Kapitel 10
Max streckte sich und rollte vom Schreibtisch zurück. »Heiße Schokolade?«, rief er Rosie zu, die ebenfalls vor ihrem Computer saß.
Sie sah auf und lächelte. »Ja, gerne. Dafür würde ich glatt einen Mord begehen, wie man so schön sagt.«
Max ging hinaus zum Kaffeeautomaten und warf einen Blick zurück. Rosie starrte auf ihren Bildschirm und wickelte dabei gedankenverloren eine Haarsträhne um den Finger. Er lächelte. Das tat sie oft, wenn sie sich konzentrierte.
Während er die Münzen abzählte, überlegte er, warum Rosie ihm bis jetzt nicht aufgefallen war. Sie hatten zwar verschiedenen Teams angehört, aber sie arbeiteten nun schon mehrere Jahre in derselben Dienststelle, und eigentlich wusste er kaum etwas über sie. Er hatte nur gehört, dass ihre zwei Schwestern auch zur Polizei gegangen waren, aber auf unterschiedlichen Revieren arbeiteten, und dass sie in einer Wohnung über einem Blumenladen in der High Street wohnte. Mehr nicht.
Sie war seine Kollegin, und möglicherweise sogar eine Art Freundin. Vielleicht sollte er sie einmal auf einen Drink einladen ?
Max steckte die Münzen in den Automaten. Sie mussten ein vermisstes Mädchen finden, und das erforderte im Moment seine ganze Konzentration. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um Tagträumen nachzuhängen.
PC Andy English und PC Kevin Stoner saßen in ihrem Streifenwagen und musterten das alte Haus vor ihnen.
Das Windrush-Sanatorium war ein riesiges viktorianisches Gebäude inmitten eines überwucherten Parks auf einem Hügel am Rand der Marsch. Zu seiner Blütezeit war es zweifellos herrlich anzusehen gewesen, aber diese Ära war definitiv vorbei.
»Ach, du meine Güte!«, murmelte Andy. »Wir brauchen sicher ewig, um diese Bruchbude zu durchsuchen.«
Kevin antwortete nicht. Er versuchte immer noch, das alte Anwesen als Ganzes zu betrachten. Das Haupthaus war mehr oder weniger intakt, aber offensichtlich wurden die Außengebäude gerade abgerissen. Am Rand des Rasens lagen mehrere Ziegel- und Holzhaufen, und hinter dem Haus stieg grauer Rauch auf.
»Wenigstens ist jemand zu Hause.« Er deutete auf den Rauch. »Gehen wir doch hin und reden mit ihm.«
Andy nickte.
Die beiden Polizisten stiegen aus, traten auf die mit Unkraut überwucherte Kieseinfahrt und machten sich auf den Weg zu den Steinstufen, die zur Eingangstür hochführen. Vor der Treppe stand ein JCB -Radlader, der ein leises Ticken von sich gab.
Andy deutete mit dem Kopf darauf. »Der Motor kühlt aus. Das heißt, es ist tatsächlich jemand hier.«
»Was wohl aus dem Schuppen hier wird?«, murmelte Kevin .
»Keine Ahnung, ich war schon seit Jahren nicht mehr in dieser Gegend.«
Kevin öffnete einen Flügel der schweren Eingangstür, und sie traten in ein riesiges Foyer. »Fenland Constabulary!«, rief er. »Ist jemand da?« Seine Stimme hallte über den von Rissen durchzogenen Marmorboden und das leere Treppenhaus hoch.
»Vielleicht draußen?« Sie gingen um das Haus herum. Auf den Überresten einer weitläufigen betonierten Veranda entdeckten sie einen alten Baucontainer, an dem eine breite Holzplanke lehnte. Ein Bär von einem Mann fuhr sie mit einer voll beladenen Schubkarre mühelos hoch und kippte den Bauschutt laut ächzend in den Container. Anschließend drehte er sich geschickt um und marschierte wieder zurück.
Er runzelte die schweißbedeckte Stirn, als er die beiden Polizisten entdeckte.
Kevin versuchte, Haltung zu bewahren. Das hier war mit Abstand der hässlichste Mann, den er jemals zu Gesicht bekommen hatte. »Ähm, guten Tag, Sir. Sind Sie der Besitzer dieses Hauses?«
Der Riese schien sofort auf der Hut zu sein.
