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Es war ein Schock, als wir das Flussdelta mit seinen verflochtenen und sich verschiebenden Sandbänken sahen: Unwillkommene Kolonisten waren an unserer Küste gestrandet.
Zuvor waren die Dünen immer, wenn wir das Meer erreicht hatten, einsam und verlassen gewesen, abgesehen von Vögeln und wogenden Gräsern. Wir konnten mutterseelenallein in Ruhe am Strand entlangspazieren, mit seinen Einsiedlerkrebsen, dem Treibholz und dem Seetang.
Jetzt waren da noch andere. Eine Grillparty. Fleisch lag auf dem Rost, der Geruch trieb bis zu uns herüber. Sonnenschirme mit leuchtend rot-weißen Streifen waren aufgestellt.
Wo waren sie hergekommen? Man gelangte nur mit dem Boot hierher … yep: Da war es. Eine majestätische Jacht in Cremeweiß und Gold dümpelte vornehm vor der Küste.
Am Strand spielten Teenager Volleyball.
Wir fühlten uns unserer Rechte beraubt, hatten aber keinen Plan. Und auch keine moralische Überlegenheit. Es war ein öffentlicher Ort.
Die Situation wurmte uns.
Doch wir mussten nur Geduld haben. Bald würde die Sonne untergehen, und wir wären allein. Zunächst bauten wir unseren provisorischen Schutz auf der anderen Seite der verzweigten Wasserrinnen – einen Pavillon ohne Wände, als Dach die verschlissenen Planen aus dem Geräteschuppen, von denen das Vinyl in Fetzen abging.
Wir banden die Planen an den Büschen am Rand der Dünen fest und stützten sie mit Angeln und Skistöcken ab. Viel Wind würden sie nicht aushalten. Schlafsäcke und zusammengelegte Kleidung dienten uns als Kissen. Zumindest bis zum Sonnenaufgang, während die Kolonisten in ihren Luxuskojen schliefen, würden wir unser eigenes Reich aus Salzwasser und Sand haben.
Wir kauten unsere durchweichten Sandwiches und sahen zu, wie die Griller ihre gestreiften Sonnenschirme zusammenlegten. Von der Jacht her kam ein schnurrendes glänzendes Rennboot ins flache Wasser gefahren.
Aber hey! Was war das denn?
Matrosentypen in weißen Uniformen sprangen mit Bündeln aus dem Boot. In Nullkommanichts waren elegante Zelte aufgebaut – hochwertige in glänzendem Cremeweiß, passend zur Jacht, das Logo eines Alpinausrüsters auf der Seite. Mit Türklappen und Regenschutz. Vier Stück, ordentlich aufgereiht. Eine kleine Stadt über der Flutmarke.
Wir starrten diese hübschen Zelte an.
Die Jachtkids umarmten ihre Eltern und sagten Gute Nacht, während wir bibberten. Das Boot düste davon. Sie machten ein kleines Feuer und setzten sich in zusammenpassende Campingstühle im Kreis darum. Sogar ihre Marshmallowspieße waren vorgefertigt – sie hielten die Metallstäbe über das Feuer und rösteten sie.
Na gut. Wir würden auch ein Feuer machen. Ein großes. Ihr Feuer würde verschwinden gegen unseres. Unser Feuer würde umwerfend sein.
Wir hatten Scheite vom Holzhaufen dabei und zum Anzünden uralte Ausgaben des New York Observer, die wir aufgestöbert hatten. Dank Rafe auch einen Benzinkanister. (Marshmallows waren schließlich Kinderkram. Außerdem hatten wir keine.) Juicy hatte den letzten Wettbewerb gewonnen und einen Gegenstand zum Kaputtmachen mitgebracht, und so schichteten wir einen prächtigen Stoß auf. Obenauf setzte ich das Objekt seiner Wahl: ein antikes Holzschwein mit einem Babyhäubchen. Und sehr langen Wimpern.
Bald schlugen die Flammen hoch. Schwarzer Rauch und beißende Dämpfe, auch von Benzin und womöglich bleihaltiger Farbe, trieben mit dem Wind zu den Jachtkids hinüber. Geschieht ihnen recht, sagte Rafe. Wir kicherten hämisch wie Hexen am Feuer.
Bald darauf tanzten Stirnlampen auf uns zu. Mannhaft wateten Jachtkids durch das Flussdelta, barfuß und braungebrannt, die Shorts genau in der richtigen Länge. Einige von uns erhoben sich stolz, andere nahmen eine eher unterwürfige Haltung ein.
»Hey, Leute!«, sagte der Große ganz vornedran. Eine blonde Strähne fiel ihm über die Stirn. Er trug ein Poloshirt. Er war ein wandelndes Werbeplakat für Abercrombie & Fitch. »Alter! Was’n geiles Feuer! Ich hab ein bisschen Gras. Will jemand was rauchen?«
Und grinste breit.
»Na logo«, sagte Juicy.
Und so zerbröckelte das Imperium.
Ich persönlich war zu dieser Zeit gerade dabei, mich mit dem Ende der Welt auseinanderzusetzen. Zumindest der Welt, wie wir sie kannten. Das taten viele von uns.
Die Wissenschaftler sagten, das Ende sei jetzt da, die Philosophen sagten, mit der Welt sei es schon immer zu Ende gegangen.
Die Historiker sagten, es habe bereits früher finstere Zeiten wie das Mittelalter gegeben. Es würde sich alles klären, denn mit etwas Geduld käme am Ende die Aufklärung und dann eine breite Palette von Apple-Geräten.
