Kapitel 8
Sie konnten nichts unternehmen, solange Toni nicht vernehmungsfähig war. Gary bot an, bei ihr im Krankenhaus zu bleiben, während Jackman und Marie zurück auf die Dienststelle fuhren.
Jackman schwieg beinahe die ganze Fahrt über, und Marie wusste, dass sein Gehirn gerade auf Hochtouren arbeitete. Sie mussten Tonis Angst um Emily ernst nehmen, auch wenn Toni immer noch unter Drogen stand.
»Weder die Eltern noch Gary Pritchard haben schon einmal von einem Mädchen namens Emily gehört, und Gary arbeitet schon lange genug in Harlan Marsh, um sämtliche Halbstarken und Ausreißer zu kennen. Was das Ganze noch viel komplizierter macht, und ich habe keine Ahnung, wo wir anfangen sollen.« Jackman klang müde.
Marie wurde vor einem Kreisverkehr langsamer. »Wir können nur die üblichen Suchläufe starten und hoffen, dass das mysteriöse Mädchen auf die eine oder andere Weise auftaucht.«
Jackman nickte. »Ich werde gleich mal Max vor seinen geliebten Computer setzen, damit er das erledigt.«
Marie nickte. Max kannte sich im Team mit Abstand
am besten mit Computern aus. Sie hielt vor dem Tor der Dienststelle und zog ihren Ausweis durch den Schlitz. »Wir können nur hoffen, dass wir mehr Glück haben als die Kollegen in Harlan Marsh. Wenn wir ebenfalls gegen eine Mauer laufen, müssen wir noch einmal zurück und uns vor Ort umsehen.«
»Ich befürchte, dass es darauf hinauslaufen wird.« Jackman stieg aus und knallte die Autotür zu. »Aber da kann man wohl nichts machen. Jetzt erledigen wir erst mal die Grundlagenarbeit.«
Max fand über zwanzig Mädchen namens Emily. Es waren zum Großteil Teenager, die entweder vermisst wurden oder wegen kleinerer Delikte in der Datenbank auftauchten. Nach unzähligen Telefonaten mit besorgten Eltern, Gefängnissen und Jugendbetreuungseinrichtungen blieben nur noch drei Namen übrig. Eine war inzwischen an einer Überdosis gestorben, die anderen beiden wurden bereits seit Längerem vermisst und stammten auch nicht aus der Gegend.
Marie legte den Hörer auf und verzog das Gesicht. Sie hatte keine Lust, die Straßen von Harlan Marsh abzuklappern, aber sie brauchten dringend mehr Informationen, und das war die einzige Art, um an sie heranzukommen.
»Marie, Sie können erst mal Schluss machen!«, rief Jackman aus seinem Büro. »Wir fahren ins Krankenhaus. Gary Pritchard hat gerade angerufen. Toni geht es einigermaßen gut genug, um mit uns zu sprechen. Ich habe ihm gesagt, dass er bei ihr bleiben und dafür sorgen soll, dass niemand sonst mit ihr redet. Auch nicht ihre Eltern.«
Marie schlüpfte in ihre Jacke und suchte in den Taschen nach dem Autoschlüssel. Wenn ihnen Toni mehr
über Emily erzählen konnte, ersparte sie ihnen damit einige Arbeit.
Nach sieben Minuten waren sie im Krankenhaus, und weitere zwei Minuten später standen sie an Toni Clarksons Bett und sahen in ihr blau geschlagenes und tränenüberströmtes Gesicht.
»Toni, das sind DI
Jackman und sein Sergeant, Marie Evans. Sie sind hier, um dir zu helfen.« Gary klang freundlich und beruhigend. Er hatte die Zeit bis zu ihrer Ankunft offensichtlich genutzt, um das Vertrauen des Mädchens zu gewinnen.
Dennoch sah Marie Trotz in Tonis Augen aufblitzen.
Jackman zog einen Stuhl heran und ließ sich darauf nieder, um auf Augenhöhe mit dem Mädchen zu sein und es nicht einzuschüchtern. Er versicherte ihr, dass sie keine Schwierigkeiten bekommen würde. Er wollte lediglich herausfinden, wer ihr wehgetan hatte, um denjenigen zu bestrafen.
Der trotzige Ausdruck in ihren Augen verschwand langsam, bis nur noch blanke Angst übrig blieb. »Ich kann mich an nichts erinnern«, wimmerte sie.
