Kapitel 20
Sogar Rory Wilkinson verschlug es die Sprache, als er sah, was ihn in der unterirdischen »Krankenstation« erwartete.
Nachdem er sich einen Überblick verschafft hatte, wandte er sich an Jackman: »Wenn ich Sie wäre, würde ich jede psychologische Hilfe in Anspruch nehmen, die Ihnen zur Verfügung gestellt wird.«
»Ich komme schon klar, Rory, aber ich weiß, was Sie meinen, und wenn ich den Kerl geschnappt habe, der für das hier verantwortlich ist, dann werde ich vielleicht mit jemandem reden.«
»Sie glauben also, dass es ein Mann war?«, fragte Rory.
Jackman antwortete nicht. War es vielleicht eine Frau? Aber eine Frau würde doch nie …
»Ich meine nur, weil alles so sauber und ordentlich ist.« Rory sah sich um. »Sehen Sie sich die Blumenvasen an, und wie sorgfältig die Kleider der Opfer fortgeräumt wurden.«
Jackman sah ihn verwirrt an. »Die Kleider?«
»Ja, an der gegenüberliegenden Wand. Sehen Sie die Metallspinde? Alles wurde sorgfältig aufgehängt und beschriftet. Unser Mörder hat uns eine Menge Arbeit erspart. Wir haben nicht nur die Vornamen, sondern auch die Kleider, die diese armen Seelen bei ihrem Verschwinden trugen. Einige sind zwar schon fast zerfallen und nur noch Lumpen, aber andere sehen mehr oder weniger neu aus.« Rory sah sich um. »Die Luft und die niedrige Temperatur hier unten haben den Zerfall gebremst, aber es wird trotzdem eine ganze Weile dauern, bis ich Ihnen Antworten auf Ihre Fragen liefern kann, Inspector.«
Jackman nickte. »Ich weiß, aber derjenige, der das alles zu verantworten hat, war vermutlich heute Morgen noch hier. Jetzt ist er irgendwo dort draußen, wahrscheinlich sogar ganz in der Nähe, und in Anbetracht dessen, was er verloren hat, muss ich Ihnen wohl nicht sagen, wie gefährlich er ist.« Jackman sah den Arzt an. »Ich habe nicht viel Zeit, und falls es Emily nicht schafft, sind Sie der Einzige, der mir helfen kann.«
»Und das werde ich auch. Ich kann Ihnen im Moment nur mit Sicherheit sagen, dass eines der Opfer schon sehr viel länger tot ist als die anderen.«
»Okay, und was bedeutet das?«
»Ich bin mir nicht sicher, aber die Leiche ist mindestens zwanzig oder vielleicht sogar dreißig Jahre alt. Ich kann den Zeitraum nach der Obduktion sicher noch weiter eingrenzen, aber sie liegt definitiv schon am längsten hier. Vielleicht war sie der Grund für all das hier.« Rory rückte seine Brille zurecht und sah sich um. »Ich habe ständig das Gefühl, vor einer dieser seltsamen Kunstinstallationen zu stehen. Selbst einem Künstler fiele wohl nichts Groteskeres ein.«
»Kann ich mal einen Blick in die Spinde werfen?«, fragte Jackman und hob die behandschuhten Hände.
