Kapitel 5
Als Marie am nächsten Morgen zur Arbeit fuhr, bewunderte sie das herrliche Farbenspiel. Über dem flachen Farmland hing Nebel, und der Himmel war von einem dunklen Grau, über das die letzten nächtlichen Wolken zogen und das bereits von einem breiten Streifen in flammendem Orange durchbrochen wurde, aus dem sich der purpurrote Strahlenkranz der aufgehenden Sonne erhob.
Die Bedenken, die sie am Abend zuvor wegen Kenya Black verspürt hatte, waren inzwischen verschwunden, und im Fall Shauna Kelly würden sie heute die Ergebnisse der Gerichtsmedizin bekommen. Anschließend konnten sie endlich das weitere Vorgehen planen, und sie freute sich tatsächlich schon auf den Besuch bei dem Kerl, der so gerne vom Auto aus Frauen auflauerte. Außerdem wollte sie sich die Stelle ansehen, an der Shauna vermutlich ins Wasser gefallen war.
An der letzten Kreuzung vor der Stadteinfahrt musste sie anhalten, bis ein Traktor mit einem Anhänger voller Brokkoli vorbeigefahren war, und sie betete währenddessen leise, dass Shaunas Tod ein tragischer Unfall und kein Vorbote für zukünftiges Unheil gewesen war
.
Als sie schließlich auf den Polizeiparkplatz bog, hatte sich ein Teil der gestrigen Anspannung erneut in ihr breitgemacht.
Jackman hatte kaum den Ermittlungsraum betreten, als jemand seinen Namen rief. Die harsche Stimme gehörte der Sekretärin von Superintendentin Crooke. »Sir, könnten Sie bitte mitkommen? Jetzt gleich.«
Ruth Crooke wartete vor ihrem Büro auf ihn.
»Hören Sie«, sagte sie eindringlich. »Ich weiß, dass Ihnen das, was mein Besucher Ihnen mitzuteilen hat, sicher nicht gefallen wird, aber ich bitte Sie trotzdem, sich einfach zu fügen. Und denken Sie immer daran: Bei Ihren derzeitigen Fällen geht es um ein vermisstes
Mädchen und ein totes
Mädchen. Nicht vergessen!« Sie wandte sich ab, ohne seine Antwort abzuwarten, und marschierte in ihr Büro.
Am Fenster stand ein Mann mit gestrafften Schultern in der Uniform eines Chief Superintendenten. Jackman erkannte ihn sofort. James Cade war der Leiter der benachbarten Dienststelle und hatte den Ruf, ein schleimiger Mistkerl zu sein, mit dem man sich besser nicht anlegte, wenn einem etwas an der eigenen Karriere lag.
»James, das ist Detective Inspector Rowan Jackman.«
Die Superintendentin lächelte angespannt und wandte sich wieder an Jackman. »Chief Superintendent Cade hat ein Problem in Harlan Marsh. Eine junge Frau ist verschwunden, und seine beiden Teams sind mit anderen schweren Verbrechen beschäftigt. Er braucht also unsere Hilfe. Oder besser gesagt: Ihre
Hilfe.«
Jackman wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Erst gestern hatte er den Auftrag bekommen, sich um einen Fall von höchster Priorität zu kümmern, bevor die Sache
zum Problem für die ganze Dienststelle wurde, obwohl er daneben auch noch Shauna Kellys Todesumstände klären musste. Und jetzt bat man ihn tatsächlich, beide Fälle zurückzustellen, um einem anderen Revier zu helfen, weil dort
zu viel Arbeit anfiel?
Er war sprachlos, doch er riss sich zusammen und antwortete: »Tut mir leid, Ma’am, aber wie Sie wissen, habe ich auch nicht gerade wenig um die Ohren. Sie müssen ein anderes Team dafür abstellen. Für eine solche Untersuchung hat DI
Feltham sicher genug Leute.«
Cade unterbrach ihn. »Es wäre mir aber sehr recht, wenn Sie
mir einen Teil Ihrer kostbaren Zeit opfern würden, DI
Jackman«, zischte er und klang beinahe wie eine Schlange.