»Gut, beginnen wir erst mal mit dem Moment, als du dich am Kriegerdenkmal von deinen Freundinnen getrennt hast«, sagte Jackman ruhig.
Tonis Blick huschte durchs Zimmer. Sie schluckte mehrere Male, sagte aber nichts.
»Du hast ihnen erzählt, dass du an einen Ort willst, an dem du willkommen bist?«
Toni zuckte zusammen und begann trotz der beinahe unerträglichen Hitze im Krankenzimmer zu zittern.
»Bist du dorthin gegangen, Toni?«, fragte Jackman.
Marie war klar, dass Emilys Chancen mit jeder Sekunde
schwanden – falls das Mädchen überhaupt existierte. »Und warst du dort willkommen?«, hakte sie sanft nach. »Gab es Alkohol?«
Toni atmete zitternd aus und nickte bedrückt. »Man bekommt immer Gratisgetränke, wenn man möchte.«
»Wo ist denn dieser Club?«
»Als ob ich das ausgerechnet Ihnen
verraten würde!« Der streitlustige Ausdruck kehrte in Tonis Augen zurück. »Sie würden mich umbringen, wenn ich sie verpfeife. Außerdem ist es nicht so einfach …« Sie wischte sich eine Träne von der Wange und zuckte zusammen, als sie den geprellten Wangenknochen berührte.
»Dieses Mal waren Leute da, die ich noch nie dort gesehen hatte.« Sie zog die Decke höher und wiegte sich vor und zurück. »Sie wollten noch auf eine andere Party.«
»Und du bist mit ihnen gefahren?«, fragte Jackman und sah das Mädchen an.
Sie nickte erneut.
»Mit dem Auto?«
»Ja.«
»Was für ein Auto? Ein Geländewagen?«
»Nein, ein ganz normales Auto.«
»Warst du allein?«
»Ich dachte zuerst, es würde noch jemand mitkommen, aber als ich einstieg, waren da nur ich und einer der Männer.«
»Ist schon okay, Toni. Du bist jetzt in Sicherheit.« Jackmans Stimme war sanft. »Wir werden nicht zulassen, dass dir etwas passiert. Weißt du, wo ihr hingefahren seid? Kanntest du den Ort, an dem die Party stattfand?«
»Da war gar keine Party.« Ihre Stimme klang ausdruckslos. »Und ich habe keine Ahnung, wo ich war. Wir fuhren
eine Ewigkeit hinaus in die Fens. Es stank nach verfaultem Kohl. Ich hätte mich beinahe übergeben.«
»War es eine Farm?«, fragte Marie. »Oder eine Art Bauernhaus?«
Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht, aber ich glaube nicht. Es war ein altes, echt gruseliges Haus.« Sie verzog das Gesicht. »Aber es spielte Musik, also hatte ich keine Angst. Wir gingen in den Keller. Da waren Öllampen und Kerzen und alte Kisten mit Decken als Bänke. Überall standen Weinflaschen herum. Am Anfang fand ich es echt cool …«
Aber später dann nicht mehr,
dachte Marie wütend und betrachtete die Striemen und blauen Flecken auf dem Gesicht des Mädchens. Toni schlang die Arme um den Oberkörper.
»Wie viele Leute waren noch dort, Toni?«, fragte Jackman.
»Am Anfang waren nur ich und der Kerl da, der mich hingefahren hatte. Er meinte, wir wären zu früh dran, und die anderen würden gleich kommen. Er gab mir ein Glas Rotwein.«
»Und du hast es getrunken?«
»Gratiswein?« Toni verdrehte die Augen, als hätte Jackman gerade etwas total Lächerliches von sich gegeben. »Klar.«
»Kannst du den Mann beschreiben, Toni?«
»Er war ziemlich alt, so wie Sie. Aber er hatte coole Haare und modische Klamotten.«
»Groß? Klein?«, fragte Jackman und lächelte, weil er gerade als »alt« bezeichnet worden war.
Toni betrachtete ihn. »Ihre Größe, aber besser gebaut. Mehr Muskeln.
«
Marie unterdrückte ein Grinsen. »Was ist mit den Klamotten?«
»Ausgebleichte Jeans, aber nichts Billiges. Ein blaues T-Shirt, Turnschuhe und ein grauer Zip-Hoodie. Echt cool für einen so alten Mann.«
»Würdest du ihn wiedererkennen?«, fragte Jackman.