Die Politiker behaupteten, alles würde gut. Es würden Anpassungen vorgenommen. Genau wie unser menschlicher Erfindungsreichtum uns diesen Schlamassel eingebrockt hatte, so würde er uns auch wieder davon befreien. Vielleicht würde es mehr Elektroautos geben.
Daran merkten wir, dass die Lage ernst war. Denn ganz offensichtlich logen sie.
Uns war natürlich klar, wer dafür die Verantwortung trug: Schon vor unserer Geburt war es eine ausgemachte Sache gewesen.
Ich wusste nicht so recht, wie ich es Jack beibringen sollte. Er war ein feinfühliger kleiner Kerl und sehr umgänglich. Voller Hoffnung und Angst. Er hatte oft Albträume, und ich tröstete ihn, wenn er daraus hochschreckte – es waren Träume von verletzten Kaninchen oder gemeinen Freunden. Beim Aufwachen wimmerte er »Hase, Hase!« oder »Donny! Sam!«.
Das Ende der Welt, das würde er wohl nicht so gut aufnehmen. Aber es war eine Christkindsituation: Eines Tages würde er die Wahrheit herausfinden, und wenn sie nicht von mir kam, würde ich am Ende wie eine Politikerin dastehen.
Die Strategie der Eltern bestanden im Leugnen, darauf beharrten sie. Sie leugneten natürlich nicht die Wissenschaft – schließlich waren sie liberal. Eher leugneten sie die Realität. Ein paar hatten uns in Survival-Camps geschickt, in denen die Glücklichen lernten, Knoten zu binden. Motoren zu reparieren. Sogar stehendes Wasser ohne chemische Filter zu sterilisieren.
Aber die Haltung der meisten war simpel: Business as usual.
Meine Eltern verheimlichten die Wahrheit vor Jack. Und er war bereits misstrauisch, weil in der zweiten Klasse eine Lehrerin eine erdrückende Information über Eisbären hatte durchsickern lassen: Das Meereis schmolz. Das sechste Massensterben. Jack sorgte sich auch um die Pinguine. Er war Pinguinfanatiker – er kannte sämtliche Arten und konnte sie in alphabetischer Reihenfolge aufzählen und sie malen.
Wir mussten uns einmal zusammensetzen, er und ich. Aber wann?
Ich schob es vor mir her. Der Junge war erst neun. Er konnte immer noch keine Uhr lesen, die Zeiger hatte.
Dann kamen die Jachtkids, mit ihrem medizinischen Cannabis und ihren straffen Körpern. Sie gingen alle auf dasselbe Internat. Und stammten aus Südkalifornien, Bel Air und Palos Verdes und den Palisades.
Wir begriffen bald, dass es dort anders zuging.
»Eure Leute«, fragte das Alphamännchen bekifft. Sie hatten ihre Campingstühle hergetragen: Auf Handtüchern sitzen kam für sie nicht infrage. »Haben sie schon ein Refugium?«
»Ein Refugium?« Sukey nahm einen Zug. Hielt die Luft an. Sie saß ein bisschen zu nahe bei ihm, schien sich in der Abercrombie-Aura zu sonnen. »Du meinst – ein Gut, auf dem sie Pot anbauen?«
»Du bist ja lustig.« Der Alpha stupste sie mit seiner muskulösen Schulter. Im Spaß.
Er hieß James. Man nannte ihn nicht Jim.
»Zum Totlachen.« Sukey reichte Juicy den Joint.
»Na, du weißt schon, so ein Refugium zum Überleben, wenn das Chaos ausbricht? Unseres ist in Washington«, sagte ein anderes Jachtkid. Er hatte sich ein affiges Tuch um den Hals gebunden.
Echt keine gute Idee. In Sachen Mode schien er bei denen das Äquivalent zu Low zu sein.
»State natürlich, nicht District. Eh klar«, fügte er hinzu.
»Unseres ist in Oregon«, sagte James. »Eine riesige Solaranlage. Sieht verdammt aus wie Ivanpah. Mit sage und schreibe elf Notstromgeneratoren.«
Juicy hatte keine Ahnung, wovon sie redeten, aber das hatte ihn noch nie aufgehalten.
»Glaub’s nicht, elf, das ist ja quasi Overkill«, sagte er.
James legte geduldig, aber weise den Kopf schief.
»Auf dem Land ist in technischen Dingen Redundanz entscheidend«, erklärte er. »Es geht um mehrere Fehlerquellen. Integriertes Systemdesign.«
»Nimm’s mir nicht übel«, sagte ich, »aber wir haben keinen Dunst, wovon du redest.«
»Sprich für dich selbst«, protestierte Sukey.
»Ach so?«, sagte ich. »Okay, Sukey, erklär’s mir.«
»Hey, Jack!«, rief sie. »Magst du noch was Süßes? Komm rüber! Die haben S’mores mitgebracht!«
Klassisches Ablenkungsmanöver. Das musste ich ihr lassen.
»Ich muss mal«, sagte Jack, ein bisschen wehleidig.
»Pinkel doch einfach ins Meer, kleiner Mann«, sagte James. »Das Meer ist groß. Es packt vielleicht den sinkenden pH-Wert nicht, aber dein Pipi schafft es.«
Jack schüttelte verlegen den Kopf.
Er hatte ein Buch über furchterregende Tiere gelesen. Wenn man ins offene Wasser pinkelte, konnte es sein, dass ein bestimmter Fisch dem Urinstrahl folgte und sich mit Widerhaken in den Penis grub. Ein Flussfisch im Amazonas und wahrscheinlich ein Fabelwesen, aber er hatte das Buch letztes Jahr gelesen, und ich vermutete, dass er sich jetzt daran erinnerte.
»Ich gehe mit ihm.« Ich stand auf, ganz die ältere Schwester.