Jackman wandte sich Hilfe suchend an Crooke: »Ma’am? Was ist mit dem Fall von allerhöchster Priorität?«
»Ich würde vorschlagen, Sie setzen erst einmal Ihr Team darauf an, um die Sache ins Rollen zu bringen. Es gibt sicher eine Menge Grundlagenarbeit.«
»Und Shauna Kelly?«
»Dasselbe. Sie warten doch noch immer auf den Bericht der Gerichtsmedizin und wissen nicht, ob es ein Unfall war oder Fremdverschulden anzunehmen ist, oder? Überlassen Sie auch hier die Vorbereitungen lieber Ihrem Team. Dann können Sie und DS
Evans nach Harlan Marsh hinausfahren und sich ein Bild machen.«
»Vielleicht steckt ja gar nichts dahinter, Jackman.« Cade lächelte. »Das Mädchen ist bereits mehrfach von zu Hause weggelaufen, und falls es auch dieses Mal wieder der Fall sein sollte, wären Sie im Handumdrehen zurück in Ihrem Büro. Ich persönlich bin der Meinung, dass sie eine notorische Ausreißerin ist, aber ihr Vater ist nun mal ein angesehener örtlicher Geschäftsmann, der sich bei
Polizeiveranstaltungen immer als äußerst großzügig erweist, weshalb ich ihm versprochen habe, nur den Besten damit zu betrauen, wenn Sie verstehen, was ich meine?«
Jackman verstand nur zu gut. Er wettete, dass es sich bei dem Wohltäter um einen Golfkumpel mit schlaffem Händedruck handelte, der immer einen versperrten Aktenkoffer bei sich trug, wenn er am Abend das Büro verließ.
Er biss die Zähne zusammen, schluckte jedoch seine Antwort hinunter, als er das Gesicht der Superintendentin sah. Die Botschaft war klar und deutlich: Wagen Sie es ja nicht, Jackman!
»Danke, Rowan, ich wusste, dass ich mich auf Sie verlassen kann.« Ruth entließ ihn mit einem knappen Nicken und einem hastigen Blick zur Tür.
»Es war mir ein Vergnügen«, erwiderte Jackman und verließ eilig den Raum.
Er hastete die Treppe hinunter und traf Marie. Er schaffte es kaum, sich zurückzuhalten, bis sie in seinem Büro waren.
Dort angekommen, legte er sofort los: »Ich kann es nicht glauben! Wir haben mehr Arbeit als je zuvor, aber Crooke will, dass wir auch noch in Harlan Marsh aushelfen. Es ist eine Frechheit! Wir sollen unsere Zeit verschwenden, weil die Kollegen dort mit ›wichtigen laufenden Ermittlungen‹ beschäftigt sind. Was auch immer es ist – ich wette, dass unser Kantinenpersonal den Fall schneller und effizienter lösen könnte.«
Er sah aus den Augenwinkeln, dass Marie mit aller Kraft versuchte, nicht laut loszulachen.
»Das ist nicht
witzig! Die haben nicht das Recht, sich auf Beziehungen zu berufen! Wahrscheinlich ist das vermisste Mädchen nur nach Sheffield gefahren, um sich irgendeine Boyband anzusehen …
«
Er fluchte noch ein paar Minuten weiter, bis ihm klar wurde, wie sinnlos ein solcher Ausbruch war. Sie hatten keine andere Wahl, als der Bitte nachzukommen, und zwar so schnell wie möglich. Wenigstens dauerte die Fahrt kaum länger als zwanzig Minuten.