»Natürlich, aber Ihnen wird sofort auffallen, dass es – einschließlich der einzigen Überlebenden – zwar dreizehn Opfer gibt, aber nur zehn volle Spinde.«
»Wir haben trotzdem unheimliches Glück, Rory, denn durch die Namen und die Kleidung wird die Identifizierung der Opfer sicher wesentlich einfacher.«
Rory nickte. »Eine Sache stört mich an diesem Raum – mal abgesehen von dem Offensichtlichen, natürlich. Wonach riecht es hier Ihrer Meinung nach? Ich meine, wenn Sie den Verwesungsgestank einmal beiseitelassen?«
»Desinfektionsmittel? Bleiche? Industriereiniger?«
»Genau! Alles ist blitzblank. Kein Schmutz, kein Staub, keine Spinnweben. Ich habe mehr Wollmäuse in meinem Wohnzimmer, das kann ich Ihnen sagen.« Rory zuckte mit den Schultern. »Er oder sie hat großen Wert darauf gelegt, dass es hier so steril wie möglich ist.«
»Was bedeutet, dass Sie Schwierigkeiten haben werden, irgendwelche Beweise zu finden, oder?«
»Nein, nicht unbedingt. Unsere Methoden sind mittlerweile sehr weit fortgeschritten. Es ist beinahe unmöglich, keine Spuren zu hinterlassen. Wir müssen uns nur ein wenig mehr anstrengen. Aber jetzt würde ich gerne mein Team hereinholen, wenn Sie nichts dagegen haben.«
Jackman machte sich auf den Weg zur Tür. »Melden Sie sich, falls Sie noch etwas brauchen, Rory. Zusätzliche Beleuchtung, Leute, Fahrzeuge, was auch immer. Niemand wird in diesem Fall ans Budget denken.«
Rory nickte. »Ich melde mich, sobald wir etwas gefunden haben, das interessant für Sie sein könnte.«
Jackman hob dankend die Hand und trat zurück, als die ersten in blaue Kapuzenanzüge gekleideten Gestalten mit ihrer Ausrüstung an ihm vorbeiströmten.
Auf dem Weg durch den Tunnel hörte er Rorys Stimme. » O nein! Doch nicht so! Bitte! Denken Sie an Eierschalen oder Schmetterlingsflügel, und benehmen Sie sich nicht wie ein Metzger!«
Jackman lächelte in sich hinein. Er war froh, dass Rory Wilkinson die gerichtsmedizinische Untersuchung übernommen hatte. Falls es in der Kammer des Schreckens noch irgendwelche Antworten gab, würde er sie finden.
Er fuhr zur Dienststelle zurück, wo Marie am Empfang auf ihn wartete. »Gary hat Benedict Broome hierhergebracht, wie Sie angeordnet haben, aber es gab leider ein kleines Problem.«
»Warum? Was ist passiert?«
»Oh, es hat nichts mit Broome zu tun, sondern mit seiner Haushälterin, Elizabeth Sewell. Als sie die uniformierten Kollegen auf das Haus zumarschieren sah, ist sie zusammengebrochen und befindet sich inzwischen in der Notaufnahme. Broome meinte, sie hätte ›schwache Nerven‹. Sie ist scheinbar in ständiger ambulanter psychiatrischer Behandlung. Wir lassen sie durchchecken, damit nichts passiert. Vor allem, weil wir sie später ja noch befragen müssen.« Marie holte Luft. »Zwei Beamte sind bei ihr, bis wir sie hierherbringen können, und keiner der beiden wird ihr Fragen zu dem Fall stellen. Die Uhr läuft also erst, nachdem sie aus dem Krankenhaus entlassen wurde.«
Jackman dachte an Rorys Einwand: Sie glauben also, dass es ein Mann war?
»Was ist mit Micah Lee?«
»Er sitzt bereits in Harlan Marsh.«
Jackman warf einen Blick auf die Uhr. Sie konnten Broome und Lee sechsunddreißig Stunden in Gewahrsam behalten. Vierundzwanzig Stunden unter seiner und zwölf Stunden unter der Zuständigkeit der Superintendentin. Nach allem, was sie im Windrush-Sanatorium entdeckt hatten, hatte er keine Bedenken wegen der Verhaftungen, aber er brauchte konkrete Beweise. Leider war die Arbeit für die Gerichtsmediziner und die Spurensicherung so umfangreich, dass er kaum Hoffnung hatte, diese rechtzeitig zu bekommen. Es zählte jede Sekunde – und auch das Glück spielte eine große Rolle.
»Kann ich vor der abschließenden Besprechung kurz mit Ihnen reden, Sir?«
»Natürlich, gehen wir in mein Büro.«
Marie folgte ihm, schloss die Tür und setzte sich.
