Kapitel 2
Jackman steckte bis zum Hals in Berichten, als Marie von Jack Archer zurückkam. »Zeitverschwendung?«, fragte er, nachdem er einen Blick in ihr ungewöhnlich ernstes Gesicht geworfen hatte.
»Nein, ganz im Gegenteil. Er ist ein netter alter Mann und war sehr hilfsbereit.« Marie stellte zwei Kaffeebecher auf Jackmans Schreibtisch und schloss die Tür.
»Warum sind Sie dann so schlecht gelaunt?«
»Ach, ich muss nur immer wieder an dieses hübsche junge Mädchen denken, das auf so grausame Weise gestorben ist.«
Jackman schloss die Akte, an der er gerade arbeitete, und deutete auf den Besucherstuhl. »Setzen Sie sich.«
Er griff nach einem der beiden Becher, nahm eine Handvoll Zuckertütchen und betrachtete Marie nachdenklich, während er den Zucker in den Kaffee rührte. Sie war eine attraktive Frau mit langen, glänzend braunen Haaren und einer aufrechten Haltung, die dafür sorgte, dass sich die Männer immer noch nach ihr umdrehten, auch wenn sie mittlerweile sechsundvierzig war. Sie war eine Amazone und nutzte diese Ausstrahlung bei Verbrechern und
Kollegen gleichermaßen. Jeder wusste, dass man sich besser nicht mit ihr anlegte. Doch Jackman kannte auch eine andere Seite an Marie. Sie war mitfühlend und sanft, aber immer überaus scharfsinnig. Er legte großen Wert auf ihre Meinung und Einschätzung. Ihrer beider Werdegang und auch der familiäre Hintergrund konnten unterschiedlicher nicht sein, aber sie teilten die tiefe Liebe zu ihrem Beruf, und auch wenn sie auf verschiedenen Wegen zu ihren Ergebnissen gelangten, waren sie sich am Ende immer einig.
»Warum trifft Sie dieser Fall so hart? Sie haben doch schon mehr als genug Tote gesehen.«
Marie zuckte mit den Schultern. »Mein erster Fall war auch eine Wasserleiche. Es war ein Mädchen, ähnlich wie die Kleine heute Morgen. Wir konnten sie nie identifizieren.« Sie warf sich die Haare über die Schulter und griff nach ihrem Kaffee. »Es kam mir vor, als hätten wir das Mädchen und seine Familie im Stich gelassen. Wir haben die Angehörigen nie gefunden, und es trat auch niemand an uns heran, aber sie muss doch irgendwo eine Familie gehabt haben. Es ist ein schrecklicher Gedanke, dass sie nie nach Hause gebracht werden konnte, um dort ihre letzte Ruhe zu finden.«
»Wir können nicht allen helfen, Marie. Wir geben unser Bestes, aber manchmal arbeitet das Schicksal einfach gegen uns.«
»Glauben Sie, dass das Mädchen Shauna Kelly ist?«
»Mein Bauchgefühl sagt Ja, aber ich will mich noch nicht mit dieser Möglichkeit befassen, bevor es durch die zahnärztlichen Befunde bestätigt wurde.«
Marie nickte und nippte an ihrem Kaffee. »Egal, wer sie ist – wir müssen herausfinden, was ihr zugestoßen ist. Und
falls es kein Unfall war …« Sie ließ den Rest des Satzes unausgesprochen.
