Kapitel 22
»Entschuldigen Sie, Sir, aber es gibt da ein Problem.« Gary trat in Jackmans Büro und sah ihn besorgt an. »Sie hatten mich ja gebeten, die Bilder der Überwachungskamera zu überprüfen, auf denen Nick Barley mit den Organisatoren der illegalen Partys zu sehen ist.«
Jackman sah ihn an. »Was haben Sie gefunden?«
»Nichts. Die Bilder sind fort.« Gary trat nervös von einem Bein aufs andere. »Na ja, nicht spurlos verschwunden, aber Chief Superintendent Cade hat sie mitgenommen. Als ich nach dem Grund fragte, hieß es, dass das Team in Harlan Marsh ›seine aktuellen Fälle geklärt‹ hätte und ›sich freuen würde, uns hilfreich zur Seite zu stehen‹. Außerdem würde das ursprünglich als vermisst geltende Mädchen aus Harlan Marsh stammen, weshalb die dortigen Beamten die beiden Männer eher wiedererkennen würden als wir.«
Jackman biss wütend die Zähne zusammen. Dazu hatte Cade kein Recht! Nicht ohne Jackmans ausdrücklichen Befehl. Es gab mittlerweile eine nachweisliche Verbindung zwischen den illegalen Partys, den Entführungen der Mädchen und einem Serienmörder, und er fragte sich ernsthaft, was Cade im Schilde führte
.
»Sieh mal einer an«, sagte Marie leise und ließ den Autoschlüssel von ihrem Zeigefinger baumeln.
»Dieser verdammte Mistkerl!«, murmelte Jackman. »Warten Sie kurz, Marie. Ich rede noch schnell mit der Superintendentin.«
Jackman stürmte in Ruth Crookes Büro und platzte sofort mit seiner Wut heraus.
»Ich weiß Bescheid«, erwiderte seine Vorgesetzte ruhig. »Und Sie sollten sich besser wieder beruhigen, Rowan, denn Cade hat recht. Sie sind diesen Kerlen schon seit Monaten auf der Spur, daher sind auch die Chancen höher, dass sie die beiden identifizieren.« Sie deutete auf ihren Besucherstuhl, doch Jackman ignorierte sie und wanderte weiterhin ruhelos auf und ab.
»In einem solchen Fall gilt es, den Dienstweg einzuhalten und sich an die allgemeinen Regeln der Höflichkeit zu halten, Ma’am. Aber Cade hat nichts dergleichen getan.«
»Chief Superintendent Cade will Sie doch nur unterstützen! Er meinte, er wäre Ihnen für Ihre Hilfe im Fall des vermissten Mädchens sehr zu Dank verpflichtet, und da Sie nun so viel um die Ohren haben, wollte er Ihnen ebenfalls einen Gefallen tun.« Ihre Augen wurden schmal. »Ich würde daher vorschlagen, dass Sie seine Hilfe annehmen. Da sind zwölf tote Mädchen, die identifiziert werden müssen, und möglicherweise läuft ein Serienmörder frei herum – Sie haben also mehr als genug zu tun.«
»Erinnern Sie mich bloß nicht daran.« Jackman ließ sich in den Stuhl sinken und wollte bereits weitersprechen, als das Telefon der Superintendentin klingelte. Sie meldete sich und gab den Hörer anschließend an Jackman weiter.
»Es tut mir leid, Rowan, aber Aija Ozoliņa – auch bekannt als Emily – ist vor ein paar Minuten verstorben. Der
diensthabende Officer im Krankenhaus möchte mit Ihnen sprechen.«
Jackman fühlte sich, als hätte ihm jemand den Boden unter den Füßen weggezogen. Emily hatte so viel durchgemacht und war gerettet worden, nur um dann doch zu sterben. Er biss die Zähne zusammen, um nicht frustriert aufzuheulen.
»DI
Jackman.«
»Sir, ich wollte Ihnen nur mitteilen, dass Emily noch einmal das Bewusstsein wiedererlangt hat. Leider waren es nur wenige Augenblicke. Der Arzt meinte, die Drogen hätten einen irreparablen Schaden verursacht. Sie hat einen schweren Herzinfarkt erlitten und konnte nicht mehr wiederbelebt werden.«
»Hat sie ihren Entführer erwähnt, Officer?«
»Emily sprach in ihrer Muttersprache, Sir, aber Janis, der Dolmetscher, war anwesend. Er sagte, sie hätte sich vor allem Sorgen um ihre Familie gemacht, aber sie erwähnte auch, dass jemand für sie gesungen hätte. Dann geriet sie plötzlich in Panik und begann zu brüllen. Irgendetwas über Augen. Ich habe aufgeschrieben, was Janis übersetzt hat, Sir: ›Tote Augen! O mein Gott! Geh weg von mir! Bitte! Schau mich nicht an!‹ Mehr hat sie nicht gesagt. Janis hat versucht, ihr eine Beschreibung des Mörders zu entlocken, aber kurz darauf hörte ihr Herz auf zu schlagen.«
Jackman bedankte sich bei dem Constable und gab Ruth Crooke das Telefon wieder. Seine Trauer verwandelte sich bereits in blanke Wut. »Ich muss jetzt gehen und mit meinen Leuten reden, auch wenn sie die Neuigkeiten vermutlich nicht hören wollen.«
»Rowan, Sie dürfen nicht vergessen, dass wir bereits zwei Verdächtige in Gewahrsam haben und eine weitere
Person im Krankenhaus unter Beobachtung steht. Die Karten stehen sehr viel besser als sonst.«
»Aber meine einzige Augenzeugin ist gerade gestorben, und wenn sich die Verdächtigen als unschuldig erweisen, läuft da draußen ein Psychopath herum.«
Jackman erzählte seinem Team von Emilys Tod, und die Enttäuschung war ihnen deutlich anzusehen. Sie hatten ihre ganzen Hoffnungen in sie gesetzt.
