster. Als sie einmal betrunken getanzt hatte, war sie in einen Blumentopf gefallen und hatte sich eine blutige Nase geholt.

Die anderen Eltern behandelten sie ein wenig von oben herab. Auf der Flucht würde die Herde sie als Erste zurücklassen. Einer marodierenden Löwin opfern, die sie mit ihrem kräftigen Kiefer zerreißt. Danach würden Geier teilnahmslos an den Überresten herumpicken.

Wahrscheinlich wäre es traurig.

Trotzdem, niemand wollte diese Mutter. Wir bemitleideten den armen Tropf, den es am Ende treffen würde.

»Wir kommen klar«, sagte Terry.

»Und wie kommt ihr klar?«, fragte eine dritte Mutter. »Mit Amazon Prime?«

»Wir kommen klar«, wiederholte Terry. »Im Geräteschuppen sind Planen. Das kriegen wir hin.«

Beeindruckt von Terrys gebieterischer Haltung, willigte Jen ein, an dem Abend im Gewächshaus mit ihm herumzumachen (wir hatten in einer Ecke ein Nest aus Decken gebaut). Jen war stark, aber was Knutschen betraf, hatte sie bekanntermaßen einen niedrigen Standard.

Um uns nicht ausstechen zu lassen, hatten die beiden anderen Mädchen und ich uns bereit erklärt, mit David und Low Flaschendrehen zu spielen. Die extreme Version, unter Umständen mit Oralsex. Juicy war vierzehn, zu jung für uns und zu ferkelig, und Rafe war nicht bi.

Schade eigentlich, sagte Sukey. Rafe sieht verdammt gut aus.

Dann sagte Dee, dass sie nicht mitspielen wolle, also blieben nur Sukey und ich übrig. Dee hatte Angst vor Flaschendrehen, weil sie – vermutete Sukey – eine stille kleine Maus war und sehr wahrscheinlich sogar noch nie Oralsex hatte.

Dee war nicht bloß ängstlich und schüchtern, sondern außerdem passiv-aggressiv, neurotisch, hatte krankhafte Angst vor Ansteckungen und war borderline-paranoid.

Behauptete Sukey.

»Da musst du durch, Mäuschen«, sagte Sukey. »Das ist ein lehrreicher Moment.«

»Wieso lehrreich?«, fragte Dee.

Weil, so Sukey, ihre Wenigkeit eine Meisterin des Ein-Minuten-Handjobs sei. Dee könnte sich ein paar Tipps abholen.

Die Jungs setzten sich aufrechter hin, als Sukey das sagte. Sie waren plötzlich fokussiert, ihr Interesse ausgerichtet wie ein Laserstrahl.

Aber Dee sagte Nein, der Typ sei sie nicht.

Außerdem müsse sie danach unter die Dusche.

Auch Val weigerte sich mitzumachen. Sie ging raus, um im Dunkeln zu klettern.

Die Eltern spielten währenddessen Texas Hold ’Em und kabbelten sich wegen angeblichen Kartenzählens – der Vater von jemandem war deshalb einmal aus einem Casino in Las Vegas geflogen.

Die jüngeren Kinder schliefen tief und fest.

Flaschendrehen war zugegebenermaßen eine schwache Wahl, aber unsere Optionen waren sehr begrenzt. Alle Handys lagen in einem Safe in der Bibliothek. Und wir hatten die Kombination nicht geknackt.

Ich hatte meine Befürchtungen, aber nachdem Dee raus aus dem Spiel war, musste ich dabeibleiben. Wie es sich ergab, hatte ich Glück. Ich musste Low nur einen Zungenkuss geben.

Trotzdem widerlich. Seine Zunge schmeckte nach alter Banane.

Am folgenden Nachmittag brachen wir auf. Es hatte Stunden gedauert, die Ruderboote vollzupacken.

»Rettungswesten!«, kreischte Jens Mutter vom Rasen aus. Sie hielt eine Weinflasche am Flaschenhals, in der anderen Hand ein Glas, und sie trug einen weißen Bikini mit roten Tupfen. Das Höschen zeigte ihre Arschritze, und das Oberteil sah auch ziemlich lustig aus: Ihre Nippel schimmerten durch das Weiß der Körbchen hindurch wie dunkle Augen.

»Bitte mach, dass das aufhört«, sagte Jen und verzog das Gesicht.

»Zieht die Rettungswesten an!«

»Ja, ja. Herrgott noch mal«, sagte Sukey.

Normalerweise hielten wir uns nicht mit Rettungswesten auf. Außer für die kleinen Jungs. Aber wir standen unter genauer Beobachtung, also holte ich einen Stapel – leuchtend orange und mit schwarzen Schimmelflecken – aus dem Bootshaus. Sie kratzten und waren sperrig. Sobald wir außer Sicht waren, würden wir sie ausziehen. Ganz bestimmt.

Als wir uns vom Liegeplatz abstießen, winkten uns einige Eltern von der Veranda aus zu, andere versammelten sich am Steg. Wir beeilten uns, denn wir fürchteten, sie könnten uns mit blödem Geschwätz noch in letzter Minute verraten. Und prompt rief irgendein Dummkopf: »Hast du deinen Inhalator dabei?« (Zwei von uns litten an Asthma.)

»Seid still! Seid still!«, beschworen wir sie und hielten uns die Ohren zu.

Niemand von uns wollte jemanden auf diese Art untergehen sehen.

»Und die EpiPens?«, brüllte die Mutter mit dem niedrigen Status.