»Ja, natürlich. Aber jetzt erzählen Sie mir erst mal, was der alte Mann über das Meer zu sagen hatte.«
Marie legte eine abgenutzte Karte des fraglichen Küstenabschnittes auf den Tisch und strich sie glatt. »Jack Archer meint, das Mädchen wäre irgendwo in diesem Bereich ins Wasser gefallen.« Sie deutete auf die Karte. »Allenby Creek. Die Gezeiten, die Strömungen und der mäßige Wind in den letzten Tagen machen das zur wahrscheinlichsten Stelle. Es sei denn, sie fiel von einem Boot. Aber das hoffen wir erst mal nicht.«
»Allenby Creek? Das ist sehr abgelegen, oder?«
Marie betrachtete die Karte. »Ja, es liegt an der Grenze zwischen unserem Zuständigkeitsbereich und Harlan Marsh. Es handelt sich vor allem um Farmland und Rohmarsch.«
»Wenn ich mich recht erinnere, war ich als Kind öfter dort. Da war ein ziemlich zugänglicher Strand … in der Nähe des Robbenschutzgebietes am Hurn Point.«
»Mmmm …« Marie ließ ihren schlanken Finger langsam die Küste entlanggleiten. »Genau! Ich sehe, was Sie meinen. Soll ich ein paar uniformierte Kollegen hinschicken?«
»Ich würde lieber selbst hin.« Jackman kaute auf seiner Unterlippe. »Aber Sie haben recht. Ich muss diese Berichte bis zum Abend fertig machen, und die Uniformierten sind durchaus befähigt, das zu erledigen.« Er griff nach dem Telefon. »Ich rede mal mit dem diensthabenden Sergeant, ob er ein paar Leute hat, die sich umsehen und die Anwohner befragen können …«
Wenige Augenblicke später legte er wieder auf. »Alles erledigt.
«
»Sir?« Die Tür ging auf, und der zerzauste Haarschopf von Charlie Button, dem jüngsten Mitglied des Teams, schob sich herein. »Tut mir leid, wenn ich störe, aber Superintendentin Crooke will Sie beide in ihrem Büro sehen.«
Jackman bedankte sich bei dem jungen Detective und trank eilig seinen Kaffee aus. »Du meine Güte, gleich beide! Das lässt Schlimmes erahnen.«
Marie erhob sich. »Dann bringen wir es am besten schnell hinter uns und hoffen, dass es nichts mit dem Budget, Ausgabenkürzungen, Zielvorgaben oder unserer Leistungsstatistik zu tun hat.«
»Oder gleich mit allem auf einmal.« Jackman lächelte matt. »Das gab es nämlich auch schon mal.«
Superintendentin Ruth Crooke war eine schmallippige Frau, die eine ständige Aura der Unzufriedenheit umgab – vermutlich, weil sie es tatsächlich die meiste Zeit über war. Es war einiges nötig, um ihr etwas anderes als eine negative Reaktion zu entlocken, und wenn sie jemanden in ihr Büro zitierte, kam man der Aufforderung am besten so schnell wie möglich nach.
Marie nahm zwei Stufen auf einmal, um mit Jackman Schritt zu halten. Sie freute sich nicht gerade auf die »Höhle der Löwin«, aber sie arbeitete schon lange genug mit der Superintendentin zusammen, um zu wissen, dass sich hinter der harten, kontrollierenden Fassade und der spitzen Zunge eine verdammt gute Polizistin verbarg, und letztendlich zählte nur das.
Marie folgte Jackman in das Büro und setzte ihr strahlendstes Lächeln auf, doch die dünnen Lippen ihrer Vorgesetzten zeigten keinerlei Reaktion.
Stattdessen deutete Superintendentin Ruth Crooke
verärgert auf die beiden Besucherstühle und beschwerte sich erst einmal ausgiebig über ihr letztes Telefonat.
»Ich habe gerade zehn Minuten mit einem dieser verdammten Finanzanalysten gesprochen, der in seinem ganzen Leben noch keine Polizeidienststelle von innen gesehen hat. Jede einzelne seiner Maßnahmen war Mist.« Sie schleuderte ihren Notizblock quer über den Tisch und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. »Ich glaube nicht, dass er noch mal anruft. Ich habe ihm sehr deutlich gesagt, was ich von seinen sogenannten Einsparungsmaßnahmen halte.«
»Ich weiß nicht, wie Sie das schaffen, Ma’am«, erklärte Jackman. »Zehn Minuten in Ihrem Job, und ich wäre reif fürs Irrenhaus.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Irgendjemand muss ihn ja machen – und ich mache ihn ziemlich gut. Wenigstens haben Sie jemanden, der auf Ihrer Seite ist. Als ich das letzte Mal nachgesehen habe, hatten Sie noch Funkgeräte, schusssichere Westen und Autos – oder hat sich daran inzwischen vielleicht etwas geändert?«
Jackman lächelte. Auch wenn ihm seine Vorgesetzte nicht direkt sympathisch war, empfand er eine tiefe, wenn auch widerwillige Bewunderung für alle, die mit Budgets und Zielvorgaben jonglierten.