Toni zuckte mit den Schultern, doch dann schnappte sie nach Luft und presste eine Hand auf ihre gebrochenen Rippen. »Vielleicht. Er sah ganz normal aus und war ein bisschen schüchtern, obwohl er andauernd lächelte. Und er roch gut«, fügte sie hinzu.
Jackman warf Marie einen erstaunten Blick zu. Was auch immer der Kerl Toni angetan hatte, es schien ihr nichts auszumachen, über ihn zu sprechen. Außerdem klang die Beschreibung nicht nach einem finsteren Psychopathen.
»Hat er dir wehgetan?«
Toni schüttelte den Kopf. »Nein, er nicht. Er ging, als die anderen kamen. Danach habe ich ihn nicht mehr gesehen.«
»Die anderen?«
Toni versteifte sich und schluckte. »Ich …« Verwirrt runzelte sie die Stirn. »Es wurde alles ganz eigenartig. Ich kann mich nicht mehr genau erinnern.«
Maries Herz wurde schwer. Die verdammten Drogen waren wohl im Wein gewesen. Ausgerechnet jetzt, da sie zum entscheidenden Punkt kamen, ließ Tonis Erinnerung sie im Stich.
»Weißt du noch, wie viele Leute es waren?«
»Keine Ahnung. Nicht so viele.«
Jackman betrachtete das Mädchen nachdenklich, dann warf er Marie erneut einen Blick zu. Sie hatten schon zu lange um den heißen Brei herumgeredet. Sein Gesicht
wurde ernst. »Toni, als du hierhergebracht wurdest, hast du nach einer Emily gerufen. Erinnerst du dich an sie? War sie mit dir in diesem Keller?«
Toni verzog entsetzt das Gesicht.
»Toni, wer ist Emily? Und was ist mit ihr passiert?«
Ein Gurgeln drang aus der Kehle des Mädchens, und sie stöhnte leise. Marie hoffte nur, dass das Krankenhauspersonal es nicht gehört hatte und besorgt ins Zimmer stürzte.
Jackman beugte sich näher heran. »Hör mal, Toni! Emily ist vielleicht in großer Gefahr. Du musst uns alles sagen, woran du dich erinnerst. Bitte!«
Tränen flossen über Tonis zerschrammte Wangen. »Ich habe doch schon gesagt, dass es danach total eigenartig wurde. Es war wie in einem Albtraum. Es ist alles verschwommen.« Toni schluchzte. »Irgendjemand hat gesungen, und dann hat mich jemand geschüttelt und mir seltsame Fragen gestellt.«
»Welche Fragen?«
»Wann ich Geburtstag habe.«
Das Mindestalter.
Marie biss wütend die Zähne zusammen. Der Mistkerl wollte wissen, ob sie noch minderjährig ist.
»Du meinst, in welchem Jahr du auf die Welt gekommen bist?«
»Nein, er wollte alles
wissen. Den Tag, den Monat und
das Jahr.« Gary streckte Toni wortlos ein Taschentuch entgegen, und sie putzte sich die Nase. »Er fragte Emily dasselbe.« Die Tränen begannen erneut zu fließen.
»Im nächsten Augenblick war ich draußen auf dem Feld. Ich hatte solche Angst, und mir war übel. Emily war weg, und ich wusste nicht, wo ich war. Ich wollte zu Mum und Dad. Nach Hause.«
»Wer ist diese Emily, Toni? Wir müssen es wissen!« Jackman
schrie beinahe. Marie räusperte sich laut. Sie hatte Angst, dass er alles ruinierte.
»Ich glaube, meine Patientin braucht jetzt Ruhe, Inspector.« Der junge Arzt war wieder da, und er war nicht mehr freundlich.
Jackman nickte knapp, warf Toni ein gequältes Lächeln zu und verließ das Zimmer.