Jackman lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Schießen Sie los.«
»Als Sie vorhin mit Rory noch einmal nach unten gingen, bin ich eine Zeit lang herumspaziert, um einen klaren Kopf zu bekommen. Nach ein paar Hundert Metern hörte ich plötzlich ein Flüstern. In der Dämmerung und mit unserer schrecklichen Entdeckung im Kopf war es mehr als unheimlich.«
Jackman sah sie an. »Die Geister von Hobs End?«
»Nein, sondern Sie, Sir.«
»Ich?«
»Nach einer Weile wurde mir klar, dass Sie und Rory Wilkinson sich direkt unter mir im Tunnel aufhielten. Vermutlich gibt es Belüftungsschlitze oder so etwas, aber sie verzerren die Geräusche, und es klang wirklich schaurig! Jetzt weiß ich, wie Hobs End zu seinem Ruf kam und warum Garys Schwester Geräusche gehört hat und er nicht. Es hängt davon ab, wo man gerade steht.«
»Dann waren das also echte menschliche Stimmen unter der Erde! Gary wird sich freuen, das zu erfahren. «
»Und wir auch, denn das könnte auch den Gesang erklären.«
Jackman nickte, und plötzlich tauchte ein erschreckendes Bild vor seinem inneren Auge auf. »Sie meinen, der Mörder hat gesungen, während er auf dem Weg durch den Tunnel war?«
»Nun, wir wissen, dass er den Tunnel jahrelang benutzt hat, und vor ihm gingen die Schmuggler dort ein und aus. Es würde den Aberglauben der Menschen erklären.«
»Vielleicht ist das auch die Erklärung für die vielen Marschlichter. Wir wissen bereits, dass eine Stromleitung von der Scheune in den unterirdischen Raum verlegt wurde, und wenn es Stellen gibt, an denen Geräusche an die Oberfläche dringen, warum nicht auch Licht?« Jackman grinste. »Gut gemacht, Detective! Sie haben gerade das Rätsel um Hobs End gelöst!«
»Ja, und es fühlt sich echt gut an. Das Gerede über Geister und unheimliche Erscheinungen hat mich in den Wahnsinn getrieben. Ich mag Fakten.«
»Gut, denn bei unserer nächsten Aufgabe geht es ausschließlich um Fakten. Es wird Zeit für die Besprechung. Sind alle da?«
»Ja, Sir. Sie warten im Ermittlungsraum.«
»Okay, wir legen los, sobald ich mit Superintendentin Crooke gesprochen habe, und dann machen wir uns auf den Weg zu Broome.« Jackman durchfuhr ein aufgeregter Schauer. »Ach, Marie? Gute Arbeit!«
Ruth Crooke sah noch angespannter aus als beim letzten Gespräch. »War es so schlimm, wie ich gehört habe?«
»Vermutlich, Ma’am. Vielleicht sogar noch schlimmer. Ich weiß nicht, was man Ihnen erzählt hat. «
»Egal, es tut mir jedenfalls leid, dass Sie eine so schreckliche Entdeckung machen mussten, Jackman.«
Er zuckte mit den Schultern. »Besser ich als ein Familienvater, der selbst eine oder mehrere Töchter hat.«
»Und Broome und sein Hausmeister befinden sich bereits in Gewahrsam?«
»Ja, wir starten gleich nach der Teambesprechung mit den Verhören. Wollen Sie dabei sein?«
»Nein, machen Sie nur. Ich muss mich mit dem Assistant Chief Constable herumschlagen und die Sache mit den Medien klären.«
Jackman schnappte nach Luft. »Aber wir gehen doch noch nicht an die Öffentlichkeit, oder? Verdammt, ich brauche unbedingt noch etwas Zeit, bevor das Affentheater losgeht.«
Sie lächelte müde. »Beruhigen Sie sich, Detective! Ich halte die Informationen so lange wie möglich zurück. Ich möchte nur vorbereitet sein, falls jemand den Mund nicht halten kann. Sie wissen doch, dass sich eine so umfangreiche Ermittlung nicht lange unter Verschluss halten lässt. Die halbe Dienststelle befindet sich im Moment da draußen, und auch wenn Hobs End nicht gerade eine Metropole ist, fällt den Leuten auf, dass etwas nicht in Ordnung ist. Sie reden und werden bald die ersten Fragen stellen, und wenn wir ihnen dann keine befriedigende Antwort liefern, werden sie eins und eins zusammenzählen und zu einem vollkommen falschen Ergebnis kommen.«
