Kapitel 21
Jackman und Marie saßen vor dem Verhörzimmer und warteten darauf, dass Benedict Broome zu ihnen gebracht wurde.
»Bevor wir reingehen, sollten wir uns vielleicht noch mal kurz ansehen, was wir bisher über Broome herausgefunden haben«, meinte Jackman.
Marie öffnete einen dünnen Aktenordner. »Das hier sind die Ergebnisse von Andy Englishs und Kevin Stoners Nachforschungen. Es ist nicht gerade viel.« Sie warf einen Blick in die Unterlagen. »Benedict Broome ist der Besitzer der Luxusimmobilie am Fluss. Er wohnt seit etwa zehn Jahren dort, und seine Haushälterin ist in einem kleinen Anbau untergebracht. Sie ist von Beginn an bei ihm, kümmert sich um den Haushalt, kocht und so weiter. Abgesehen von einem Gärtner, der zweimal die Woche kommt, gibt es kein weiteres Personal.«
»Was macht Broome beruflich?«
»Davon steht hier nichts. Ein Job wird nirgendwo erwähnt.« Sie las weiter. »PC Goode hat versucht, Broomes Stammbaum zurückzuverfolgen, ist aber offenbar nicht weit gekommen. «
»Das klingt nach der richtigen Aufgabe für unseren Max, nicht wahr? Es sei denn, Broome liefert uns selbst ein paar glaubwürdige Antworten. Ich wünschte, Toni Clarkson wäre nicht so high gewesen, dann hätte sie ihn oder Micah Lee womöglich bei einer Gegenüberstellung wiedererkannt. So kann sie sich nur noch an die seltsamen Augen des Mannes erinnern.«
»Das Wort einer Minderjährigen, die vorher eine Handvoll Ooblies bekommen hat, würde ohnehin nicht anerkannt werden.« Marie sah auf. »Ah, gut. Es geht los. Der Sergeant winkt uns zu sich.«
»Okay, dann schauen wir mal, was Mr Benedict Broome uns zu sagen hat.«
Benedict Broome wurde ins Verhörzimmer geführt, doch bevor der Sergeant Jackman und Marie einließ, sagte er leise zu ihnen: »Fassen Sie sich kurz. Es ist schon zu spät für eine ausführliche Befragung, und er will keinen Anwalt dabeihaben.«
Marie zuckte mit den Schultern. »Das ist sein gutes Recht, aber unter diesen Umständen nicht gerade ratsam.« Sie betraten das Zimmer, und Marie fragte sich, was für ein Mensch sie wohl erwartete.
Jackman legte ein Tonband ein, stellte sich vor und bat Marie und Broome, dasselbe zu tun. Anschließend erklärte er, warum das gesamte Verhör aufgezeichnet wurde, und erklärte Broome mehr als deutlich, wie ernst die Lage war.
»Ich muss Ihnen dringend raten, angesichts der Schwere der Anschuldigungen und der Art der Entdeckung unter Ihrem Anwesen einen Anwalt hinzuzuziehen, Mr Broome.«
Broome sah Jackman an. »Detective Chief Inspector, ich bin mehr als bereit, Ihre Fragen zu beantworten. Was Sie dort entdeckt haben, ist schrecklich, und ich bin am Boden zerstört. Ich bin genauso schockiert und überwältigt wie Sie, oder vielleicht sogar noch mehr, denn ich wollte das Sanatorium zu einem Ort der Ruhe und des Friedens machen.« Er stieß ein bitteres Lachen aus. »Aber jetzt, wo ich weiß, welche abscheulichen Taten dieser böse Mensch verübt hat, wird dort wohl niemand mehr Ruhe finden.«
Benedict war gut gebaut, doch man sah ihm an, dass er gerne gut und teuer aß und ebensolchen Wein trank. Seine Kleidung war ebenfalls von gehobener Qualität, und er strahlte das Selbstbewusstsein eines erfolgreichen Geschäftsmannes aus.
»Außerdem will ich die Dinge weder für Sie noch für mich selbst in die Länge ziehen. Selbst, wenn ein Anwalt anwesend wäre, würde ich Ihnen alles erzählen, was ich weiß, und ehrlich zu Ihnen sein.«
Er lehnte sich zurück und faltete die Hände im Schoß. Jackman ließ sich mit seiner Antwort Zeit.
