Kapitel 18
Jackman hatte keinen Beweis dafür, dass Emily tatsächlich in dem Tunnelsystem unter dem Windrush-Sanatorium gefangen gehalten wurde.
Er hatte keinen Beweis dafür, dass die Tunnel überhaupt noch zugänglich waren.
Ohne einen konkreten Grund hatte er eine kleine Armee uniformierter Kollegen angefordert, um eine gefährliche alte Bruchbude zu durchkämmen, und er hatte einen seiner Detectives dazu angestiftet, die Feuerwehr zu beschwatzen, damit diese ihnen ihre sündhaft teure Ausrüstung lieh. Sogar die Universität hatte einen ihrer besten Leute geschickt und ihm auch noch genügend Technik mitgegeben, um eine antike Stadt auszugraben.
Und nun hatte er auch noch erfolgreich Verstärkung angefordert, um die Eingänge der sechs unterirdischen Tunnel ausfindig zu machen, die vielleicht nicht einmal existierten.
Er zweifelte langsam an seiner geistigen Gesundheit, doch als er sein Team im Foyer versammelte, stellte sich heraus, dass alle dasselbe vermuteten wie er.
Rosie sah ihn aufgeregt an. »Es passt alles zusammen.
Ich weiß, dass es nur Kleinigkeiten sind, aber sie fügen sich zu einem Ganzen. Sie haben uns doch erzählt, dass Toni Clarkson so etwas wie Chorgesang gehört hat, und Garys Schwester redete von Kirchengesängen. Und wenn man die Karten mit Garys Erzählungen vergleicht, könnten sie tatsächlich direkt über einem der Tunnel gestanden haben.«
»Außerdem verbirgt Micah Lee definitiv etwas vor uns«, flüsterte Charlie Button.
»Ja, schon klar, aber selbst wenn das alles nur ein Haufen Scheiße ist, wissen wir mittlerweile mit Sicherheit, dass sich unter diesem Gebäude noch weitere unterirdische Räume und Tunnel befinden«, wandte Max ein. »Das heißt, dass die Vermisste tatsächlich dort unten versteckt sein könnte. Also fangen wir endlich mit der Suche an!«
Marie tätschelte ihm den Rücken. »Ja, dagegen lässt sich nichts einwenden, oder, Sir?«
Es ergab tatsächlich Sinn. Ein Experte der Universität hatte Hinweise auf unterirdische Räumlichkeiten gefunden, in denen ein entführtes Mädchen untergebracht werden konnte. Außerdem war Jackman überzeugt, dass Emily ganz in der Nähe war. Es wurde also Zeit, auch wenn das Risiko erheblich war …
Wenn ich mich irre, wird mich die Superintendentin ans Kreuz nageln – und zwar in aller Öffentlichkeit.
Jackman beobachtete die emsigen Vorbereitungen der Suchmannschaften und überdachte seine Position. Er bewegte sich auf sehr dünnem Eis.
Um drei Uhr nachmittags meldeten die Suchmannschaften, dass vier der sechs Tunnel eingebrochen oder nicht mehr zugänglich waren. Doch Jackman glaubte
immer noch fest daran, dass sie Emily dort unten finden würden.
Der Anruf kam, kurz bevor die Dämmerung die Marsch in violettes Licht tauchte.
»Wir haben den Eingang gefunden, Sir!« Die Polizistin hatte einen hochroten Kopf und schwitzte. »Es ist der Tunnel, der ins Marschland führt, und er verläuft etwa achthundert Meter weit in Richtung Hobs End.«
Jackman sah die Aufregung, die sich plötzlich auf Maries blassem Gesicht abzeichnete.
»Wo ist er?«
»Da draußen ist ein altes, verfallenes Gebäude, Sir. Eigentlich nicht viel mehr als ein Haufen Ziegel und eingestürzte Wände. Wahrscheinlich sind die Bewohner ausgezogen, als die Gefahr einer Überschwemmung zu groß wurde. Das Cottage liegt kaum höher als der Meeresspiegel, und wir haben eine Falltür entdeckt. Sie führt in einen Keller, und dort ist die Tür in den Tunnel.« Sie wischte sich mit dem Unterarm über die Stirn. »Wir sind bis zur Tür vorgedrungen, aber sie ist verschlossen, und wir können sie nicht einfach so aufbrechen. Wir brauchen doch sicher eine Genehmigung, oder?«
»Wenn es um ein Menschenleben geht, können Sie das sehr wohl, und ich glaube, dass hier tatsächlich jemand in akuter Lebensgefahr schwebt. Sobald der Rest des Teams hier ist, gehen wir mit Ihnen, Constable. Und dann brechen wir sie auf.«
Der Weg durch das Marschland war schmal und holprig. Sie liefen, so schnell sie konnten, auch wenn sie immer wieder ausrutschten und den Halt verloren. Endlich waren sie bei dem verfallenen Gebäude angekommen
.