»Nein.« Die Falten auf seiner Stirn wurden tiefer. »Hier gibt es nichts zu sehen. Das ist ein Privatgrundstück.«
»Es tut mir leid, Sir, aber wir suchen nach einer vermissten jungen Frau.« Kevin versuchte, größer und kräftiger zu wirken, als er eigentlich war, gab es aber sofort wieder auf. »Wir überprüfen sämtliche leer stehenden Gebäude in der Gegend, und wir bräuchten die Einwilligung des Besitzers, uns umsehen zu dürfen.«
Ein seltsamer Ausdruck huschte über das Gesicht des riesigen Mannes. Er war schwer einzuordnen, aber die Erwähnung der vermissten jungen Frau hatte auf jeden Fall etwas bei ihm ausgelöst.
»Oh! Das ist etwas anderes.« Er lächelte zwar nicht, aber seine Wut hatte sich offenbar verflüchtigt. »Sie suchen also ein vermisstes Mädchen? Ich war im letzten Monat jeden Tag von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang hier, aber ich habe niemanden gesehen.«
»Aber das Gelände ist doch sehr weitläufig, Sir. Vielleicht hat sie sich ins Haus geschlichen oder wurde von jemandem hierhergebracht, ohne dass Sie etwas bemerkt haben. Wir müssen uns also leider trotzdem umsehen.«
»Ja, natürlich. Ich glaube nicht, dass der Besitzer – Mr Broome – etwas dagegen hätte.« Der Mann wischte sich den Schmutz von den fleischigen Händen und fuhr sich danach noch über die Hosenbeine. »Aber ich muss mitkommen. Es ist gefährlich, und außerdem sind Teile des Hauses verschlossen. Ich muss den Schlüssel holen. Ach ja, und Sie brauchen auch noch Helme – die Sicherheitsvorschriften, Sie wissen schon.«
»Danke, Sir«, erwiderte Andy höflich. »Und Sie sind …?«
Der Mann sah ihn lange an. »Micah. Micah Lee, Mr Broomes Hausmeister. Er kommt nicht oft hierher, also behalte ich alles im Auge.«
»Und Sie erledigen nebenbei auch noch eine Menge Arbeit«, bemerkte Kevin und sah sich staunend um. »Was soll mit dem Gebäude geschehen?«
»Es ist ein großes Projekt – oder vielmehr ein Traum. Aber da sollten Sie lieber mit Mr Broome persönlich sprechen. Ich gebe Ihnen seine Karte, wenn wir in meinem Büro sind.« Er zog die Nase hoch. »Also, holen wir die Helme.«
Eine Stunde später waren ihre Schuhe und Uniformen voller Staub, und die beiden Polizisten beschlossen, dass es für heute reichte.
»Hier war niemand, oder?«, murmelte Kevin leise.
»Und wenn doch, dann wäre er vollkommen verrückt«, fügte Andy hinzu und wischte sich den Schmutz von der Hose. »Dieses Haus ist eine richtige Todesfalle.«
Kevin wandte sich an Micah. »Tut mir leid, dass wir Sie von der Arbeit abgehalten haben, Mr Lee. Viel Glück mit dem Projekt.« Er verzog das Gesicht. »Denn das werden Sie sicher brauchen.«
»Oh, eines Tages wird es Wirklichkeit werden, Sie werden schon sehen, Officer. Es dauert seine Zeit, aber Mr Broome wird sich seinen Traum erfüllen.«
Kevin öffnete die Autotür und ließ sich dankbar auf den Fahrersitz sinken. »Das hoffe ich, Sir.« Er startete den Wagen, winkte und fuhr dann eilig die breite Auffahrt hinunter.
»Verdammt noch mal! Das war vielleicht ein hässlicher Kerl, was?«
»Ja, eine Mischung aus Hagrid und Hulk.« Andy schluckte. »Dieses Gesicht beschert mir jetzt schon Albträume. Und hast du die Schwielen an seinen Händen gesehen?«
»Klar. Stell dir vor, der begegnet dir abends in einer dunklen Gasse!«
Andy betrachtete die abgegriffene Visitenkarte, die er in der Hand hielt. »Soll ich diesen Broome anrufen?«
Kevin wurde langsamer und bog auf die verlassene Zufahrtsstraße. »Ich glaube, das wird nicht notwendig sein. Ich habe so das Gefühl, dass der Riese ihm bereits von unserem Besuch erzählt hat.« Er gab Gas, und das baufällige Gebäude verschwand langsam. Dann runzelte er die Stirn. » Aber wir sollten unbedingt mit Jackman darüber reden. Ich habe irgendwie kein gutes Gefühl. Du etwa?«
Andy pfiff leise durch die Zähne. »Soll ich ehrlich sein? Das letzte Mal, als ich solche Angst hatte, war ich ein kleiner Junge bei den Pfadfindern und wurde nach Sonnenuntergang auf den Friedhof gesperrt.« Er rieb die Handflächen aneinander. »Ich hatte gerade eine Scheißangst, mein Freund. Eine Scheißangst
Zurück auf der Dienststelle, überprüfte Jackman sofort, ob es Neuigkeiten von der Spurensicherung gab. Clive, der die Sekretariatsarbeiten für ihn erledigte, lächelte fröhlich und durchwühlte die Aktenberge auf seinem unordentlichen Schreibtisch. Innerhalb weniger Sekunden hatte er das richtige Memo gefunden, was Jackman immer wieder überraschte.