Marie beobachtete die beiden aufmerksam. Broome war überaus gebildet und kannte das Gesetz offensichtlich sehr gut, was ihn deutlich von den anderen »Kunden« unterschied, die ihnen normalerweise in diesem Zimmer gegenübersaßen. Eine Tatsache, die Jackman natürlich in seine Überlegungen miteinbezog.
»In Ordnung, Sir. Darf ich Sie dann fragen, ob Ihnen bereits erklärt wurde, warum Sie heute hier sind?«
Broome bestätigte, dass man ihn darüber informiert hatte, dass eine vermisste junge Frau und mehrere Leichen unter einem der Außengebäude und dem dazugehörigen Gebiet auf seinem Anwesen gefunden worden waren. Aus diesem Grund musste er als Besitzer natürlich befragt werden, und Gleiches galt für seine Angestellten .
»Wussten Sie von den Tunneln unter Ihrem Grundstück, Sir?«, fragte Marie.
»Ich kannte nur die alten Geschichten. Alte Häuser haben nun mal ihre Geheimnisse, nicht wahr? Priesterlöcher, Geheimverstecke, Durchgänge, versteckte Keller und natürlich auch Tunnel. Allerdings wurde mir gesagt, dass es in den Fens sehr wenige Tunnel gibt, nachdem der Mensch dem Meer das Land abgerungen hat. Deshalb ist die Sache ja so ungewöhnlich.« Er kratzte sich gedankenverloren am Kinn. »Im Hauptkeller gab es eine versteckte Tür, aber die wurde zugemauert, lange bevor ich das Gebäude übernahm. Angesichts des Alters des Hauses bin ich mir sicher, dass es nicht die einzige war.«
Marie runzelte die Stirn. »Aber Sie haben doch sicher ein ausführliches Gutachten in Auftrag gegeben, bevor Sie die Pläne für die Umbauarbeiten erstellen ließen?«
»Ja, DS Evans, das habe ich. Aber soweit ich es verstanden habe, befindet sich der Raum mit den Leichen nicht auf dem Teil des Geländes, für das aktuell Veränderungen geplant sind. Wenn das Geschäft gut angelaufen und es finanziell machbar gewesen wäre, hätte ich eventuell noch zwei weitere Ausbaustufen angehängt. Bei diesem Gebiet handelt es sich um Stufe drei, das heißt, es wurden noch keine Pläne angefertigt und demnach auch keine Untersuchungen durchgeführt.« Er seufzte schwer. »Und jetzt wird es wohl nie mehr dazu kommen.«
»Was machen Sie beruflich, Sir?«, fragte Jackman und wechselte damit abrupt das Thema.
»Ich bin am Finanzmarkt tätig. Ich handle mit Aktien.«
»Dann haben Sie also genug Geld?«
»Ich komme gut zurecht, aber genug hat man nie, DI Jackman.« Broome lächelte. »Vor allem mit einem Anwesen, das so viel Geld verschlingt wie das Windrush-Sanatorium.«
»Haben Sie es wirklich beim Glücksspiel gewonnen?«, fragte Marie.
»Ja, das habe ich.«
»Spielen Sie gerne?«
»Ich habe ja bereits erwähnt, dass ich mit Aktien handle. Das heißt, dass ich gerne Risiken eingehe, und man könnte meinen Beruf auch als Glücksspiel bezeichnen.«
Marie betrachtete ihn interessiert. Er klang kultiviert und selbstsicher.
»Stammen Sie aus der Gegend, Sir?«, fragte Jackman.
»Nein, ich wurde weiter im Westen geboren, und meine Familie zog später nach Cambridgeshire.«
»Was ist mit Ihren Eltern?«, fragte Marie, und ihr entging nicht, dass Jackman Broome eingehend musterte.
»Sie sind schon lange tot«, erwiderte Broome ohne eine Gefühlsregung. »Sie starben, als ich noch ein Teenager war.«
»Und wer hat sich danach um Sie gekümmert?«
»Ich bekam Hilfe von Bekannten, und glücklicherweise war genug Geld da. Aber bis zu einem gewissen Grad schlug ich mich allein durch.« Er rutschte nach vorne und stützte die Ellbogen auf dem Tisch ab. »Solche Dinge passieren nun mal. Man muss einfach weitermachen und damit klarkommen. Ich habe überlebt, das ist alles, was zählt.«
»Was hat Sie denn hierher verschlagen?«
»Mein Anwalt und ich brauchten Jahre, um mein komplexes Erbe aufzuschlüsseln, und vor einiger Zeit entdeckten wir, dass mir ein Haus in der Admiralty Row gehört. Es gefiel mir auf Anhieb, und damit war die Sache klar. Ich habe den bisherigen Mietern gekündigt und bin eingezogen. «
Es klang alles durchaus glaubwürdig. Marie wünschte, sie hätte Rosies Fähigkeit, in anderen Menschen zu lesen wie in einem offenen Buch.