»Ich muss aber groß«, flüsterte er dringlich, während wir uns in die Dünen aufmachten.
»Warte«, sagte ich. »Ich hole Klopapier.«
Als ich im Pavillon im schwachen Licht einer Laterne unsere Vorräte durchsuchte, bekam ich ein Gespräch am Lagerfeuer mit.
»Ich habe gehört, Missy Ts Refugium liegt in Deutschland«, sagte ein Jachtkid zu einem anderen. »So ein großer Bunker unter einem Berg? Ein Deal aus dem Kalten Krieg, erbaut von den Sowjets?«
»Vivos. Es hat einen eigenen Bahnhof.«
»Abgeschirmt gegen eine atomare Explosion aus nächster Nähe.«
»Die atomare Bedrohung. Goldig.«
»Das klingt ja fast schon harmlos.«
»Gegen die Klimanummer wirken Atomwaffen geradezu drollig. Wie Angst vor Kanonenkugeln haben.«
»Vor Steinschleudern.«
»Vor einem Recurvebogen der Hyksos.«
»Vor kanaanitischen Sichelschwertern.«
Ich war gerade nicht auf dem Laufenden, was die Kanaaniten betraf. Vielleicht würde ich sie einmal googeln.
»Die haben einen DNS-Tresor. Hat eure einen Tresor?«
»Nein. Aber eine Saatgutbank. Nichthybrid.«
»Missy. Oh Mann. Die sehen wir nie wieder. Dann werden nämlich keine Flugzeuge mehr fliegen. Nicht mal die Falcon 900 von ihrem Daddy.«
»Bye-bye, Flugsicherung. Bye-bye, Missy.«
»Echt schade. Mann. Missys Blowjobs sind legendär.«
»Du sagst es. Schöne Scheiße.«
Ich musste diese Typen von Jack fernhalten.
Doch die Jachtkids diskutierten über die Vorbereitungen ihrer Familien auf die Endzeit nur nachts, komplett relaxed aufgrund einer Züchtung namens »Oracle« – die laut James achthundert Dollar pro Unze kostete.
Tagsüber spielten sie Beachvolleyball. Stundenlang. Es schien ihnen nie langweilig zu werden, und sie waren wirklich talentiert. Ich konnte mir gut vorstellen, wie die Mädchen bei der Sommerolympiade mitspielten und ihre glänzenden Körper die Kameras auf sich zogen. Manchmal legten sie eine Pause ein, um in den Dünen zu knutschen oder sich zu sonnen – ich hatte ja gedacht, das mache man seit dem 20. Jahrhundert nicht mehr, aber die Jachtkids kümmerte Hautkrebs nicht. Wenn sie noch lange genug lebten, um ein paar Melanome zu bekommen, würden sie die Korken knallen lassen.
Es waren zwei Mädchen und vier Jungs. Sie waren uns zwar zahlenmäßig unterlegen, aber das machten sie durch ihre individuelle Stärke wett. Wir konnten sie nicht einmal alle zusammen als Team schlagen. Noch nicht mal annähernd mithalten.
Wir lachten darüber. Die einzige Möglichkeit, das Gesicht zu wahren.
In regelmäßigen Abständen meldeten sie sich bei ihren Eltern und schmeichelten sich ein. Der Typ mit dem Halstuch machte seiner Mutter Komplimente über einen hässlichen lila-orangen Sarong.
Die Eltern seien ihre Versicherungspolice, sagte James. Man müsse diplomatische Beziehungen pflegen.
»Aber mal ehrlich, selbst wenn ihr euch wie völlige Idioten verhalten würdet, die würden euch doch nicht aussetzen«, sagte Jen am zweiten Abend.
Am späten Vormittag waren die Jachteltern herübergekommen, hatten sich in einem leicht paralysierten Zustand – ganz ähnlich wie unsere Eltern – zum Trinken hingesetzt, bis die Sonne unterging, dann brachen sie wieder auf, um an Deck einen Schlummertrunk zu nehmen. Eine dreiköpfige Kombüsenbesatzung hatte ihnen am Strand Lunch und Dinner serviert und dazu Mixgetränke aus einer mobilen Bar.
Als ich am Strand spazieren ging, sah ich, dass die Jacht den Namen Cobra trug, in goldenen Lettern. Sie war nicht gemietet wie das Sommerhaus, sondern sie gehörte allein James’ Vater – einem »VC«, wie er es ausdrückte.
Das stand für venture capitalist, Risikokapitalanleger, erklärte uns Terry nervigerweise, als hätten wir das nicht gewusst.
Na ja, also, ich wusste es quasi nicht direkt, aber da klingelte was bei mir.
James’ Mutter war verschollen. Wahrscheinlich war sie am Leben, aber wenn man Fragen stellte, bekamen sie glasige Augen. Der Vater hatte eine dritte Trophäenfrau, vier Jahre älter als James. Ein Model, erzählte ein Jachtmädchen namens Tess.
Ich hatte Jack schon ins Bett gesteckt. Er lag am anderen Ende des Pavillons neben Shel und las im Licht der Stirnlampe. Die beiden Freunde, sein Lieblingsbuch. Seine zweitliebste Reihe war George & Martha. Zwei liebenswürdige Hippos. Einander platonisch zugetan.
Er konnte eigentlich schon anspruchsvollere Bücher lesen – solche ohne Bilder –, und die mochte er auch. Aber er liebte seine alten Favoriten.