Nachdem sein Ärger verraucht war, setzte er sich. Inzwischen war ihm klar geworden, dass Harlan Marsh nur wenige Kilometer von der Stelle entfernt war, an der Kenya Black zum letzten Mal gesehen worden war. Außerdem war es in der Nähe von Allenby Creek. Vielleicht konnten Marie und er auf dem Rückweg einen kleinen Umweg einlegen und sich persönlich dort umsehen.
Jackman holte tief Luft und versuchte, sich zu konzentrieren. Dieser unwillkommene Ausflug hatte durchaus Vorteile. Und es bestand immerhin die Chance, dass tatsächlich ein weiteres Mädchen verschwunden war. Er war zwar wütend auf Cade, aber er war nicht so dumm, eine mögliche Verbindung außer Acht zu lassen.
»Besser?«, fragte Marie grinsend.
»Ja, sehr. Danke. Informieren Sie bitte Max, Charlie und Rosie. Sie sollen sich ranhalten. Die Kartons mit dem Beweismaterial und den Unterlagen werden heute am späten Nachmittag geliefert. Sie sollen sie irgendwo unterbringen, alles ordnen und einen Plan erstellen. Sie sollen sich in jeder freien Minute in den Fall einlesen, aber machen Sie ihnen noch einmal klar, dass sie sich nicht von Vermutungen beeinflussen lassen sollen. Es zählen nur die Fakten.«
Er reichte Marie eine Kopie der Akten, die sie am Vortag von Crooke bekommen hatten. »Lesen Sie das. Wir werden bis zum ersten Tag der Ermittlungen zurückgehen und das Verschwinden von Kenya Black wie einen neuen Fall behandeln.« Er lächelte bitter. »Es wird nicht einfach werden,
aber ich glaube, unser Team kann die Wahrheit über das kleine Mädchen ans Licht bringen.«
Marie nahm die Akten. »Ja, das glaube ich auch. Übrigens: Wer hat denn unsere Hilfe angefordert?«
»Chief Superintendent Cade. Er hält uns für die einzigen beiden Beamten der gesamten Dienststelle, die ihm helfen können.«
»Cade? James
Cade?«
Jackman nickte. »Es ist nicht gerade ein angenehmer Zeitgenosse, was man so hört.« Er betrachtete Marie eingehend, die plötzlich ziemlich blass und angespannt aussah.
»Was ist denn los?«
»Ich will auf keinen Fall etwas mit diesem Mann zu tun haben, Sir. Können Sie nicht einen der anderen mitnehmen?«
Jackman lehnte sich zurück und betrachtete seine Kollegin. So hatte sie in all den Jahren, die sie jetzt schon zusammenarbeiteten, noch nie reagiert. »Was ist denn los, Marie?«
»Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, aber es ist eine ziemlich persönliche Geschichte, über die ich im Moment nicht reden will.« Sie wirkte schrecklich verlegen, doch dann riss sie sich zusammen. »Aber selbst wenn ich mich lieber einer Wurzelbehandlung unterziehe, als mit Cade in einem Raum zu sein, könnte es vielleicht wirklich eine Verbindung zwischen Shauna und diesem angeblich verschwundenen Mädchen geben. Also vergessen Sie, was ich gerade gesagt habe. Ich rede noch schnell mit den anderen, und wir fahren, sobald Sie so weit sind.«
Sie schlüpfte zur Tür hinaus, und Jackman fragte sich, warum sie ihm ausgewichen war. Dann zuckte er mit den Schultern. Er würde es schon noch herausfinden. Er griff
nach seinem Mantel und dem Autoschlüssel und wollte gerade gehen, als das Telefon klingelte.
Es war der uniformierte Beamte vom Empfang. »Mr Asher Leyton hat gerade für Sie angerufen, Sir. Er lässt ausrichten, dass er den ganzen Vormittag über zu Hause ist. Er hat leider Ihre Nummer verlegt, deshalb hat er sich bei mir gemeldet.«
»Okay, danke. Ich kümmere mich darum.« Jackman hätte nicht erwartet, von Leyton zu hören. Er hätte sogar Geld darauf verwettet, dass sie ihn offiziell vorladen mussten.