»Was sagt Ihr Bauchgefühl zu den beiden Verdächtigen, Chef?«, fragte Charlie.
»Im Moment noch gar nichts. Wir haben bis jetzt ja erst mit Broome gesprochen. Bei Micah müssen wir äußerst vorsichtig sein.«
»Leider wird aus dem Verhör wieder nichts«, verkündete Marie. »Ich habe gerade eine Nachricht aus der Dienststelle von Harlan Marsh erhalten. Der Amtsarzt hat ihn sich angesehen, und er ist nicht vernehmungsfähig. Auch nicht mit einem gesetzlichen Beistand. Sie rufen an, wenn sich etwas ändern sollte.«
Jackman fluchte. Der Tag entwickelte sich zu einem regelrechten Albtraum. »Na gut, dann kommen wir hier nicht weiter. Aber wir könnten es mit dem Farmer versuchen, bei dem Lee wohnt. Ich glaube, er hieß Tanner.«
»Soll ich den uniformierten Kollegen vielleicht bei der Befragung der Anwohner am Roman Bank helfen?«, fragte Rosie. »Sie haben zu wenige Leute, und dort draußen stehen mehr Häuser, als ich dachte.«
»Gute Idee. Also, so sieht es im Moment aus: Ted Watchman ist ins Windrush-Sanatorium gefahren, um einen möglichen versteckten Eingang zu untersuchen. Der Tatort wurde noch nicht freigegeben. Micah Lee ist nicht
vernehmungsfähig, und die Bilder der Überwachungskameras hat ein anderes Revier für sich beansprucht. Das ist zwar kein besonders toller Start in den Tag, aber es bleibt trotzdem genug zu tun.«
Er betrachtete sein Team. »Ich würde sagen, Charlie begleitet Rosie zu der Befragung der Anwohner, und Marie kommt mit mir. Max? Sehen Sie sich bitte Broomes Haus näher an. Nehmen Sie ein paar uniformierte Kollegen mit und versuchen Sie, so viel wie möglich über ihn herauszufinden. Sie sollen das Haus nicht auseinandernehmen, aber sich trotzdem genau umsehen.« Er sah erneut die Blumen neben den Betten der toten Mädchen vor sich. »Und vergessen Sie nicht den Anbau, in dem Elizabeth Sewell wohnt. Ach ja, und finden Sie auch gleich heraus, wie der Gärtner heißt.«
Er wandte sich an Gary. »Sie fahren mit Marie und mir zu Mr Lees Wohnung. Mal sehen, was Mr Tanner zu erzählen hat.« Dann fiel ihm noch etwas ein. Er wandte sich an Clive, der für die Büroarbeit zuständig war. »Ich will, dass Sie Grace Black anrufen und Ihr diplomatisches Geschick einsetzen.« Er verzog das Gesicht. »Versichern Sie ihr, dass wir unsere Verantwortung gegenüber Kenya immer noch sehr ernst nehmen. Sagen Sie ihr, dass der Fall eskaliert ist, aber dass wir uns sehr bald persönlich bei ihr melden werden.«
Clive reckte einen Daumen in die Höhe. »Keine Sorge, Sir. Ich werde diskret, höflich, taktv…«
»Okay, ich verstehe, was Sie meinen.«
Sie hatten die Stadt beinahe hinter sich gelassen, als Jackman sich zu Gary umwandte, der ruhiger als sonst zu sein schien. »Ist es wegen Emily?«, fragte er. »Wir sind alle sehr
enttäuscht, weil wir dachten, sie würde uns zu dem Mörder führen.«
Gary schüttelte den Kopf. »Das stimmt zwar, aber das ist es nicht.« Er verzog das Gesicht, und dann platzte es aus ihm heraus: »Wissen Sie, es hat mich echt gewurmt, dass Chief Superintendent Cade einfach unsere Überwachungsbilder konfisziert hat, also habe ich mit einem Freund aus Harlan Marsh geredet.« Er sah Jackman an. »Ich kann mich auf ihn verlassen, und ich weiß, dass er dichthalten wird.«
Jackman legte den fünften Gang ein und wartete gespannt.