»Eine Mitarbeiterin der Spurensicherung hat vorhin von der Kapelle aus angerufen, Chef. Es gibt mehr als genug verwertbare Körperflüssigkeiten, aber leider werden die Tests einige Zeit in Anspruch nehmen. Es dauert über eine Woche, bis die Ergebnisse vorliegen.«
»Verdammt! Was ist mit Fingerabdrücken?«
»Davon gibt es auch jede Menge. Sie macht einen Abgleich mit der Datenbank, sobald sie zurück ist. Falls es irgendwelche Übereinstimmungen gibt, meldet sie sich sofort.«
»Das klingt vielversprechender. Halten Sie mich auf dem Laufenden, ja?«
Jackman ging in sein Büro, wo er erneut mit Marie zusammentraf. »Marie? Hatte einer der Kollegen vielleicht schon einmal das Vergnügen mit Nicholas Barley?«
»Er wurde schon einige Mal aufgegriffen, aber leider waren die Delikte nie so schwer, dass Fingerabdrücke genommen wurden.«
»Egal. Wir holen sie uns trotzdem.«
»Ich kümmere mich darum«, versprach Marie. »Außerdem hätte ich da noch eine Idee …«
»Schießen Sie los.«
»Glauben Sie, dass Toni Clarkson bereit wäre, mit uns zur alten Kapelle zu fahren? Vielleicht erinnert sie sich, ob die Party dort stattfand oder nicht?«
Jackman nickte. »Ich glaube, sie ist tapfer genug, Sie nicht auch?«
»Ja, das tue ich. Soll ich ins Krankenhaus fahren und sie fragen?«
Jackman schüttelte den Kopf. »Nichts für ungut, aber warum rufen Sie nicht in Harlan Marsh an und bitten Gary Pritchard darum? Er scheint gut mit dem Mädchen klarzukommen.«
»Stimmt. Ich rufe ihn an. Und auch Ethans Freund, von dem er uns erzählt hat.«
Jackman trat in den Ermittlungsraum hinaus und betrachtete Rosie, Max und Charlie, die alle betrübt auf Computerausdrucke starrten. »Wenn ich mir euch so ansehe, gibt es wohl keine Neuigkeiten von Emily?«
Rosie hob den Blick. »Tut mir leid, Chef. Wir wissen bald nicht mehr, wo wir noch suchen sollen.«
»Ich frage mich langsam, ob es nicht doch die Drogen waren. Vielleicht hat Toni halluziniert.« Max verzog das Gesicht.
»Möglich wäre es natürlich, aber jedes Mal, wenn wir mit dem Mädchen sprechen, kommen mehr Erinnerungen hoch. Ich bin mir sicher, dass Emily existiert. Tut mir leid, Leute, aber ihr müsst einfach weitergraben. «
Marie trat zu ihnen. »Ethans Freund hebt nicht ab, aber ich habe ihm eine Nachricht hinterlassen, und er wird sich hoffentlich zurückmelden.«
»Und Gary?«
»Ist bereits auf dem Weg ins Krankenhaus. Er ist sich sicher, dass er Toni zu einem Besuch in der Kapelle überreden kann.«
»Wunderbar. Wir treffen ihn dort und fahren dann mit Toni zur Kapelle. Wenn sie den Keller wiedererkennt, haben wir einen konkreten Zusammenhang zwischen den beiden Fällen. Außerdem werden wir sie fragen, ob ihr noch mehr zu Emily eingefallen ist.«
Jackman straffte die Schultern. »Okay, los geht’s! Rosie, Sie überprüfen, ob es in Saltern-le-Fen in der Vergangenheit Probleme mit illegalen Partys gab. Melden Sie sich sofort, wenn Sie etwas finden. Max und Charlie – Sie suchen weiter nach Emily und halten die Ohren offen, falls Ethan Barleys Freund anruft. Bringen Sie so viel wie möglich über das Mädchen in Erfahrung, das er in dieser Bar angequatscht hat.«
Max nickte. »Wird gemacht.«
»Dann los! Wir müssen herausfinden, was Toni Clarkson zugestoßen ist, und vor allem, ob noch ein weiteres Mädchen vermisst wird. Außerdem brauchen wir konkrete Hinweise, dass es die hübsche Emily mit den langen dunklen Haaren tatsächlich gibt.«
Jackman warf Marie den Autoschlüssel zu. »Sie fahren. Ich bekomme gerade einen Anruf.«
Er zog sein Handy aus der Tasche und ging zur Beifahrerseite.