Er fluchte leise vor sich hin. Gerade jetzt, da die Dinge ins Rollen kamen, mussten sie an einen der trostlosesten und abgelegensten Orte der Gegend. Harlan Marsh war ein kleines Städtchen, das von flachem Ackerland, Dämmen, Gräben und Marschland umgeben war, und niemand wollte dort arbeiten.
Er trat in den Ermittlungsraum und winkte Marie zu.
»Ich komme!«, rief sie.
»Oh, Max, rufen Sie mich bitte sofort an, wenn der Bericht der Gerichtsmedizin zu Shauna Kelly da ist.«
Max streckte beide Daumen in die Höhe. »Klar, Chef!«
Jackman hatte beschlossen, noch schnell bei Asher Leyton vorbeizufahren, bevor sie nach Harlan Marsh aufbrachen. Er wollte nicht, dass der Kerl kalte Füße bekam und womöglich abhaute.
Asher Leyton führte sie den breiten Flur entlang in ein riesiges, offen angelegtes Wohnzimmer. Es war modern, geschmackvoll und roch nach einem Haufen Geld. Marie fiel sofort auf, dass Leytons Verlobte heute nicht da war
.
»Lynda hat mir gesagt, dass Sie gestern Nachmittag hier waren, DI
Jackman. Es tut mir leid, dass Sie zweimal kommen mussten.« Er deutete auf die übergroße elfenbeinfarbene Ledercouch und nahm selbst auf dem dazu passenden Sessel Platz. »Wie kann ich Ihnen helfen?«
Marie betrachtete ihn interessiert. Er sah anders aus als erwartet. Asher Leyton war in den Zwanzigern, hatte eine normale Statur, dicke blonde Locken und ein ziemlich altmodisches Auftreten. Sogar seine Kleidung wirkte überholt, denn er trug eine beigefarbene Cordhose und eine Weste aus kariertem Tweed. Hatte sie vielleicht einen neuen Retrotrend verpasst?
»Mr Leyton, wir haben Grund zu der Annahme, dass Sie vor drei Tagen abends in der Brewer Street unterwegs waren. Stimmt das?«, fragte Jackman.
»Das ist sogar sehr wahrscheinlich, Inspector. Meine Arbeitszeiten sind sehr flexibel, und mein Heimweg führt durch die Brewer Street.« Er betrachtete Jackman ruhig. »Warum? Was ist denn passiert?«
Marie griff in ihre Tasche und holte ein Foto von Shauna Kelly heraus. »Haben Sie dieses Mädchen schon einmal gesehen oder vielleicht sogar mit ihm gesprochen?«
Asher nahm das Bild, und ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Ja, natürlich!« Er gab Marie das Foto zurück. »Ich habe mich in letzter Zeit mehrmals mit ihr unterhalten.«
Jackmans Augen wurden schmal. »Warum das?«
Asher Leytons Lächeln verblasste. »Ist ihr etwas zugestoßen? Sind Sie deshalb hier?«
»Wissen Sie, wie das Mädchen heißt, Sir?«, fragte Jackman ruhig.
»Shona? Oder Sheena? Ich kann mich nicht genau
erinnern.« Er fuhr sich mit den langen, schlanken Fingern unruhig durch die Haare.
»Woher kennen Sie sie, Mr Leyton?« Jackmans Stimme wurde immer kälter.
»Ich kenne
Sie nicht. Ich habe nur ein paarmal mit ihr geredet, das ist alles.« Der Mann wand sich nervös in seinem Ledersessel.