Ich hatte ein Buch über die mittelalterliche Gesellschaft gelesen, aus der Bibliothek des Sommerhauses. Es roch nach staubigem Papier, das mochte ich. In dem Buch kamen Bauern vor: Leibeigene wahrscheinlich. Aufgrund dieser Geschichte und ihrer wallenden Kleider gehörte diese Mutter für mich jetzt dem Bauernstand an.

Wir ignorierten sie und ruderten mit voller Kraft. Schadensbegrenzung.

»Die sind doch allesamt beschränkt«, fluchte Low.

Ich legte den Kopf schief und sah ihn an – nachdenklich. Der Bananengeschmack.

»Meine waren seelenruhig«, prahlte Terry.

»Meine haben sich einen Dreck geschert«, gab Juicy an.

Die Eltern versuchten immer noch, mit uns zu kommunizieren, während sich unsere Boote immer weiter vom Ufer entfernten. Ein paar machten übertriebene Gesten und fuchtelten mit ihren unansehnlichen Armen herum. Jens Vater mimte irgendeine Art Gebärdensprache, aber Shel wandte sich von seinen zappelnden Fingern ab. Die Bauernmutter machte einen Hechtsprung vom Steg aus – war sie uns auf den Fersen? Wollte sie bloß eine Runde schwimmen? Es war uns egal.

Wir erreichten den kleinen Fluss und holten die Ruder ins Boot. Ließen uns Richtung Ozean treiben. Die Fahrrinne war schmal, daher stießen unsere Boote oft gegen die Ufer, blieben in schlammigen Untiefen stecken und mussten befreit werden.

Das Wasser trug uns: Wir wurden getragen.

Wir hoben die Gesichter zur Wärme, schlossen die Augen, ließen uns die Sonne auf die Lider scheinen. Wir spürten, wie uns eine Last von den Schultern genommen wurde, die Glückseligkeit der Freiheit.

Libellen tanzten auf der Wasseroberfläche, funkelnde kleine Helikopter aus Grün und Blau.

»Die verbringen fünfundneunzig Prozent ihres Lebens unter Wasser«, sagte Jack hilfsbereit. Er war ein großer Insektenfreund. Eigentlich ein Freund der gesamten Tierwelt. »Als Nymphen. Larven, du weißt schon. Libellennymphen haben gewaltige Kauwerkzeuge. Sie sind grausame Raubtiere.«

»Ist das interessant?«, fragte Jen und legte den Kopf schief.

Das war nicht fies gemeint, sie überlegte nur. Sie hatte sich noch nicht entschieden.

»Eines Tages kommen sie aus dem Wasser, werden schön und lernen fliegen«, sagte Jack.

»Dann fallen sie tot um«, sagte Rafe.

»Das Gegenteil von Menschen«, sagte David. »Wir werden hässlich, bevor wir tot umfallen. Und zwar Jahrzehnte vorher.«

Ja. Das war bekannt.

Diese Ungerechtigkeit schwebte mit den Libellen über uns.

»Uns wurde viel geschenkt«, verkündete Terry vom Bug aus.

Er wollte aufstehen, aber Rafe meinte, dann würde das Boot kentern. Also setzte er sich wieder hin und sprach mit hohler, getragener Stimme wie ein Priester.

Mit einem Mittelfinger schob er sich die Brille die Nase hoch.

»Ja, wir haben viele Gaben bekommen«, rechnete er vor. »Wir, die Nachfahren der Affenmenschen. Opponierbare Daumen. Eine komplexe Sprache. Zumindest einen Anflug von Intelligenz.«

Aber es gebe nichts umsonst, fuhr er fort. Als er die Eltern eines Nachts in ihren Schlafzimmern beobachtete, war er vom Ausmaß ihrer Beeinträchtigungen gefesselt. Sie hatten dicke Bäuche und Hängebrüste. Sie hatten doppelte Pos – Pos, die hervorsprangen, absackten und sich dann wieder wölbten. Hervortretende Adern. Fett am Rücken, wie aufeinandergestapelte Donuts. Rote Nasen mit einer Kraterlandschaft von Poren, aus den Nasenlöchern ragende schwarze Haare.

Wir würden mit dem mittleren Alter bestraft, danach gehe es lange bergab, sagte Terry traurig. Unsere Spezies – unsere demografische Gruppe innerhalb der Spezies, berichtigte er sich – überdauere ihr Verfallsdatum bei Weitem. Sie werde zu Müll, einer Geißel, einem Gifthauch, zu Schorf. Einer verkümmerten Extremität. Darin bestehe unsere Rolle in der Zukunft.

Aber wir sollten das abschütteln, fügte er hinzu und versuchte auf einmal, seine Ansprache mit einer inspirierenden Botschaft zu krönen. Wir sollten unseren Mut zusammennehmen! Unsere Kraft! Wie Ikarus sollten wir uns auf gefiederten, schimmernden Schwingen erheben und hinauffliegen, hinauf, der Sonne entgegen.

Einen Augenblick dachten wir darüber nach.

Es klang okay, aber es war inhaltslos.

»Ist dir klar, dass er selbst daran schuld war, dass die Flügel geschmolzen sind?«, sagte David. »Sein Vater war ein genialer Ingenieur. Er hat ihn davor gewarnt, zu hoch oder zu niedrig zu fliegen. Oben ist es zu heiß, unten zu feucht. Diese Flügel waren ganz große Klasse, Mann. Ikarus hat schlichtweg die Vorgaben total ignoriert. Im Grunde war der Typ ein Idiot.«