»Ihr wärt doch immer noch ihre Kinder«, beharrte Jen. »Würden die euch draußen vor den Mauern ertrinken lassen, wenn die Flut kommt?«
»Es geht um zwischenmenschliches Kapital«, sagte James. »Wir möchten das lieber nicht verspielen. Wir wollen glatte Einsen. Wir wollen eine einwandfreie Bilanz. Makellos. Wir wollen die bestmögliche Durchschnittsnote.«
Sukey saß auf der einen Seite von ihm, Jen auf der anderen. Ich setzte mich gegenüber von den dreien hin, neutral wie die Schweiz. Ich für meinen Teil verspürte nicht den Drang, mit ihm rumzumachen. Er war ziemlich gut aussehend, das schon, aber er ließ mich an Margarine denken. An steife, noch ungetragene Turnschuhe. Vielleicht an eine Rolle dickes gebleichtes Küchenpapier.
»Und wie kriegt ihr das hin?«, fragte Sukey. »Also mal ehrlich. Die Drogen. Der Sex. Nur für den Anfang. Ihr bekifft euch. Ihr geht miteinander ins Bett. Kriegt man in Südkalifornien dafür die Bestnote?«
»Na ja. Das sind Bewältigungsstrategien«, sagte James.
Er hatte auf alles eine Antwort.
»Vorsicht ist der bessere Teil der Tapferkeit«, fügte Tess hinzu. »Darf ich mal die Bong haben?«
»Heinrich IV, erster Teil«, sagte James und reichte sie ihr. »Fünfter Akt, vierte Szene. Falstaff.«
»Das wird gerne falsch zitiert«, sagte der Halstuch-Typ. »Sorry, Tess. ›Der bessere Teil der Tapferkeit ist Vorsicht, und mittelst dieses besseren Teils habe ich mein Leben gerettet.‹ Zeilen 3085 – 86.«
»Falstaff stellt sich auf dem Schlachtfeld tot«, nickte James. »Dann verteidigt er seine Feigheit.«
Die Jachtkids hatten ihr eigenes Spiel. Sie nannten es »Shakespeare im Schlaf«.
»Minuspunkt, Minuspunkt, Minuspunkt«, sagte Rafe unleidlich.
An Tag drei ging uns mittags das Essen aus. Jemand hatte die größte Kühltasche offen gelassen, und nun hockten Möwen auf dem Rand und zerrupften mit ihren mächtigen Schnäbeln Brotbeutel. Obst- und Käsestückchen lagen im Sand, und bald waren sogar die weggeschnappt – die Möwen verhielten sich ganz anders als die Hirsche. Sie stoben nicht auseinander, wenn wir sie anbrüllten, und wenn doch, dann nur zum Schein. Sie kamen sofort wieder zurück.
Sie machten sich über unser Grillgut her und pickten daran. Schlangen es herunter.
Also gaben wir auf.
Ich ärgerte mich wegen einer Packung Kekse, die ich mir aufgespart hatte.
»Wir müssen Nachschub holen«, sagte Terry, als die Schuldzuweisungen aufgehört hatten. »Zwei von uns müssen flussaufwärts.«
»Wir könnten ja auch gleich schon ganz zurück«, schlug Rafe vor. »Ich vermisse Toiletten mit Spülung.«
»Auf keinen Fall«, widersprach Jen. »Ich bin mit James noch nicht so weit.«
Terry warf ihr einen gekränkten Blick zu. Sie beachtete ihn nicht.
»Wir ziehen Streichhölzer«, sagte David.
Wir verwendeten Strandhafer. Wir rissen ihn nicht heraus – Jack ermahnte uns, die Pflanzen nicht zu verletzen –, sondern schnitten die Halme fein säuberlich mit einem Taschenmesser ab. Terry und Rafe zogen die kürzesten Halme. Sie trugen die leeren Kühltaschen in ein Boot und ruderten los. Terry war sichtlich beleidigt.
Sobald das Boot auf dem kleinen Fluss verschwunden war, gingen ein paar von uns zu den Jachtkids, die sich gerade Hummerbrötchen schmecken ließen. Dee hatte am Tisch des Kochs Handdesinfektionsmittel gefunden und rieb sich damit ein wie mit Sonnenschutz – ihr eigener Vorrat musste wohl erschöpft sein. Sukey, Jen und ich nahmen uns Limodosen aus der Kühlbox der Jachtkids, dann setzten wir uns neben Tess unter ihren Sonnenschirm, während Low sich vor uns aufbaute, womöglich, um ihr schöne Augen zu machen. Auf ihrer Stranddecke war kein Platz mehr.
»Es ist unser letzter Abend«, sagte sie und tauchte einen Shrimp-Appetizer in rote Sauce. »Morgen früh fahren wir Richtung Newport.«
»Jetzt schon?«, sagte Sukey.
»Echt?«, fragte Jen.
»Eigentlich wollten wir schon gestern los«, sagte Tess kauend. »Aber James hat sie überredet, noch zu bleiben. Warum auch immer.«
Sukey und Jen sahen einander an. Sukey trank einen Schluck aus ihrer Dose, streckte eines ihrer langen Beine aus, spitzte die Zehen und drehte den Fuß hin und her. Jen nahm sich einen Shrimp aus Tess’ Becher und steckte ihn sich in den Mund.
Ich starrte auf die kleinen schwarzen Stielaugen der Shrimps.
»Sieh dir das an. Die streiten sich noch darum, wer von ihnen dieses arische Arschloch abschleppt«, sagte Low, als wir beide weggingen.
Unter dem Strich waren die Jachtkids einfach zu WASP für ihn. Er nannte sich gerne ein Juwel der kasachischen Jugend – und er beschäftigte sich mit Geschichte, um sich mit mongolischen Horden brüsten zu können. Er hatte an irgendein Gentest-Labor einen Wangenabstrich geschickt, und aus dem Ergebnis war abzulesen, dass er ein Neffe von Dschingis Khan war.