»Und warum unterhält sich ein Mann in Ihrem Alter mit einem vierzehnjährigen Mädchen, das er gar nicht kennt?«
»Vierzehn? O mein Gott, aber sie sah aus wie … Sie meinte, sie wäre … Sie verstehen das vollkommen falsch, wirklich!« Asher Leyton schluckte. »Ich war eines Abends auf der Brewer Street unterwegs, und da ist sie mir aufgefallen. Sie stand allein am Straßenrand, und ich dachte einen Augenblick lang, sie wäre eine … eine …«
»Eine Prostituierte?«, half Marie aus. »Denn damit kennen Sie sich ja aus, nicht wahr, Mr Leyton?«
Leytons Wangen begannen zu glühen. »Aber da war nie etwas! Schauen Sie doch in Ihrem System nach. Sie werden mich nicht finden. Ich wurde nie festgenommen.«
»Das haben wir bereits überprüft, Mr Leyton, aber unsere Streifenpolizisten mussten in der Vergangenheit einige Male ein ernstes Wort mit Ihnen reden, nicht wahr?«, fragte Marie ruhig.
»O Gott, aber ich habe es Ihren Kollegen damals doch erklärt! Ich mache mir Sorgen um die Mädchen. Ich rede mit ihnen und versuche, ihnen zu helfen, das ist alles. Ich bin ein ehrlicher, hart arbeitender Mann. Außerdem bin ich mit einer unglaublich hübschen Frau verlobt, und …« Er hielt inne, und sein Gesicht verlor jegliche Farbe. »Sie haben Lynda gegenüber doch nichts davon erwähnt, oder?
«
»Ihr Geheimnis ist bei uns sicher, Sir. Es sei denn, es gibt etwas, das Sie uns über Ihr Verhältnis zu Shauna Kelly sagen wollen?« Marie betrachtete ihn kühl.
Asher Leyton seufzte. »Da gibt es nichts zu sagen. Ich habe sie angesprochen, nachdem ein Auto an ihr vorbeigefahren war und sie nass gespritzt hatte. Sie sprang zurück und schimpfte dem Fahrer hinterher, und ich fragte sie, ob alles in Ordnung wäre. Sie beschimpfte mich zuerst ebenfalls, doch ich habe ihre Handtasche aufgehoben, die sie fallen gelassen hatte, und ihr mein Stofftaschentuch gegeben, um sich das Gesicht abzuwischen.«
»Der edle Ritter«, bemerkte Jackman sarkastisch.
Asher ignorierte den Kommentar. »Sie hat mir erzählt, dass sie auf ihre Freundinnen wartet. Sie wollten zu einer Party. Das ist alles.« Er zuckte mit den Schultern. »Als ich sie ein paar Tage später wiedersah, lächelte sie mir zu, also fragte ich sie, wie es ihr auf der Party gefallen hätte. Sie meinte, es wäre anders gewesen als sonst, aber mehr nicht. Ich nahm an, dass der Abend ein Reinfall gewesen war. Danach habe ich sie nur noch einmal gesehen, und zwar vor ein paar Tagen. Sie wollte wieder zu einer Party.« Sein Blick wanderte von Marie zu Jackman. »Ist ihr etwas zugestoßen?«
»Shauna ist tot, Mr Leyton.«
Asher wirkte so überrascht, dass Marie sich ziemlich sicher war, dass er nicht schauspielerte. Und falls doch, war er verdammt gut.