»DI Jackman? Tut mir leid, aber ich muss mit Ihnen sprechen. «
Er dauerte einen Moment, bis er Ethan Barleys Stimme eingeordnet hatte. »Gerne, Ethan. Schieß los.«
»Können Sie mir garantieren, dass Sie meinem Bruder helfen, wenn er freiwillig mit Ihnen redet? Ich meine, das Ganze ist doch kein Trick, oder? Ich weiß, dass die Polizei Leute manchmal in die Falle lockt und so. Das passiert immer wieder, also behaupten Sie jetzt nicht das Gegenteil.«
»Ich würde dich niemals anlügen, Ethan. So etwas kann vorkommen, aber mein Team arbeitet anders, okay? Wenn Nicholas etwas weiß und es uns freiwillig erzählt, wird ihm das später zugutekommen. Allerdings ist es umgekehrt genauso: Wenn er etwas weiß und es mir nicht sagt, dann bekommt er es mit mir zu tun. Verstanden?«
Ethan schwieg eine Weile, dann erwiderte er: »In diesem Fall sollte er unbedingt mit Ihnen reden.«
»Falls weitere Argumente notwendig sind, kannst du ihm gerne sagen, dass wir im Keller jede Menge Fingerabdrücke gefunden haben. Falls seine darunter sind, sieht es nicht gut aus … Euer Vater wäre sicher nicht allzu begeistert, seinen jüngsten Sohn in Handschellen zu sehen.«
»Ich bringe ihn zu Ihnen«, erklärte Ethan eilig und klang plötzlich ziemlich verängstigt.
»Gut, wir treffen uns in zwei Stunden am Empfang.«
»Einverstanden. Oh, bevor ich es vergesse: Ich habe mit meinem Freund gesprochen. Das Mädchen, das er angequatscht hat, hatte blonde, zu Stacheln gegelte Haare.« Und damit legte Ethan auf.
»Sieht so aus, als wäre Nicholas von seinem älteren Bruder ordentlich in die Mangel genommen worden. Er wird uns noch heute einen Besuch abstatten.«
Marie grinste. »Perfekt! Das erspart uns eine Menge Arbeit. «
»Und falls Toni die Krypta wiedererkennt, löst sich das Rätsel vielleicht schneller als gedacht.«
Doch Jackman klang zuversichtlicher, als er sich fühlte.
Marie überredete die Clarksons, im Auto zu warten, während sie und Jackman mit Toni in die Kapelle gingen. Vermutlich fiel es ihr leichter, die Wahrheit zu sagen, wenn ihre Eltern nicht dabei waren.
Toni hatte sich bei Marie untergehakt, als sie den Schotterweg entlanggingen, und Marie spürte, wie ihre Anspannung mit jedem Schritt größer wurde.
Sie tätschelte die Hand des Mädchens. »Du brauchst keine Angst zu haben, Toni. Sag uns einfach, ob du die Krypta wiedererkennst oder nicht, dann verschwinden wir sofort wieder.«
»Ich hasse es, dass ich mich an nichts erinnern kann. Es ist echt beängstigend. Ich meine, diese verdammten Perversen könnten weiß Gott was mit mir angestellt haben!« Toni zuckte zusammen und fuhr sich mit der freien Hand über die geprellten Rippen.
»Aber das haben Sie nicht, Toni, das darfst du nicht vergessen.« Marie blieb stehen, nahm das Mädchen an den Schultern und sah ihm tief in die Augen. »Es ist schon schlimm genug, dass sie dir wehgetan haben, aber du wurdest nicht sexuell missbraucht, okay?«
Toni nickte und murmelte leise: »Ja.«
Sie gingen zu der kurzen Treppe und sahen nach unten. »Also, bringen wir es hinter uns.«
Toni machte einen Schritt nach dem anderen, und ihre Hand glitt über die Wand, als würde sie Blindenschrift lesen.