Sie hatte recht. Es war gut möglich, dass ein Einheimischer bereits das örtliche Revolverblatt verständigt hatte, nachdem er die Blaulichter gesehen hatte. »Bitte entschuldigen Sie, Ma’am. Ich möchte Sie nur bitten, mir genügend Zeit zu verschaffen, um den Besitzer des Windrush-Sanatoriums zu befragen und ihn entweder hinter Gitter zu bringen oder freizulassen.«
Ruth Crooke nickte. »Ja, das werde ich. Außerdem habe ich die anderen Teams gebeten, ihre derzeitigen Fälle umzuorganisieren, damit sie Ihnen behilflich sein können. Vor allem bei der Identifizierung der Opfer. Sprechen Sie sich einfach mit den Kollegen ab, sie gehören ganz Ihnen.« Sie richtete sich auf und kehrte zu ihrer gewohnten schroffen Art zurück. »Und jetzt bringen Sie Ihre Besprechung hinter sich, und vergessen Sie nicht die neue Arbeitsanweisung hinsichtlich psychologischer Traumata. Es gibt einen vertraulichen Beratungsdienst, den Sie sämtlichen Teammitgliedern, die möglicherweise betroffen sind, ans Herz legen sollen.«
Ja, klar. Machen wir alles nur noch komplizierter und bereiten denjenigen, die allein damit klarkommen, Schuldgefühle, weil sie keine Nervenbündel sind. »Ich werde dafür sorgen, dass alle über die entsprechenden Möglichkeiten Bescheid wissen, Ma’am«, erklärte Jackman und wandte sich ab.
»Und halten Sie mich über sämtliche neuen Entwicklungen auf dem Laufenden, Rowan.«
»Wird gemacht, Ma’am.«
Die Besprechung dauerte nicht so lange, wie Jackman erwartet hatte. Er kannte sich sehr gut mit Körpersprache aus und hatte das Gefühl, dass keiner der Anwesenden übermäßig verstört war. Immerhin waren sie allesamt erfahrene Polizistinnen und Polizisten und kein Haufen leicht zu beeindruckender Schulkinder.
Er hatte Marie gebeten, die Augen offen zu halten, doch ihr war ebenfalls niemand aufgefallen, der nicht mit der Situation zurechtkam. Für die meisten war es bloß ein weiterer Fall, auch wenn er natürlich um einiges grauenhafter war als sonst. Es kursierten sogar schon die ersten geschmacklosen Witze, und in diesem Fall sah Jackman es als gutes Zeichen.
»Wer ist bei Emily im Krankenhaus?«, fragte er Marie.
»Eine uniformierte Kollegin und einer von DI Osbornes Detective Constables. Außerdem hat Stefan einen lettischen Dolmetscher organisiert, falls es sich tatsächlich um das vermisste Gastarbeitermädchen aus Greenborough handelt. Sie rufen sofort an, wenn es Neuigkeiten gibt«, erwiderte Marie. »Im Moment liegt sie im Schockraum, und niemand weiß, ob sie es schaffen wird.«
Jackman hoffte, dass Emily wieder zu sich kommen würde. Nur ein paar Worte, ein Name oder eine kurze Beschreibung, und sie konnten den Mistkerl festnageln, der den Mädchen so viel Leid zugefügt hatte.
Der Raum leerte sich langsam, bis nur noch Jackman, Marie und Rosie übrig waren. Er warf einen Blick auf die Uhr. Es war kurz nach neun. »Es ist schon zu spät, um die Anwohner zu befragen, aber ich will, dass wir morgen früh sofort damit beginnen. Rosie, trommeln Sie ein paar uniformierte Kollegen zusammen, die zum Roman Bank hinausfahren und die Gebäude in der näheren Umgebung abklappern sollen. Es sind nicht viele, aber es ist wichtig, dass sie genau nachsehen.«
Rosie nickte. »Wird gemacht, Chef.«
»Sagen Sie ihnen, dass sie vorsichtig sein sollen. Es ist noch nicht bewiesen, dass Broome oder Lee tatsächlich für die Sache verantwortlich sind. Der Täter könnte im Grunde überall sein, und deshalb müssen die Kollegen jede Ungereimtheit sofort melden.« Er wandte sich an Marie.
»Der Sergeant bei den Verwahrungszellen meinte, wir könnten heute noch mit Broome sprechen, aber wir müssen uns kurzfassen. Er muss sich an diese verdammten gesetzlichen Vorgaben halten.«
»Dann gehen wir lieber gleich zu ihm.«