Jackman hielt kurz inne, um wieder zu Atem zu kommen, und sah, wie Marie gedankenverloren die moosbewachsenen Mauerreste und die alten Ziegel betrachtete. Auch sie war sich sicher, dass sie hier richtig waren. Sie zwängten sich nacheinander durch die alte Falltür und fanden sich kurz darauf in einem winzigen Keller wieder. Es roch ekelerregend nach feuchtem Mauerwerk, Schimmel und verrotteten Pflanzen.
Die Tür zum Tunnel war hingegen relativ neu.
Jackman konnte den Blick nicht abwenden. Das Holz schien ziemlich massiv, und das Sicherheitsschloss war erst vor Kurzem geölt worden.
Vor der Tür wartete ein Constable mit einem schweren Rammbock unter dem muskulösen Arm. »Sir?« Er sah Jackman fragend an.
Jetzt war es also so weit.
Jackmans Herz raste. Sein Blick wanderte von einem Kollegen zum anderen, und er sah, dass es seinem Team genauso ging wie ihm.
Selbst Ted Watchman, der seine wertvolle Wärmebildkamera wie ein Neugeborenes in den Armen hielt, sah aus, als wären seine Nerven zum Zerreißen gespannt.
Erst nach etwa einem halben Dutzend Schlägen gab das Schloss nach, und sie konnten in den Tunnel.
Jackman begann zu laufen.
Das Licht der Taschenlampen reflektierte von den Wänden und zeichnete seltsame Muster an die Decke. Jackman fragte sich, wohin der Weg wohl führte.
Ted rannte keuchend neben ihm her. »Wir kommen dem Windrush-Sanatorium immer näher, Inspector. Laut den Plänen müsste der Tunnel bald zu Ende sein.«
»Da vorne ist noch eine Tür, Chef!«, rief Rosie, die
vorangelaufen war. »Wir brauchen noch einmal den Rammbock.«
Jackman hob abwehrend die Hand. »Einen Moment, und seid mal alle still!«
Sie hatten keine Ahnung, was sich hinter der Tür befand. Womöglich wartete der Entführer mit einem Messer an Emilys Kehle auf sie. Oder das Mädchen saß auf einer selbst gebauten Bombe. Vielleicht war der Raum aber auch leer.
»Okay, Ted, das ist Ihr großer Moment«, erklärte Jackman finster. »Ich muss wissen, ob hinter der Tür noch irgendetwas am Leben ist.«
Der junge Archäologe stieß zitternd die Luft aus und trat dann näher an die Holztür heran. Er öffnete vorsichtig das Display der Kamera und drückte ein paar Knöpfe. Der Bildschirm erwachte zum Leben, und Ted schwenkte die Kamera von links nach rechts.
Das ganze Team hielt den Atem an.
Ted suchte schweigend weiter, bis er schließlich leise seufzte. Jackmans Herz blieb beinahe stehen.
Dann flüsterte der Archäologe: »Ja. Da ist eine Wärmequelle. Sie ist sehr, sehr schwach, aber sie ist da.«
»Nur eine?«
»Ja, nur eine. Da bin ich mir sicher.« Ted trat zurück. »Inspector, es sieht so aus, als wäre der Raum hinter der Tür sehr groß. Um nicht zu sagen gewaltig.«
»Constable! Brechen Sie die Tür auf!«
Sie traten einen Schritt zurück, um dem muskelbepackten Polizisten Platz zu machen. Übelkeit stieg in Jackman hoch. Vielleicht war es tatsächlich Emily, vielleicht war es aber auch nur eine streunende Katze, die sich hierher verirrt hatte
.
Aber falls es Emily war – in welchem Zustand befand sie sich? Und was passierte, wenn es sich doch bloß um eine Katze handelte?
Jackman dachte an die riesige Suchmannschaft und die teure Ausrüstung und hörte bereits das Eis unter seinen Füßen knacken.