»Nein, wir können noch miteinander reden, uns schützen und uns fortbewegen. Gott sei Dank! Es wäre wohl nicht gerade hilfreich, wenn wir auf Fahrrädern durch die Fens patrouillieren müssten.« Er lehnte sich ebenfalls zurück und sah die Superintendentin über den großen, glänzenden Schreibtisch hinweg an.
Ruth Crooke schüttelte den Kopf. »Egal. Nachdem es die reinste Verschwendung meiner kostbaren Zeit ist, mit Ihnen über etwas anderes als über Ermittlungsarbeit zu
reden, erspare ich mir das lieber.« Sie schob eine dicke Mappe über den Tisch.
Marie erschauderte, als sie den Namen las.
Kenya Black.
»Wir stehen ziemlich unter Druck. Mir ist natürlich klar, dass der Fall uralt ist, aber die Mutter hat beschlossen, ihn wieder aufzurollen. Sie versucht, die Presse mit an Bord zu holen, und zwar im großen Stil. Sie hat bereits einige bekannte Gesichter auf ihrer Seite und nutzt die sozialen Medien, um Stimmung zu machen.« Crooke zuckte kaum merklich mit den Schultern. »Natürlich kann ich es der armen Frau nicht verübeln, aber wir kommen sicher nicht gut weg, wenn wir hier nur Däumchen drehen. Deshalb wollen die ganz oben, dass der Fall endlich zu den Akten wandert. Und zwar für immer. Ich weiß, dass Sie gerade mit Shauna Kellys Verschwinden beschäftigt sind, aber ich will Ihr Team für diesen Fall. Er hat oberste Priorität.«
Jackman richtete sich auf. »Mein Gott. Es ist doch sicher schon sieben oder acht Jahre her, dass Kenya verschwunden ist, und Sie wollen ihr wirklich oberste Priorität einräumen?«
Jeder in den Fens hatte vom Verschwinden des kleinen Mädchens gehört, aber weder Jackman noch Marie waren Teil des ursprünglichen Ermittlerteams gewesen, weshalb sie keine Einzelheiten kannten.
Jackman runzelte die Stirn. »Ich weiß, dass derzeit nichts passiert, aber es handelt sich immer noch um einen laufenden Fall. Es ist doch sicher noch nicht lange her, dass ein anderes Team noch einmal alles durchgegangen ist, oder?«
»Nein, aber die Wissenschaft und die Forensik machen jeden Tag Fortschritte.«
Marie zermarterte sich den Kopf nach weiteren
Informationen. Sie konnte sich vor allem an das Foto erinnern, das die Medien damals veröffentlicht hatten. Ein Kind mit weißblonden Haaren saß mit einem Spielzeughund auf einem Sitzsack. Das Mädchen trug Jeans und einen gelben Kapuzensweater mit einem aufgedruckten Teddybären. Ihre kleinen Finger gruben sich in das weiche Fell des Hundes. Sie glich einem kleinen Engel, und ihr herzzerreißendes Verschwinden hatte die größte Suchaktion nach sich gezogen, die die Fens je erlebt hatten. Die gesamte Bevölkerung war daran beteiligt gewesen.
Marie runzelte die Stirn, als ihr plötzlich immer mehr Details einfielen. »Jemand dachte, er hätte sie gesehen, oder? Sie spielte mit einem anderen Kind in der Nähe des Robbenschutzgebietes am Hurn Point.«
»Genau. Und eine Woche später wurde einer ihrer Turnschuhe etwa fünf Kilometer die Küste hinauf angeschwemmt, was die Beobachtungen des Mannes zu bestätigen schien.« Das Gesicht der Superintendentin glich einer steinernen Maske.
»Man nahm an, dass sie aufs Meer hinausgetrieben wurde.« Marie erinnerte sich noch an die Schlagzeilen: War es Mord oder ein tragischer Unfall?