Gary wartete unten und streckte ihr die Hand entgegen .
»Gut gemacht«, lobte er sie. »Wir sehen uns nur schnell um, und dann fahren wir gleich wieder.«
Toni blieb am Eingang stehen, starrte in die Krypta und rümpfte die Nase bei dem Geruch.
»Nein, das war es nicht. Hier riecht es nicht nach Kohl, sondern noch schlimmer. Nach Pisse und so.«
»Bist du dir sicher?« Jackman war mehr oder weniger überzeugt gewesen, dass sie richtiglagen.
»Ja, der Raum ist größer, und es wirkt wie in einer alten Kirche. Ich war in einem richtigen Keller.« Sie erschauderte. »Es lag Gerümpel herum. Kisten und Kartons und so.«
»Entdeckst du hier irgendetwas, das dich an den Ort erinnert, an den sie dich gebracht haben?«, fragte Gary.
Das Mädchen betrat die Krypta und sah sich erneut um.
»Es standen Flaschen mit Kerzen herum, wie die dort.« Sie deutete auf ein Regal mit leeren Weinflaschen, in denen abgebrannte Kerzen steckten. Sie ging hin und nahm eine Flasche in die Hand.
»Emily hat mir das Etikett gezeigt! Sie fand es witzig, und wir haben beide gelacht.«
»Stell die Flasche bitte wieder hin, Toni«, bat Marie. »Wir müssen vielleicht noch Fingerabdrücke nehmen. Aber du meinst, ihr hättet denselben Wein bekommen?«
Toni nickte wütend. »Den Namen werde ich nie vergessen.«
Über Tonis Schulter hinweg lasen sie das Etikett. Old Tart  – alte Schachtel.
»Es gab auch einen, der hieß Old Git  – alter Sack. Da mussten wir noch mal lachen.«
Jackman zuckte mit den Schultern. »Der Wein wird vermutlich hauptsächlich wegen des Etiketts gekauft.«
»Eigentlich sind die Weine überraschend gut, Sir. Einer ist ein Sauvignon blanc, der andere ein Grenache«, erklärte Gary.
»Ich wusste gar nicht, dass Sie ein Weinkenner sind. Sind die Weine schwer zu bekommen?«
»Nein, Sir. Es gibt sie in vielen Supermärkten.«
»War ja klar«, murmelte Jackman.
»Darf ich jetzt nach Hause? Der Geruch bringt mich gleich zum Kotzen.«
Marie legte Toni einen Arm um die knochigen Schultern und lächelte. »Natürlich. Mir geht es genauso. Danke, Toni, du hast uns sehr geholfen.«
»Haben Sie Emily schon gefunden?«
Maries Lächeln erstarb. »Noch nicht. Aber wenn du erst mal zu Hause bist und zur Ruhe kommen konntest, müssen wir auf alle Fälle noch mal über sie reden.«
»Klar. Obwohl ich nicht weiß, was ich Ihnen sonst noch sagen kann. Ich sehe alles wie durch einen Nebel.«
Marie bemühte sich, möglichst positiv zu klingen. »Hey, du hast dich gerade daran erinnert, dass ihr wegen der Etiketten gelacht habt. Ich bin mir sicher, dass noch andere Dinge zurückkommen werden.«
»Vielleicht.« Toni warf einen Blick auf die Tür, wo ihr Vater nervös von einem Fuß auf den anderen trat.
»Ich hoffe es. Emily war echt nett.«
Gary fuhr Toni und ihre Eltern nach Hause. Marie rutschte hinters Lenkrad und startete den Wagen, während Jackman draußen auf und ab ging und nach einem Handysignal suchte. Sie gähnte und trommelte mit den Fingern aufs Lenkrad, dann wendete sie den Wagen und stellte ihn in Richtung Straße ab. Als sie aufblickte, eilte Jackman auf sie zu .
»Rosie hat zwei Vorfälle aus den letzten Monaten ausgegraben, bei denen Jugendliche auf einer illegalen Party waren und danach im Krankenhaus behandelt werden mussten.«
»Waren sie aus der Gegend?«
»Die Kids ja, aber die Partys fanden außerhalb statt. Das ist alles, was sie bisher hat, aber sie gräbt weiter. Und wir beide fahren jetzt am besten zurück und reden mit den Pfarrerssöhnen. Ich bin schon neugierig, was uns der kleine Bruder zu erzählen hat.«