Schweigen senkte sich über das Zimmer, während die beiden Polizisten nachdachten, wie sie am besten weiter vorgehen sollten.
Marie warf einen Blick in ihre Notizen. Sollte sie ihn auf den Gesang ansprechen? Sie entschloss sich dagegen. Broome könnte leicht lügen, und sie war noch nicht bereit, diese Karte auszuspielen.
Jackman ließ den Mann nicht aus den Augen. »Reden wir doch über Ihren Hausmeister, Micah Lee. Er schien ziemlich nervös, als wir uns mit ihm unterhalten haben. Haben Sie eine Ahnung, warum?«
»Offenbar hatte Micah Lee als Kind einen schweren Unfall, der massive Lernschwierigkeiten nach sich zog. Er ist ein guter und körperlich fitter Arbeiter, aber geistig kann er nicht mithalten. Er tat mir leid, und der Job auf dem Anwesen gibt seinem Leben einen gewissen Sinn. Außerdem ist er extrem loyal.«
»Wo wohnt er?«
»Auf einer Farm in Fendyke. Sie gehört einem Kartoffelbauern namens Tanner. Micah arbeitet während der Erntesaison für ihn, und ich glaube, er hilft auf dem Hof, wenn er nicht gerade im Sanatorium beschäftigt ist.«
»Mr Broome, wir brauchen Ihr Alibi für die Zeit, in der die junge Frau entführt wurde«, erklärte Marie. »Wo waren Sie letzten Freitag?«
Broome schwieg einen Moment lang. »Zuerst war ich in meinem Büro, das sich in meinem Haus befindet. Einen Großteil der Arbeit erledige ich über Telefon und Internet. Am Nachmittag habe ich meine Haushälterin zu einem Ambulanztermin ins Krankenhaus gebracht. Soweit ich weiß, habe ich allein zu Abend gegessen. Danach habe ich wahrscheinlich noch einige Telefonate erledigt und bin so gegen …«, er rieb sich das glatt rasierte Kinn, »… elf Uhr ins Bett gegangen. Es ist mir bewusst, dass es sich dabei um sehr allgemeine Angaben handelt, aber mein Alltag ist nicht gerade aufregend.«
»Und Elizabeth Sewell? Arbeitet sie schon lange für Sie?«
»Sie hat etwa eine Woche nach meinem Einzug begonnen. Sie hat schwache Nerven und ist sehr labil, aber der ruhige Arbeitsplatz tut ihr gut. Außerdem ist sie eine hervorragende Köchin.«
Broomes Antworten waren so banal, dass er – abgesehen von seiner Spielleidenschaft – der langweiligste Mensch der Welt zu sein schien. Aber trotzdem war da noch etwas.
Jackman warf einen Blick auf die Uhr und beendete die Befragung. »Es wird Zeit, dass Sie ein wenig Schlaf bekommen, Sir, aber wir haben morgen sicher noch weitere Fragen an Sie.«
»Natürlich, DI Jackman.« Er hob die Hände. »Ich stehe Ihnen jederzeit zur Verfügung.«
»Emily wurde identifiziert!« Max hechtete beinahe über seinen Schreibtisch, um möglichst rasch bei ihnen zu sein. »Es ist tatsächlich das lettische Mädchen! Aija Ozoliņa. Janis, der Dolmetscher, ist mit ihrem Onkel ins Krankenhaus gefahren, und der hat sie wiedererkannt.«
»Wie geht es ihr?«, fragte Jackman.
»Nicht gut, Chef. Sie ist noch nicht über den Berg und hängt immer noch am Beatmungsgerät. «
»Zumindest ist sie diesem verdammten Höllenloch entkommen.« Jackman nahm sich vor, Toni Clarkson so bald wie möglich über Emilys Rettung zu informieren.