Ein paar Generationen entfernt. Aber im Prinzip schon, sagte er.
Jack und ich gingen ans Wasser, damit er nach Strandschnecken suchen konnte (raue, flache und große, wie er mir erklärte). Er hatte ein bisschen Angst vor den Wellen, deshalb watete er nicht wie ich in der Brandung. Stattdessen saß er stundenlang an einem Gezeitenbecken und suchte Fische und anderes kleines Getier. Jeden Stein, den er bewegte, legte er vorsichtig wieder zurück, um nur ja keinen Krebs zu verletzen.
Ich saß da und betrachtete die Brecher und den Himmel. Das war meine Lieblingsbeschäftigung, wenn ich am Meer war. Ich versuchte, mich in der Weite von Wasser und Luft zu verlieren. Ich lenkte meine Aufmerksamkeit immer höher hinauf, durch die Atmosphäre, bis ich mir fast vorstellen konnte, die Erde zu sehen. So wie die Astronauten, als sie zum Mond geflogen sind.
Wenn man Nichts sein konnte, konnte man auch Alles sein. Sobald meine Moleküle sich verteilt hatten, würde ich für immer hier sein. Frei.
Teil des Überzeitlichen. Der Himmel und der Ozean wären auch ich.
Moleküle sterben nie, dachte ich.
Hatten sie uns das nicht in Chemie erzählt? Hatten sie nicht gesagt, rein statistisch enthalte jeder unserer Atemzüge ein Molekül von Julius Cäsars letztem Atemzug? Das gilt auch für Lincoln. Oder unsere Großeltern.
Moleküle tauschten sich aus und vermischten sich, in einem fort. Partikel, die früher andere gewesen waren und sich jetzt durch uns hindurchbewegten.
»Evie!«, rief Jack. »Schau mal! Ich hab einen Sanddollar gefunden!«
Das war das Traurige an meinen Molekülen: Sie würden sich nicht an ihn erinnern.
Als wir zurückkamen, hatte die Kombüsenbesatzung den Lunch durch das Abendessen ersetzt. Der Himmel war von schwachen lila Streifen durchzogen, und zwei der Jachteltern schwammen – ein seltenes Ereignis. Ich sah unser grünes Ruderboot aus dem Gewirr von Schilfgras und Gestrüpp hervorgleiten, das die Mündung des Flüsschens markierte, und in das Delta hineinfahren.
Jetzt saßen drei Passagiere darin, nicht zwei.
»Wer ist denn das?«, fragte Jack und blinzelte Richtung Boot. Ich konnte es nicht sagen.
Die meisten aus unserer Gruppe waren drüben bei den Jachtkids, wo es Essen und Getränke zu holen gab. Nur Low und Val waren in der Nähe unseres Pavillons geblieben. Als wir durch den Sand auf sie zustapften, unsere nassen Schuhe an den gekrümmten Fingern hängend, zeichnete sich etwas Kunstvolles, Dunkles vor uns ab.
Sie hatten eine gewaltige Sandburg gebaut, einen Turm, der oben spitz zulief. Die Basis war rund, und mehrere Reihen brettartiger Schichten führten spiralförmig nach oben. Val und Low standen rechts und links davon, Sand in den Haaren und unter den Fingernägeln, in den Händen Kochtöpfe und Pfannenwender.
»Ich hatte da so eine Vision«, sagte Low.
»Eine Vision«, sagte Val.
»Von einem Turm«, sagte Low.
»Das sehe ich«, sagte ich.
»Der ist cool«, sagte Jack und blickte nach oben.
»Hoppla.« Low wandte sich zum Ruderboot um. »Moment mal. Ist das Alycia?«
Wir erinnerten uns kaum noch an sie.
Wir winkten und sahen zu, wie das Boot näher kam. Rafe verstaute die Ruder, Terry sprang hinaus und zog den Bug auf die Sandbank. Alycia, in einem langen Seidenkleid und silbernen Pumps, trat behutsam auf den Sand.
Die Meeresbrise blies ihr hauchdünnes Gewand an ihren Körper. Auf beiden Seiten ihres konkaven Bauchs traten die Hüftknochen vor.
Ich hatte einmal ein Foto von heiligen Kühen am Ganges gesehen. Ausgezehrt.
»Was hast du denn da an?«, fragte ich.
»Keine Zeit zum Umziehen«, sagte sie. »Ich musste schnell los.« Sie schleuderte die Pumps weg und zog sich das Kleid über den Kopf. Dann stand sie da, in Spitzen-BH und Stringtanga.
Ein paar Jachtpapas starrten in unsere Richtung.
»Evie!«, flüsterte Jack mir hörbar zu. »Die ist ja nackig!«
»Hör zu, Kleiner«, sagte Alycia. »Wie heißt du noch mal?«
»Jack«, sagte Jack.
»Okay, okay. Also, Jack, ich kann dir zeigen, was nackig ist, wenn du willst. Das ist es jedenfalls nicht. Siehst du das Stück Stoff hier? Das nennt man Unterwäsche.«
»Aber ich kann deine Regina sehen.«
»Heute ist dein Glückstag, Jack.«
Sie wandte sich von uns ab, lief durch das flache Wasser und tauchte. Anmutig wie ein Delfin.
Die Jachtpapas gafften. Sie kraulte weiter bis hinter die Brandung.
»Warum ist heute mein Glückstag?«, fragte Jack.
Ich fuhr ihm durch die Haare.