»Tot?«
»Ja, leider. Vielleicht verstehen Sie jetzt, warum wir genau wissen müssen, was sie an dem Abend gemacht hat.«
Asher nickte benommen, und Marie befürchtete, dass er gleich zu weinen beginnen würde. Nach einigen Sekunden
sagte er: »Das arme Mädchen. Sie war wirklich nett.« Als er den Blick hob, waren seine Augen feucht. »Wie ist sie gestorben?«
»Da es sich um laufende Ermittlungen handelt, können wir darüber keine Auskunft geben, Sir.« Jackman klang inzwischen freundlicher und mitfühlender. »Und Sie wissen wirklich nicht mehr über sie? Sie haben nur ein paar flüchtige Worte mit ihr gewechselt?«
»Ganz sicher, Inspector, und ich schwöre bei Gott, dass ich nicht wusste, dass sie erst vierzehn war.« Er senkte den Blick. »Ich hätte nie mit einem Mädchen in diesem Alter das Gespräch gesucht, ohne ihr vorgestellt worden zu sein.«
Jackman nickte Marie zu, und sie erhoben sich. »Ich lasse Ihnen meine Karte hier, falls Ihnen noch etwas einfällt. Das ist meine Durchwahl.«
Leyton führte sie zur Tür. »Und wegen der anderen Sache? Wenn meine Verlobte davon Wind bekommt und die falschen Schlüsse zieht, ist sie sicher am Boden zerstört.«
»Wie schon gesagt: Das geht uns nichts an, Sir. Uns interessiert nur, wo Shauna die letzten Stunden vor ihren Tod war und was sie gemacht hat.« Marie sah dem seltsamen jungen Mann noch einmal tief in die Augen. »Sie sollten allerdings dringend noch einmal über die ›zufälligen Begegnungen‹ nachdenken. Alles, was Shauna gesagt hat, könnte uns weiterhelfen.«
Asher wirkte mehr als beunruhigt, als er schließlich die Tür hinter ihnen schloss.
Sie waren gerade bei ihrem Wagen angekommen, als Max anrief. »Rory Wilkinson möchte dringend mit Ihnen sprechen, Sir. Könnten Sie ihn bitte zurückrufen?
«
Jackman bedankte sich und wählte die Nummer des Gerichtsmediziners.
»Ah, Detective Inspector, tut mir leid, wenn ich störe. Ich bin zwar noch lange nicht fertig, aber ich dachte, die Ergebnisse der ersten Tests interessieren Sie vielleicht. Die toxikologische Untersuchung hat gezeigt, dass Shauna sowohl Alkohol als auch Drogen im Blut hatte.«
»Verdammt«, murmelte Jackman. »Welche Art Drogen?«
»Foxy. Falls Ihnen der Name etwas sagt.«
Jackman kannte die kleinen Pillen nur zu gut. Er hatte schon viele sogenannte Partydrogen kommen und gehen gesehen und leider auch die schrecklichen Nachwirkungen.
»Ja, es ist eine Partydroge. Ein halluzinogenes Tryptamin.«
Rory lachte leise. »Respekt! Nicht viele Detectives wissen solche Dinge.«
»Es ist mir in Erinnerung geblieben, weil wir einmal einen Jungen auf einem Spielplatz vom Beton kratzen mussten. Er hatte eine Pille genommen und war danach vom Schuldach ›geflogen‹.«
»O Gott, das tut mir leid. Aber dadurch hat sich das Wort fest in Ihr Gedächtnis eingebrannt.« Der Gerichtsmediziner sprach weiter. »Ich dachte mir schon, dass etwas nicht stimmt, nachdem ich die Verletzungen an Shaunas Füßen gesehen hatte. Vor allem an den Sohlen. Sie wissen sicher, dass sich der Körper beim Ertrinken auf den Bauch dreht, wodurch auch die hässlichen Gesichtsverletzungen entstehen, die wir manchmal bei Wasserleichen sehen. Wie erwartet, hat das Mädchen schwere sichtbare Verletzungen, aber bei näherer Betrachtung habe ich auch Abschürfungen und Schnitte gefunden, die nicht von ihrer Zeit im Wasser herrühren.
«
»An den Füßen?«, fragte Jackman und runzelte die Stirn.
»Mhm. Wir haben Proben genommen und dabei Bestandteile gefunden, die nicht vom Meeresgrund stammen. Ich würde sagen, sie lief barfuß über ein ziemlich unebenes Gelände, bevor sie ins Wasser stürzte.«
»Wurde sie gejagt?«
»Um diese Frage zu beantworten, brauchen Sie schon einen Zeugen.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Shauna Kelly wissentlich Foxy nahm«, murmelte Jackman.