»Ich bleibe noch ein wenig hier«, erklärte Gary. »Zumindest, bis die uniformierten Kollegen mich ablösen.« Er zwinkerte Jackman verschwörerisch zu. »Aber das hat keine Eile. Ich werde versuchen, noch einmal mit ihr ins Gespräch zu kommen, wenn sie sich beruhigt hat.«
Jackman fuhr zurück ins Büro, damit Marie unterwegs Zeit hatte, ihre Notizen zu sichten. Zwei Dinge beunruhigten sie. »Was sollte die Frage nach dem Geburtstag? Ich meine, wenn die Kerle wissen wollten, wie alt sie ist, um ungestraft Sex mit ihr haben zu können, dann war das doch kein Problem. Sie ist immerhin schon sechzehn …« Sie zuckte mit den Schultern. »Warum haben sie sie dann einfach ausgesetzt und das andere Mädchen genommen?«
Jackman schüttelte den Kopf. »Vielleicht wollten
sie eine Minderjährige, und Emily ist jünger als Toni. Oder Toni hat zu dem Zeitpunkt bereits halluziniert. Falls jemand allerdings nach einem ganz bestimmten
Mädchen sucht, ist das genaue Geburtsdatum entscheidend.« Er verzog das Gesicht. »Das ergibt alles keinen Sinn, oder?«
»Nein. Und da ist noch etwas: Was, zum Teufel, meinte sie damit, dass die Sache mit diesem Club nicht ›so einfach‹ ist?«
»Also zumindest diese Frage kann ich Ihnen beantworten.« Jackman fluchte leise und gab Gas, um das Auto vor ihnen zu überholen. »Die Polizei von Harlan Marsh ist
einem Club auf der Spur, der ständig den Veranstaltungsort wechselt.«
Marie hörte mit wachsendem Unbehagen zu, wie Jackman ihr von den illegalen Partys erzählte. »Das klingt nach einer ziemlich widerwärtigen Masche.«
»Das ist es mit Sicherheit. Und nachdem der Club ständig weiterzieht, war es bis jetzt schwierig, ihn auffliegen zu lassen. Jedes Mal, wenn sie den Kerlen auf der Spur waren, sind sie einfach umgezogen.«
»Ich verstehe. Das hat Toni also gemeint. Vielleicht erzählt sie uns mehr, wenn ihr klar wird, wie ernst die Lage ist. Es könnte ihr sogar die Augen für einiges öffnen.«
Jackman hob eine Augenbraue. »Wollen wir’s hoffen. Ich glaube, es hat ihr eine Scheißangst eingejagt.«
»Ja, und es besteht immer noch die Möglichkeit, dass Gary noch einmal einen guten Draht zu ihr findet. Er ist ein guter Kerl, nicht wahr?«
Jackman nickte. »Er ist zwar noch nicht so alt, aber für mich ist er ein typischer Polizist vom alten Schlag.«
»Genau«, antwortete Marie. »Und das ist mir allemal lieber als die jungen Hitzköpfe.«
»Das bringt mich zu einem anderen wichtigen Punkt, Marie. Ich würde die Superintendentin gerne bitten, Gary vorübergehend zu uns zu versetzen. Was halten Sie davon?«
Marie nickte. »Das ist eine sehr gute Idee, Sir. Seine Kenntnisse der örtlichen Gegebenheiten sind sicher von Vorteil.«
»Okay, dann erledige ich das, sobald wir zurück sind.«
Es dämmerte bereits, als sie in den Ermittlungsraum kamen, wo Max, Charlie und Rosie immer noch vor ihren Computern saßen
.
Jackman grinste. »Okay, Leute. Fahrt nach Hause und ruht euch aus, wir sehen uns morgen früh.«
Rosie hob den Blick. »Ich bleibe gerne noch eine Stunde, Sir.«
Marie lächelte. Wie war es möglich, dass eine erwachsene Frau aussah wie ein achtzehnjähriges Schulmädchen?
Jackman schüttelte den Kopf. »Nein danke. Fahren Sie lieber. Nutzen Sie die Gelegenheit, solange Sie noch können.«
Rosie griff nach Jacke und Tasche. »Okay, dann sehen wir uns morgen.« Sie warf einen Blick auf Max, der sich immer noch über die Tastatur beugte. »Kommst du mit?«
Max lehnte sich zurück und streckte die Arme über den Kopf. »Ja, gleich«, stöhnte er. »Die Suche führt sowieso ins Nichts.« Er stand auf. »Warte, meine Hübsche, ich begleite dich zum Parkplatz.«
Jackman blickte den beiden nach und ging dann in sein Büro, um nachzusehen, ob er irgendwelche Nachrichten hatte, bevor er selbst nach Hause fuhr. Marie blieb allein zurück und dachte an den Fall.
Sie war sich inzwischen sicher, dass Emily tatsächlich
existierte. Aber wo war sie?
Jackman legte gerade den Telefonhörer auf, als Marie zu ihm ins Büro trat.
»Das war Gary. Toni hat sich beruhigt, und nachdem ihre Eltern kurz rausgegangen waren, um sich einen Kaffee zu holen, hatten Gary und sie ›einen kleinen Plausch‹, wie er es nannte.«
Marie lächelte. Sie war froh, dass Pritchard mittlerweile zum Team gehörte. »Und?