»Das ist in etwa der Kern der Geschichte. Die Eltern sind ziemlich wohlhabend, aber es gab nie eine Lösegeldforderung, es wurden keine weiteren Hinweise gefunden, und niemand hat das Mädchen danach noch einmal gesehen. Mal abgesehen von den üblichen Spinnern, die sich jedes Mal melden. Nach einiger Zeit kamen die Verantwortlichen zu dem Schluss, dass sie vermutlich ertrunken war, und wir waren gezwungen, den Fall zurückzustellen.«
»Und jetzt soll er plötzlich wieder oberste Priorität bekommen?
«
»Ich will, dass Sie noch einmal von vorne anfangen und ihn aus einem neuen Blickwinkel und mit einem sehr viel größeren Budget neu beleuchten.« Der Blick der Superintendentin war mehr als eindringlich. »Ich will, dass der Fall ein für alle Mal abgeschlossen wird. Wir sind zwar nicht immer auf einer Wellenlänge, aber ich muss zugeben, dass Ihr Team das gewisse Etwas hat. Ich weiß nicht, was es genau ist, aber wenn
jemand herausfinden kann, was mit dem kleinen Mädchen passiert ist, dann sind Sie es. Sie könnten diesen verdammten Fall endgültig aufklären.«
Jackman nahm die Akte und betrachtete sie mit starrem Blick.
Marie hatte plötzlich ein seltsames Gefühl. Aufregung war nicht das richtige Wort dafür. Eher Beklemmung
. Niemand aus dem ursprünglichen Ermittlungsteam hatte damals an einen Unfall geglaubt, doch nach jahrelanger erfolgloser Suche hatte man ihnen die Entscheidung einfach aus der Hand genommen. Vielleicht wurde es tatsächlich Zeit, dass man mit neuer Kraft versuchte, der trauernden Familie die Möglichkeit zu geben, mit allem abzuschließen.
Jackman erhob sich. »Wir werden unser Möglichstes tun, Ma’am, darauf können Sie sich verlassen. Aber Shauna Kelly hat trotzdem Vorrang. Falls es sich bei dem ertrunkenen Mädchen tatsächlich um Shauna handelt, werde ich die ersten wichtigen Tage der Ermittlungen sicher nicht mit anderweitigen Nachforschungen vergeuden. Sie ist die Tochter einer Kollegin, was zwar nicht bedeutet, dass wir den Fall anders behandeln, aber wir fühlen uns der Mutter verbunden.«
»Natürlich, etwas anderes hätte ich auch nicht erwartet. Wenn Sie Hilfe brauchen, melden Sie sich.« Ruth Crooke fixierte die beiden. »Aber sehen Sie zu, dass Sie den Fall
Kenya Black nicht auf die lange Bank schieben. Es hängt sehr viel davon ab. Als ich vorhin sagte, dass die da oben wollen, dass er schnellstmöglich abgeschlossen wird, habe ich nicht übertrieben, verstanden?« Und damit war das Gespräch beendet.
Marie hatte das Gefühl, dass diese Ermittlungen alles andere als einfach werden würden.
Sie gingen gemeinsam zum Aufzug.
»Kenya Black«, murmelte Jackman. »Das hätte ich nicht erwartet.«
»Ich auch nicht«, pflichtete Marie ihm bei.
»Wie fühlen Sie sich bei dem Gedanken, den Fall zu übernehmen?«
»Na ja, wir können natürlich schlecht Nein sagen. Die Superintendentin hat recht. Die Familie braucht Antworten, und vielleicht sehen wir mehr als das Team vor uns.«
»Das habe ich nicht gemeint.« Jackman sah sie an. »Ich meinte, wie Sie
sich dabei fühlen.«
Sie wurden langsamer. »Ich habe zwar keine Ahnung, warum, aber ich bin ziemlich beunruhigt.«
Sie traten in den Aufzug, und Jackman nickte. »Ich auch. Als ich den Namen auf der Akte sah, zog sich mein Magen zusammen.« Er seufzte. »Aber Sie haben recht. Es wird Zeit, dass dieser schreckliche Fall endlich abgeschlossen wird. Wir sollten also bald die Köpfe zusammenstecken und uns an die Arbeit machen.«
Die beiden schwiegen die restliche Fahrt über, und Marie hatte das untrügliche Gefühl, bald großen Schwierigkeiten gegenüberzustehen.