»Außerdem hat sich Professor Wilkinson gemeldet und um einen Rückruf auf dem Handy gebeten.«
Max kehrte an seinen Schreibtisch zurück. »Broomes Hintergrundrecherche treibt mich noch in den Wahnsinn. Egal, von welcher Seite ich es versuche, es kommt einfach nichts dabei heraus. Es sieht aus, als wäre er aus dem Nichts aufgetaucht. So, als würde er gar nicht existieren!«
»Vielleicht tut er das auch nicht.« Marie setzte sich auf Max’ Schreibtischkante. »Irgendetwas an dem Kerl kommt mir seltsam vor. Wenn ich du wäre, würde ich die Suche beim nächsten Mal noch erheblich ausweiten.«
»In welche Richtung denn?«, fragte Max.
Marie zuckte mit den Schultern und gähnte. »Keine Ahnung. Ich kann nur nicht glauben, dass er tatsächlich der wohlhabende Langweiler ist, für den er sich ausgibt.«
Jackman konnte ein Gähnen ebenfalls nicht unterdrücken. »Ja, da stimme ich Ihnen zu. Er ist zu perfekt, um wahr zu sein.« Er sah auf die Uhr. »Verdammt! Jetzt ist es schon viel zu spät, um auch noch mit Micah Lee zu sprechen. Wir müssen in Harlan Marsh anrufen und für morgen früh einen Termin vereinbaren. Womöglich brauchen wir einen gesetzlichen Beistand, um seine Interessen zu wahren. Nach dem Gespräch mit Broome bin ich mir nicht sicher, was den geistigen Zustand des Mannes betrifft. Vielleicht ist er geistig behindert, und ich will nicht am Ende erfahren, dass die Befragung nicht zulässig war.«
»Ja, das ist wahr«, murmelte Marie. »Ich rufe sofort in Harlan Marsh an und organisiere alles. «
»Gut, und ich telefoniere mit Rory.« Jackman wählte die Nummer des Pathologen.
»Einen Moment, ich gehe rauf und rufe Sie zurück«, rief Rory, der kaum zu verstehen war. »Wir müssen reden.«
Rory war ziemlich außer Atem, als er sich erneut meldete.
»Also, was haben Sie für mich?«
»Zunächst einmal kann ich sagen, dass die Zeitspanne zwischen den einzelnen Opfern immer kürzer wurde, was für das wachsende Selbstvertrauen eines Serienmörders spricht – auch wenn ich Ihnen das sicher nicht erklären muss. Vor zehn Jahren hat er noch sehr unregelmäßig gemordet, aber in letzter Zeit wurde es häufiger.«
»Hoffentlich haben wir ihn gestoppt, bevor die Sache ausufern konnte.«
»Ich glaube schon. Aber Sie sollten nicht vergessen, dass wir sein kostbares Versteck enttarnt haben. Sie sind sicher nicht sein allerbester Freund. Es wäre sogar möglich, dass er Sie so sehr hasst, dass er nur Ihretwegen erneut mordet.«
»Es sei denn, ich finde ihn, bevor er die Gelegenheit dazu erhält«, murmelte Jackman. »Was haben Sie noch?«
Rory holte Luft. »Es ist nur eine Kleinigkeit, aber sie irritiert mich. Bei der Dokumentation der Kleidungsstücke ist uns aufgefallen, dass die einzige Überlebende falsche Schuhe anhatte. Sie passen ihr auf keinen Fall, aber sie gehören auch keinem der anderen Opfer.«
Jackman erklärte ihm, dass es vermutlich Toni Clarksons Schuhe waren.
»Ah, Sie sind der Held des Tages! Das Rätsel ist gelöst! Ich hasse solche kleinen Ungereimtheiten.« Rory sprach weiter: »Aber jetzt zu einem wichtigeren Punkt: Einer meiner Mitarbeiter vor Ort brachte die Frage auf, wie der Mörder es geschafft hat, die Betten und die anderen Einrichtungsgegenstände nach unten zu schaffen. Er hat sie wohl kaum über das Marschland und anschließend durch den Tunnel geschleppt. Ich nehme an, dass der Besitzer des Windrush-Sanatoriums sich darauf berufen wird, dass der Eingang zum Tunnel und zur Totenkammer im Marschland liegt und daher mehr oder weniger öffentlich zugänglich ist, habe ich recht?«
Jackman bestätigte, dass dieser Punkt bereits zur Sprache gekommen war.