»Aber Sie haben doch selbst gesagt, dass ihre Mutter sich wegen der schlechten Gesellschaft Sorgen machte, in die ihre Tochter geraten war.«
»Ja, aber ein paar Drinks zu viel erwartet man doch mehr oder weniger von einem Teenager, dessen Vater sich vor Kurzem aus dem Staub gemacht hat, oder? Ihre Mutter meinte, ihre Tochter hätte Alkohol eigentlich nicht gemocht, und sie schwor, dass Shauna nie Drogen genommen hat. Sie war rigoros dagegen.«
»Bei allem Respekt, Inspector, aber das behaupten wohl alle Jugendlichen ihren Eltern gegenüber«, erwiderte Rory sanft.
»Ja, klar, aber Liz arbeitet als Freiwillige in der Drogenanlaufstelle in der Church Street. Sie hätte jegliche Anzeichen hundert Meter gegen den Wind gerochen.« Jackman seufzte. »Wenn Shauna Drogen im Blut hatte, dann gehe ich jede Wette ein, dass sie sie nicht wissentlich genommen hat.«
»Ja, das ist leider nicht ganz unwahrscheinlich. Oder es war der Gruppenzwang. Ach ja, eine Kleinigkeit noch: Wir haben keine Pflanzenreste oder Spuren vom Meeresboden an ihren Händen gefunden.
«
»Tut mir leid, Rory, aber ich habe keine Ahnung, was Sie damit sagen wollen.«
»Ich rede vom Überlebenskampf, Inspector. Ein Ertrinkender klammert sich an alles, was er in die Finger bekommt, um sich zu retten. Es ist normalerweise ein Beweis dafür, dass das Opfer noch am Leben war, als es ins Wasser fiel, wenn auch nicht der einzige. In unserem Fall deutet es darauf hin, dass Shauna entweder extrem benommen oder gar nicht mehr bei Bewusstsein war. Das ist natürlich kein sehr angenehmer Gedanke, aber ich dachte, ich sage es Ihnen gleich und warte nicht, bis der Bericht fertig ist.«
»Das weiß ich zu schätzen, danke.« Jackman legte auf und betrachtete das Telefon. Shauna Kelly hatte es nicht gut verkraftet, dass ihr Vater die Familie verlassen hatte, aber sie hatte nicht vollkommen den Halt verloren, und die anderen Familienmitglieder hatten ihnen bestätigt, dass das Mädchen seine Mutter geliebt hatte. Sie hatten sich seit jeher sehr nahegestanden, und es gab keinen Hinweis darauf, dass Shauna Liz für den Weggang ihres Vaters verantwortlich machte.
Die Untersuchungsergebnisse ergaben keinen Sinn, und Marie, die das Gespräch über Lautsprecher mitverfolgt hatte, sah das offenbar ähnlich, wenn er ihr erstauntes Gesicht richtig deutete.
»Shauna hat keine Drogen genommen, darauf würde ich mein Leben verwetten.«
»Ja, das sehe ich auch so. Liz ist keine Durchschnittsmutter. Sie hat gelernt, auf die kleinsten Anzeichen zu achten. Sie hätte es bemerkt, da bin ich mir sicher.«
»Dann wurde sie also unter Drogen gesetzt?«, fragte Marie kopfschüttelnd.
»Das wäre meine Theorie.
«
»Und wir müssen nach Harlan Marsh, verdammt noch mal! Das ist doch zum Kotzen!«, rief Marie wütend.
»Vergessen Sie nicht, dass es auch in diesem Fall um ein verschwundenes Mädchen geht. Wir müssen uns die Sache ansehen, falls es einen Zusammenhang gibt. Fahren wir einfach hin und bringen es hinter uns.« Er warf ihr einen Blick zu. »Ich glaube, ich habe Sie noch nie so aufgebracht wegen etwas gesehen.« Er hielt inne. »Oder geht es etwa um eine Person?«
Maries Augen wurden schmal. »Wie Sie vorhin schon sagten: Bringen wir es einfach hinter uns, ja?«
Jackman startete schweigend den Wagen.