«
»Erstens hat sie bestätigt, dass Shauna Kelly auf einer dieser Partys war. Sie waren nicht befreundet, aber Toni kannte sie vom Sehen. Und Emily existiert wirklich. Die beiden Mädchen sind sich an dem Abend allerdings zum ersten Mal begegnet, und aufgrund des Alkohols und der Drogen war Tonis Beschreibung ziemlich dürftig. Lange, dunkle Haare und schöne Augen – das war alles, was ihr einfiel. Offenbar wurde der Mann, der sie belästigte, sehr aufgeregt, als Emily ihm ihr Geburtsdatum nannte, und kurz darauf wurde sie davongezerrt. Danach weiß Toni nur noch, dass sie in ein Auto geworfen und mitten im Nirgendwo abgeladen wurde.«
»Okay, zumindest wissen wir jetzt, dass wir keinem Geist hinterherjagen.«
»Genau. Im Moment sind zwei uniformierte Beamte bei Toni. Gary kann später mit einem Freund mitfahren, der in der Notaufnahme arbeitet. Bis dessen Schicht vorbei ist, bleibt er bei dem Mädchen.« Jackman lehnte sich müde in seinem Stuhl zurück.
»Das Wichtigste ist jetzt, dass es Emily tatsächlich gibt. Und es sieht so aus, als wäre sie entführt worden.«
Marie erschauderte. Wenn man erst einmal gesehen hatte, wozu angeblich zivilisierte Menschen fähig waren, war es beinahe unmöglich, sich nicht das Schlimmste auszumalen.
Jackman stand abrupt auf. »Ich weiß, dass es gegen unsere Natur ist, nach Hause zu gehen, obwohl ein Mädchen vermisst wird, aber die Kollegen patrouillieren die Straßen und durchsuchen alle ›alten, unheimlichen Gebäude‹, wie Toni es formuliert hat. Wir sollten uns also besser ein wenig ausruhen.«
Marie nickte. Er hatte recht. Es war wirklich gegen ihre
Natur, aber sie mussten voll konzentriert bei der Sache bleiben, und das funktionierte ohne Schlaf nun mal nicht.
Asher Leyton rollte mit seinem Schreibtischstuhl zurück und streckte sich. Er hatte zwar ursprünglich noch länger arbeiten wollen, aber er konnte sich nicht konzentrieren. Er sah ständig das Gesicht des Mädchens von der Brewer Street vor sich. Dass sie tot war, beunruhigte ihn zutiefst.
Er nahm seinen sündteuren Kugelschreiber von dem glänzenden Schreibtisch, steckte ihn in die Innentasche seines Jacketts und stand auf. Er sollte nach Hause gehen und Lynda überraschen. Vielleicht würde er sie sogar zum Abendessen ins Lorenzo’s
einladen. Das würde ihr sicher gefallen. Sie liebte Luxus, und ihm war natürlich klar, dass sie sich deshalb mit ihm verlobt hatte und auch bereit gewesen war, noch vor der Hochzeit zu ihm zu ziehen.
In Lyndas Gegenwart war er der perfekte Gentleman. Er verhielt sich ehrenhaft und anständig. Genau so, wie sie es sich erwartete und wünschte.
Asher schloss die Augen und stöhnte. Es brachte ihn um. Er hatte gewisse Bedürfnisse, und im Moment waren sie beinahe übermächtig. Er liebte und verehrte Lynda. Er begehrte sie. Aber er wusste, dass sie nur bei ihm bleiben würde, wenn er ihre puritanischen Wünsche akzeptierte, ganz egal, wie schmerzhaft es für ihn war. Sie wirkte zwar wie eine schicke und moderne junge Frau, aber ihre tiefgläubigen Eltern hatten ihr unnachgiebige, altmodische Moralvorstellungen eingeimpft.
Er stöhnte erneut, holte seine Geldbörse aus der Schreibtischschublade und warf einen Blick hinein. Das reichte auf alle Fälle. Er grunzte zufrieden, steckte das Portemonnaie ein und machte sich auf den Weg
.
Er würde Lynda zum Essen und auf eine Flasche Champagner einladen und sie anschließend wie der perfekte Gentleman nach Hause bringen. Aber bevor er ihre makellose, porzellanweiße Haut und ihre schimmernden weichen Haare bewundern konnte, hatte er noch eine gänzlich anders geartete Verabredung.