»Das dachte ich mir, und aus diesem Grund habe ich mir den Raum und vor allem die Wände einmal genauer angesehen. Es ist mit bloßem Auge kaum erkennbar, aber der Verputz einer Wand unterscheidet sich von den anderen, und wenn man genau hinsieht, kann man die Umrisse einer Tür erkennen.«
Aufregung packte Jackman. »Das bedeutet, dass die Betten und die restliche Einrichtung durch einen Zugang nach unten gebracht wurden, der direkt auf dem Anwesen liegt?«
»Ja, das vermute ich stark. Ich nehme an, dass der Raum zuerst vollständig eingerichtet und der Eingang danach verschlossen wurde. Entweder, damit niemand im Sanatorium zufällig darüberstolpert, oder um den Anschein zu erwecken, der Besitzer des Anwesens hätte nichts mit der Totenkammer zu tun. Die Betten stammen sicher aus der Zeit, als das Haus noch als Sanatorium geführt wurde.« Rory atmete tief durch. »Wenn wir hier fertig sind, würde ich vorschlagen, dass Sie meinen Freund Ted noch einmal herholen. Vielleicht kann er mithilfe seiner exzellenten Ausrüstung herausfinden, was sich auf der anderen Seite der Wand befindet. «
»Ja, ich werde mit ihm reden, Rory. Er hat uns übrigens noch gar nicht verlassen. Er und einer unserer IT -Profis versuchen gerade, einen neuen Plan des Anwesens mit sämtlichen unterirdischen Tunneln und Räumen zu erstellen.«
»Perfekt! Ted liebt solche Herausforderungen. Und fragen Sie ihn doch bitte auch gleich, ob er einen guten forensischen Anthropologen hier in der Gegend kennt, der uns mit dem ältesten Opfer helfen könnte. Ich habe alle Hände voll zu tun, und ich bin mir sicher, dass das Mädchen eine Menge Geheimnisse für uns bereithält.«
»Ich werde mit ihm reden. Aber was meinen Sie mit ›eine Menge Geheimnisse‹?«
»Nun, ich kann Ihnen zumindest jetzt schon sagen, dass das hier nicht der erste Ort ist, an dem sich die Leiche befand.«
Jackman runzelte die Stirn. »Wurde sie exhumiert? Oder einfach ausgegraben? Könnten Sie vielleicht etwas deutlicher werden? Mir schwirren gerade einige sehr bizarre Bilder durch den Kopf.«
»Die sind vermutlich nicht viel grotesker als die Realität. Das Mädchen wurde definitiv erst einige Zeit nach seinem Tod hierhergebracht. Fragen Sie mich nicht, woher ich das weiß – die Erklärung steht dann in meinem Abschlussbericht.«
Jackman seufzte. »In Ordnung, ich werde Ted auf jeden Fall fragen, ob er jemanden kennt, der Ihnen behilflich sein kann. Wie Sie schon sagten: Das Mädchen könnte der Schlüssel sein.«
»Und ich mache mich wieder auf den Weg in meinen privaten Hades. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie viel Arbeit wir heute Nacht noch vor uns haben … «
»Wie kommen Sie denn zurecht, Rory? Es sind schließlich sehr viele Leichen. Die Gerichtsmedizin ist wohl kaum groß genug dafür, und dann sind da ja auch noch Ihre alltäglichen Fälle.«
Rory lachte. »Ich verrate Ihnen jetzt mal ein Geheimnis: Es gibt tief unten in den Eingeweiden des Krankenhauses noch eine weitere Leichenhalle. Es weiß kaum jemand davon, aber sie wurde vor Ewigkeiten eingerichtet, um mit einer schweren Epidemie oder einer Naturkatastrophe zurechtzukommen. Sie wurde zum letzten Mal während der großen Hitzewelle vor ein paar Jahren benötigt, als so viele alte Menschen starben. Im Moment sind meine Techniker gerade vor Ort und nehmen sie wieder in Betrieb. Also keine Sorge, mein Freund, wir haben für alle Platz. Aber jetzt muss ich weitermachen. Wir hören uns später.«
Jackman legte auf und dachte an das erste Opfer. Hatte der Mörder das Mädchen umgebracht und eingegraben und war dann sehr viel später wiedergekommen, um die Leiche zu exhumieren und sie in ein Krankenbett mit hübschen Blumen auf dem Nachtkästchen zu legen? Das konnte er sich irgendwie nicht vorstellen. Er schnaubte und machte sich auf die Suche nach Ted Watchman.