»Also, sie war mit diesem älteren Mann in der Kneipe in der Stadt«, erzählte Rafe, der mit der kleinsten Kühlbox über die Sandbank zu uns kam. »Sie hat quasi einen Lapdance für ihn aufgeführt. Da kam ihr Vater rein und ist ausgerastet. Wollte den Typ festnehmen lassen. Ihn anzeigen. Wegen Vergewaltigung. Oder richtiger: sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen.«
»Sexueller Missbrauch«, nickte Val. »Von Minderjährigen.«
»Der Typ hat gesagt, er dachte, sie sei vierundzwanzig. Aber jetzt hört euch das an: Es stellt sich raus, dass der Vater zu einem Tinder-Date verabredet war. Was Alycia wusste, weil sie das Mädchen beim Swipen beobachtet hatte, bevor er reingekommen ist. Und Alycia sagt: ›Da wäre Mama aber nicht sonderlich begeistert, oder? Also halten wir am besten alle beide den Mund.‹ Im Prinzip Erpressung.«
»Erpressung«, sagte Val. »Im Prinzip.«
Mir gefiel Alycias Haltung Jack gegenüber nicht, aber was soll’s. Sie war nun mal kein Mauerblümchen.
Von der Jacht kam eine Einladung: An Bord der Cobra, die den letzten Abend in unserer Bucht ankerte, sollte es eine Party geben. Wir waren eingeladen.
Ich tippte mal, dass Alycias Anwesenheit sie auf die Idee mit der Einladung gebracht hatte.
Die Mädchen wollten alle hin, bis auf Val. Die Jungs zuerst nicht, bis auf Rafe, der alles mochte, was teuer war.
Wir stritten uns.
»Ihr verbrüdert euch mit dem Feind«, sagte Low.
Ich sympathisierte mit ihm, doch sobald ich mich Low zurzeit irgendwie verbunden fühlte, folgte unmittelbar darauf ein schwacher, aber anhaltender Ekel,weil ich mich an die Banane erinnerte. Und dazu kam eine gewisse Verärgerung, beinahe schon Bedauern, denn ohne den Bananenatem und wenn man seine Kleidung gegen weniger scheußliche Sachen austauschen würde, konnte Low als gut aussehend durchgehen.
Ich dachte bei mir, wie schmal die Grenze zwischen gut aussehend und nicht gut aussehend doch war, aber – wenn es sie gab, wollte man sie nicht überschreiten.
Jedenfalls hatte er recht: Auf der Jacht wimmelte es von Eltern, die so übel waren wie unsere und wahrscheinlich noch schlimmer.
»Wovor hast du denn Angst?«, fragte Sukey. »Fehlt dir der Mut? Oder bloß Rückgrat?«
Eine Jacht, ein Model und ein letzter Abend mit der Oracle-Bong. Sich das entgehen zu lassen, sei schlimmer, als sich mit dem Feind zu verbrüdern, sagte Sukey. Es sei eine Form der Selbstverletzung.
Jack hatte kein großes Interesse an Partys, außer es gab eine Hüpfburg und einen Geburtstagskuchen. Er wollte sich ein wenig mit seinen Die-beiden-Freunde-Bänden beschäftigen, aber danach, verkündete er, müsse er ein anderes Buch lesen.
»Eine von den Müttern hat es mir gegeben«, sagte er. »Wie eine Aufgabe. Sie hat gesagt, ich muss es lesen.«
Außerdem wollte Jen unbedingt auf die Party, was bedeutete, dass auch Shel jemanden brauchte, der ihn betreute. Ich würde also nicht dabei sein.
Ich war enttäuscht.
Matrosen bauten die cremefarbenen Luxuszelte ab, verpackten sie säuberlich zu kleinen Paketen und luden sie und die Jachtkids in das Rennboot.
»Mach’s gut«, sagte James zu mir, bevor er an Bord ging. Wir reichten uns die Hände. »Ich fürchte, wir werden uns nicht wiedersehen. Verdammt in alle Ewigkeit.«
»Okay«, sagte ich.
»Wie heißt du auf Snapchat?«
»Ich darf kein Snapchat.«
»Dann eben Instagram.«
Als die Sonne zum Horizont sank, kam das Rennboot zurück, um uns zu holen. Ich sah vom Ufer aus zu, wie Alycia in ihrem dünnen, flatternden Kleid und barfuß am Bug stand, eine Galionsfigur. Ihre schwarzen Haare wehten, als das Boot beschleunigte.
Sie trug nicht mal eine Schwimmweste. Der Fahrer hatte alle anderen angewiesen, sich hinzusetzen, und sie fühlten sich unbehaglich in den engen orangen Westen. Aber zu Alycia hatte er anscheinend keinen Pieps gesagt. Vielleicht war er eingeschüchtert.
Die Jachtkids hatten uns ihre Tüte Marshmallows dagelassen. Pastellfarben, aber normal groß, eine seltene Kombi. Jack war hin und weg. Er grillte sechs gleichzeitig, und seine Finger wurden dabei so klebrig, dass ich sie ihm im steigenden Wasser der Flut waschen musste, als er aufgegessen hatte. Wir saßen zwischen unserem Feuer und dem hohen Turm aus Lows Vision – ich, Jack, Shel, Val und Low. Low und ich tranken warmes Bier aus der Dose.
Vom Wasser her wehten Tanzmusikbeats herüber, dann explodierte ein Feuerwerk. Die Raketen erblühten am Himmel über der Jacht, rote, blaue und weiße Blumen. Als wäre Independence Day.
Es war Independence Day, wie uns dann klar wurde. Es war der vierte.
Wir ließen selbst Musik auf einer Boombox laufen, aber wir hatten nur eine CD von Low: Folksongs. Passend zu seinen Batiksachen und Sandalen mochte Low Musik der Sechziger. »And still somehow, it’s cloud illusions I recall. I really don’t know clouds … at all.«
Die Akkus schwächelten.