Nicht weit entfernt von Asher Leytons Luxuswohnung war jemand ähnlich beunruhigt wie er.
Ihr kleines Zuhause war alles andere als elegant, aber es war sauber und ordentlich, und normalerweise fühlte sich Jasmine hier sicher und geborgen. Aber heute war das anders.
Sie lag auf dem Sofa und hatte die Decke eng um den schmächtigen Körper geschlungen. Sie war endlich allein, obwohl es einige Zeit gedauert hatte, bis sie ihre Mum überzeugt hatte, dass sie zur Arbeit gehen konnte. Jasmines Mutter machte sich wegen jeder Kleinigkeit Sorgen, doch am Ende hatte sie akzeptiert, dass ihre Tochter unter den üblichen monatlichen Bauchkrämpfen litt. Sie hatte ihr etwas Warmes zu trinken und eine Wärmflasche gemacht und war dann in die Lebensmittelfabrik geeilt, wo sie als Buchhalterin arbeitete.
Jasmine starrte auf den schwarzen Fernsehbildschirm und überlegte, was sie tun sollte. Sie war nicht krank, mit ihr war alles in Ordnung. Sie wollte bloß nicht zur Schule –
und vor allem wollte sie ihrer besten Freundin Chloe nicht begegnen.
Ihre Gedanken kehrten erneut zu der Party zurück, und sie schnaubte angewidert. Es war ganz anders gewesen als die Partys, die sie bis jetzt besucht hatte. Sie erschauderte und zog die Decke bis unters Kinn hoch. In der Lagerhalle war es schrecklich dunkel und schmutzig gewesen, und es hatte nach Schweiß und Alkohol gestunken. Das Schlimmste aber war, dass Chloe es offenbar genossen
hatte.
Eine Träne rann über Jasmines Wange. Wie konnte sie nur? Sie waren schon als Kleinkinder befreundet gewesen, und jetzt … Sie verzog das Gesicht, als sie Chloe vor sich sah, die mit einem Jungen tanzte, den sie nicht einmal kannte. Chloe, die ihr enges Shirt hochriss und ihre nackte Brust in den offenen Mund des Jungen schob.
Jasmine wurde erneut übel. Sie nippte an dem Becher, den ihre Mutter ihr gegeben hatte, und versuchte, nicht an die anderen Dinge zu denken, die sie gesehen hatte.
Sehr viel schlimmere Dinge.
Sie stellte den Becher auf den Tisch und nagte nervös an ihrer Unterlippe.
Sie musste ihrem Vater davon erzählen. Das wäre das Beste. Aber sie konnte nicht. Er würde sie umbringen, wenn er erfuhr, dass sie an einem so schrecklichen Ort gewesen war.
Die Tränen begannen zu fließen. Sie war ein gutes Mädchen und wollte doch nur das Richtige tun. Und sie hätte
es auch getan, wenn da nicht der Mann mit den schrecklichen Augen gewesen wäre. Er hatte sofort gewusst, dass Chloe und sie nicht eingeladen waren. Irgendwann hatte er Jasmine zur Seite genommen und ihr mit kalter, ruhiger
Stimme erklärt, was er tun würde, wenn sie jemandem von den Partys erzählte.
Jasmine wusste genau, dass er es ernst gemeint hatte. Sie erschauderte erneut. Im Grunde wären seine Drohungen keine große Sache gewesen, denn sie wollte ohnehin nie wieder zurück, aber leider hatte er sie nicht gegen sie
ausgesprochen. Die schrecklichen Dinge würde er nicht ihr antun, sondern … Chloe.
Jasmine begann zu schluchzen, denn Chloe wollte auf alle Fälle auch auf die nächste Party. Der Mann hatte ihre Nummer in seine Liste eingetragen, und Jasmines dämliche Freundin konnte die Nachricht mit dem Ort und dem nächsten Datum kaum erwarten.