Der junge Archäologe war noch immer mit den alten Karten und Computerausdrucken beschäftigt, und seine Augen begannen zu leuchten, als Jackman ihm von der Wand und einer möglichen Tür erzählte. Er wollte unbedingt zurück zum Tatort und sich die Sache näher ansehen. Außerdem war eine seiner Fakultätskolleginnen eine brillante forensische Anthropologin. Sie hieß Professor Jan Wallace, und er versprach Jackman, sie gleich am nächsten Morgen anzurufen .
Jackman befahl ihm, in der Zwischenzeit nach Hause zu gehen, und kehrte anschließend zu Marie zurück.
»In Harlan Marsh sind sie nicht sonderlich hilfsbereit«, murmelte sie. »Ich hoffe aber, dass sie bis morgen früh alles in die Wege geleitet haben. Die Kollegen meinten, Micah Lee verhalte sich ziemlich eigenartig.«
»Das ist ja nichts Neues.« Jackman runzelte die Stirn. »Ich hätte wirklich gerne noch heute mit ihm gesprochen, aber diese verdammten Vorschriften verbieten es uns.«
»Keine Sorge, wir fahren morgen als Erstes zu ihm.« Marie unterdrückte ein Gähnen.
Jackman versuchte es erst gar nicht, sondern gähnte herzhaft. »Hoffentlich ist er dann gesprächiger.«
Marie verzog das Gesicht. »Er tut, als würde das Haus ihm gehören. Ich habe noch nie so viel geballte Wut erlebt.«
»Vielleicht ist er nach der Nacht in der Zelle zugänglicher.« Jackman seufzte. »Kommen Sie, wir suchen die anderen, und dann fahren wir nach Hause. Es war ein grauenhafter Tag!«
Ihre Kollegen saßen im Ermittlungsraum, und die Erschöpfung war ihnen deutlich anzusehen.
»Okay, Leute, lasst alles stehen und liegen. Die beiden Verdächtigen wurden bereits von den diensthabenden Sergeants ins Bett gebracht, und wir können hier nichts mehr tun. Fahrt nach Hause.«
Marie wandte sich an Gary. »Los geht’s, Mitbewohner! Mein Gästezimmer wartet schon. Genauso wie der magere Inhalt meines Kühlschrankes. Oder wollen Sie lieber auf dem Weg noch ein Fertiggericht aus dem Supermarkt holen?«
»Ich habe eine Kühltasche mit Essen im Auto, Sarge. Ich könnte uns etwas kochen. Ich wette, ich bin schneller, als wenn wir beim Supermarkt haltmachen – selbst um diese Zeit.«
Marie leckte sich über die Lippen. »Wie lange sagten Sie noch gleich, dass Sie hierbleiben werden?« Sie wandte sich an Jackman. »Gute Nacht, Sir. Wir sehen uns in ein paar Stunden.«
Jackman hob die Hand zum Gruß und ging dann langsam in sein Büro. Er wollte nichts lieber, als in sein gemütliches Zuhause in der alten Windmühle zurückzukehren, sich an seinem AGA -Herd wärmen und sich in sein herrliches Bett legen, doch er wusste, dass er die relative Stille nutzen musste, um alles durchzudenken, was bisher passiert war.
Er schloss die Tür. Die Klimaanlage surrte leise, und aus den verschiedenen Abteilungen waren ab und zu lautere Stimmen zu hören, doch im Vergleich zur normalen Dienstzeit war es in seinem Büro so ruhig wie in einer leeren Kapelle.
Er setzte sich, stützte die Ellbogen auf der glänzenden Holzoberfläche ab und legte das Kinn in die Hände. Dann schloss er die Augen, die bereits vor Müdigkeit brannten. Er dachte an die Nachtkästchen mit den kleinen Blumenvasen.
Warum tat ein kaltblütiger Serienmörder etwas so Zärtliches und Liebevolles?
Jackman hatte das Gefühl, dass er nur die Antwort auf diese Frage finden musste, um zu verstehen, was unter dem Windrush-Sanatorium passiert war.
Er wünschte sich einen Profiler. Jemanden, mit dem er über die Motive des Mörders und dessen Psyche reden konnte. Aber nachdem sie in der Vergangenheit schlechte Erfahrungen mit einem Psychologen gemacht hatten, wollte die Superintendentin nichts mehr von einer derartigen Unterstützung hören.
Jackman lehnte sich in seinem Stuhl zurück und starrte an die Decke. Das hier führte zu nichts. Wenn ihm außer den Blumenvasen nichts mehr einfiel, wurde es wirklich Zeit, nach Hause zu fahren.