Nachdem die Musik aufgehört hatte, schlug jemand vor, Gruselgeschichten zu erzählen. Wir entschieden uns für die von dem einhändigen Mörder, der dem Teenagerpärchen auflauerte, das in seinem geparkten Pick-up knutschte. Die beiden hörten ein Kratzen, ignorierten es aber. Und als sie aus dem Wagen ausstiegen, hing eine Hakenhand am Türgriff.
Jack kreischte.
Dann gab es noch eine witzige Geschichte von bleichen Augen am Fuß des Bettes eines kleinen Mädchens. Spannung, Spannung: Es waren ihre eigenen großen Zehen, deren Nägel im Mondlicht glänzten.
Low rückte währenddessen näher zu mir heran. Mit einem Bein berührte er meines. Er tat so, als wäre es eine selbstverständliche Bewegung. Ich zog mein Bein weg.
Und beschloss zu sprechen. Vielleicht war der Zeitpunkt gekommen. Nicht unbedingt für Shel – im Dunklen konnte er nicht von den Lippen lesen –, aber für meinen Bruder.
»Hey, Jack? Ich muss dir jetzt eine neue Geschichte erzählen. Aber es ist eine echte. Eine Geschichte von der Zukunft, Jack.«
Jack starrte mich müde an.
»Evie. Geht es darin um die Eisbären? Und um Pinguine?«
»Ja, Jack«, sagte ich. »Um Eisbären und um Pinguine. Und um uns.«
Danach wischte er sich die Augen und nahm eine aufrechte Haltung ein. Mein Jack war ein tapferer Junge.
Am nächsten Morgen schlief ich lange, denn ich war in der Nacht jedes Mal aufgewacht, wenn Jack sich drehte und wälzte, vor lauter Sorge, ich hätte ihm Albträume bereitet. Als ich aufstand, hatte die Cobra den Anker gelichtet. So weit ich sehen konnte, war da nur der flache Ozean.
Die Nachtschwärmer um mich herum schliefen weiter, stille Beulen in ihren Schlafsäcken. Bis auf Rafe, der ausgestreckt im Sand neben der Glut unseres Feuers lag. Es sah so aus, als hätte er eine Toga an.
Und Jack, der mir das Buch zeigte, das er gerade las. Er wiederholte noch einmal, dass er es von einer Mutter bekommen hatte.
»Von welcher Mutter?«, fragte ich.
Denn es hieß: Die Kinderbibel: Geschichten aus dem Alten und dem Neuen Testament.
»Es war die Frau, die … sie hat immer Kleider mit Blumenmuster an.«
Die Bauernmutter. Die auf Pflanzen fiel.
»Diese Frau hat dir eine Bibel geschenkt?«
Für unsere Eltern war religiöse Erziehung keine Priorität. Als wir in die Sommerferien aus der Stadt hinausgefahren waren, hatte Jack – während er eine Pause vom Minecraft-Spielen auf seinem Tablet machte – aus dem Autofenster geblickt, auf die Spitze der Bethany Baptist Church gezeigt und meine Mutter gefragt, was das lange Pluszeichen bedeute.
»Da sind viele Geschichten mit Bildern drin. Mit Menschen und Tieren, aber nicht so netten wie George und Martha«, sagte er.
»Na ja«, meinte ich. »Wen wundert’s.«
Jack erzählte, in der ersten Geschichte komme eine sprechende Schlange vor und eine Frau, die sehr gerne Obst esse. Sie heiße genau wie ich!
»Aber mir gefällt nicht, dass in der Schlange ein böser Mann drinsteckt. Das ist gemein. Hast du gewusst, dass Schlangen mit der Zunge riechen?«
»Worum geht’s denn in der Geschichte?«, fragte ich.
»Also, wenn du in einem schönen Garten wohnen kannst, solltest du nie von dort weg.«
Als sich die anderen gegen Mittag wieder rührten und aufstanden, gähnte David viel zu lange. Ich konnte mehr oder weniger seine Mandeln sehen. Dann fragte er: »Hey. Wo ist Alycia?«
»Ähm, sie ist auf dem Boot geblieben«, sagte Dee. »Sie fährt mit ihnen Richtung Rhode Island.«
»Was? Ach du Schande«, sagte David.
»Ihr Vater wird richtig sauer sein«, sagte Terry. »Rafe hat ihn übrigens identifiziert. Volltreffer. Die sind doch in dem BMW-Oldtimer zum Haus gefahren, wisst ihr noch? Sie ist schnell ausgestiegen, dann lief er ihr nach. Es ist der mit dem fliehenden Kinn, das er mit einem Ziegenbart verdeckt.«
»Aber ich weiß immer noch nicht, wer die Mutter ist«, sagte Low.
»Das finden wir früh genug heraus«, sagte Terry.
»Das werden wohl die sein, die sich scheiden lassen«, sagte Rafe.
Er hatte seine Toga abgelegt – darunter trug er eine Badehose, die ich als die von James erkannte – und schüttelte den Sand ab. Es war ein Bettlaken. »Ich frag mich ja, was das Ding hier für eine Fadenzahl hat.«
»Ich habe gestern drei Eltern klargemacht«, sagte Jen gähnend. »Will das jemand hören?«
»Drei???«, fragte ich ungläubig.
»Ich war besser. Ich habe James klargemacht«, sagte Sukey.
»Im Ernst?«, sagte Rafe. Er hörte auf, das Laken abzuklopfen, und schüttelte den Kopf. »Ich auch.«
Sie starrten einander an.
Juicy lachte laut.
Das Togalaken stamme aus James’ eigener Koje, behauptete Rafe (als wäre das ein Beweis).
Sukey sagte, James und sie hätten es im Cockpit getan. Nannte man das so, auf einem Schiff?
Dann erzählte Dee, sie und James hätten im Gemeinschaftsraum der Jacht herumgemacht, auf einem Pooltisch. Hauptsächlich nur Küssen. Er wollte mehr, aber sie habe ihn nicht gelassen.
Die drei überprüften gegenseitig ihre Schilderungen, indem sie ein Muttermal erwähnten, dann kamen sie auf weitere Details von James’ durchtrainiertem Körper zu sprechen.
»Hey! Hier sind kleine Kinder«, sagte ich. »Macht mal piano, ihr Schlampen.«
Jack las in einer Burg aus Decken George & Martha.
Jen wechselte das Thema. Sie war eindeutig angefressen, weil sie aus dem James’schen Sexclub ausgeschlossen gewesen war. Besonders nachdem es sogar eine verklemmte Person geschafft hatte, die noch nie Oralsex gehabt hatte – wenn man Dee Glauben schenken konnte, und da war ich mir nicht sicher, denn sie hatte schon gelogen.
Terry schaute blasiert.
»Das Spiel ist also so gut wie vorbei«, sagte Jen. »Und warum? Weil wir Arschkriecher unter uns haben.«
Einer von uns, der sich an das Model herangemacht hatte, hatte damit angegeben, dass sein Vater Regisseur sei. Und einfach geradeheraus den Namen genannt. Ein paar Filme des Vaters heruntergespult. Nur um sie zu beeindrucken.
Es war also doch Juicy. Wir hätten es wissen müssen.
»Schäm dich«, sagte Rafe. »Doppelt.«
Juicy ließ den Kopf hängen und spuckte aus. Trat gegen ein paar glühende Kohlestücke.
Jemand anders hatte bei dem Versuch, sich James’ Gunst durch ein Gespräch über Chaos-Refugien zu sichern, behauptet, eine Architektin zur Mutter zu haben. Was Jen wiederum mit einem Gespräch in Verbindung brachte, in dem besagte Mutter erzählt hatte, dass sie in der Fifth Avenue ein Penthouse für einen saudischen Prinzen renoviere. Das war Dee.
Am übelsten, weil am überraschendsten war es, dass Terry dabei gehört worden war, wie er Tess gegenüber plastisch geschildert hatte, wo sich der G-Punkt bei Frauen befand. Tess habe gefragt, warum er so viel darüber wisse, erzählte Jen. Terrys Antwort: weil er eine Gynäkologin in der Familie habe.
Wir wussten alle, wer diese Ärztin war. Sie hatte versucht, uns gemeinschaftlich über die Risiken der Humanen Papillomviren zu belehren, bei einem schlechten Abendessen. Es gab Tofu-Dogs.
Terry stöhnte und nahm sich ein Bier. »Das lag am Oracle, Mann!«
»Du schiebst es auf Gras?«, fragte Sukey. »Erbärmlich.«
Ich war platt.
»Man hat erst gewonnen, wenn man als Einziger übrig ist«, erklärte Low. »Von uns haben noch einige eine Chance.«
»Wie viele seid ihr? Vier?«, fragte Jen. »Wenn Evie und Jack als eins zählen?«
»Ja, ich bin jedenfalls noch dabei«, sagte Sukey.
»Und ich«, sagte Rafe.
»Und ich«, sagte Low.
Trotzdem war uns der Wind aus den Segeln genommen. Die Währung des Spiels war entwertet.
»Jetzt hört doch mal zu«, sagte Low, »echt jetzt. Als wir das Essen geholt haben, da haben sie oben im Sommerhaus gesagt, dass ein Unwetter kommt.«
»Was denn für ein Unwetter?«, fragte Dee erschrocken. Sie erschrak leicht.
»Na ja, was wohl?«, sagte Low. »Ein mega Sturm. Wenn wir bis heute Vormittag nicht zurück sind, wollen sie uns holen.«
Wir diskutierten ein bisschen über die Beachtung von Regeln und ob die Eltern sich das Unwetter bloß ausgedacht hatten, um uns zur Rückkehr zu bewegen – klar, es war Hurrikansaison, aber die Stürme wurden normalerweise erst Ende August oder im September so richtig schlimm.
Doch unser Widerstand war nur halbherzig. In der Ferne, über dem Wasser, machten wir eine niedrige Wolkenbank aus. Ein kühler Wind wehte, und die Meeresoberfläche war matt grau.
Widerwillig packten wir zusammen, bauten die abblätternden Planen und die Skistöcke ab und verstauten alles in unseren Booten.
Jen, die neben mir im Ruderboot saß, war immer noch sauer wegen James. David war geistesabwesend, er wackelte nervös mit einem Bein, und Jack malte trübsinnig Goldschopfpinguine in sein Heft.
Ich stieß ab und ruderte, nachdem niemand von den anderen sich angeboten hatte.
Als ich einen kurzen Blick zurückwarf, entdeckte ich keine sichtbaren Anzeichen unseres Aufenthalts, bis auf ein paar Kuhlen und Fußabdrücke, verkohltes Holz und Asche. Vielleicht lagen jetzt auch ein paar Stöcke woanders. Und da war noch der hohe Turm, der aber einstürzen würde, wenn die Flut kam. Wir wussten, was zu tun war: keine Spuren hinterlassen.
Natürlich gab es immer Spuren. Der Trick bestand darin, sie zu verbergen.
Wir hatten ganz sicher einige Moleküle zurückgelassen, dachte ich, während ich durchzog. Aber nichts, das verriet, wer wir waren. Nur Haut und Nägel und Haare, weit hinaus ins Meer getragen.