»Sobald Cade von den Leichen Wind bekommen hatte, machte er sich auf schnellstem Weg auf nach Saltern und fragte die Superintendentin, wie die Ermittlungen im Fall der illegalen Partys vorangehen – und den Rest kennen Sie ja.«
»Und was schließen Sie daraus?«, fragte Marie vom Rücksitz aus.
»Dass er jemanden kennt, der da mit drinhängt und den er beschützen will.«
»Noch so ein Freund, der bis zum Hals im illegalen Sumpf steckt«, schnaubte Marie. »Aber warum hat er uns dann gebeten, ihm behilflich zu sein? Wenn er wirklich Freunde hat, die in die Sache verwickelt sind, warum lädt er dann ein hoch angesehenes Ermittlungsteam ein, das anfängt herumzustochern?«
»Ehrlich gesagt …« Gary nagte an seiner Unterlippe. »Ehrlich gesagt, wette ich fünf Pfund, dass er tatsächlich dachte, Toni wäre mal wieder davongelaufen. Er wollte Neil Clarkson beeindrucken, indem er Sie an Bord geholt hat.« Seine Augen wurden schmal. »Ich traue dem Mann alles zu. Und wenn ich zurückdenke, waren unsere Er
mittlungen von Anfang an vom Pech verfolgt. Ich hatte schon länger den Verdacht, dass jemand die Organisatoren vorab warnte.« Sein Gesicht wurde hart wie Stein. »Beweise verschwanden plötzlich, Zeugen widerriefen ihre Aussage, und es gab eine ganze Reihe verdächtiger Vorkommnisse.«
Jackman bog von der Hauptstraße auf eine lange, gerade Zufahrtsstraße. Er ließ seinen Blick über die brachliegenden Felder wandern. »Würde Ihr Freund vielleicht noch weitere diskrete Nachforschungen für Sie anstellen?«
Gary nickte. »Er schuldet mir etwas, und diesen Gefallen könnte ich einlösen. Obwohl er es sicher auch freiwillig macht, wenn er dadurch Cades Pläne durchkreuzen kann.«
»Dann bitten Sie ihn, dass er ein Auge auf Cades ›Hilfe‹ bei den Ermittlungen hat.«
Gary zog sein Telefon heraus und rief seinen Freund an, sprach kurz mit ihm und legte auf. »Alles erledigt.« Er lächelte grimmig. »Er ist ein guter Kerl. Er wird sich melden, sobald er etwas herausgefunden hat.«
Ein paar Minuten genossen die drei einfach nur den Sonnenschein, der das silbergraue Wasser im Entwässerungsgraben entlang der Straße zum Funkeln brachte. »Dieses Land ist so wunderschön«, meinte Gary leise. »Wie ist es möglich, dass hier so viel Böses geschieht?«
Lee wohnte in einem für die Fens typischen Bauernhaus. Mit dem steilen Schieferdach, zwei Kaminen auf beiden Seiten, den beiden Erkerfenstern und einer Haustür mit dazugehöriger Veranda in der Mitte erinnerte es Jackman an die Zeichnung eines kleinen Kindes.
Die Scheunen um das Haus waren sauber und gepflegt, aber es war seltsam still.
Niemand kam an die Tür, und Jackman befürchtete bereits, dass sie umsonst hergefahren waren, als ein großer,
muskulöser Mann in staubigen Jeans und einer schäbigen Wachsjacke aus einem der Lagerräume trat.
Gary winkte, und der Mann kam auf sie zu.
Gary zeigte ihm seinen Ausweis. »Wir wollen zu Mr Tanner. Ich bin PC
Pritchard, und das sind DI
Jackman und DS
Evans.«
Sie holten ebenfalls ihre Marken heraus, und der Mann warf einen Blick darauf.
»Ich bin Bill Hickey, der Betriebsleiter. Mr Tanner ist leider für ein paar Tage verreist. Geht es um Micah?«
Jackman nickte. »Sie kennen ihn?«
»Ja, ich bin jetzt seit fünf Jahren hier, und da war Micah bereits da. Er ist ein seltsamer Kerl, nicht gerade der Hellste, aber zuverlässig. Außerdem arbeitet er verdammt hart. Er hilft immer beim Sortieren der geernteten Kartoffeln und beschwert sich nie über die schwere Arbeit, sondern macht unermüdlich weiter.«
»Ist er mit Mr Tanner befreundet, oder ist er nur ein gewöhnlicher Mieter?«
»Ich schätze, die beiden sind schon irgendwie befreundet, aber nicht sehr eng. Sie sind Junggesellen und lieber für sich, weshalb die Situation wohl für beide angenehm ist. Micah hat ein eigenes Wohnzimmer und auch ein Schlafzimmer, aber sie teilen sich die Küche.« Hickey steckte die Hände in die Taschen. »Ihre Leute waren vergangene Nacht hier und haben seine Wohnung durchsucht, aber sie wollten nicht sagen, was los ist.«
»Tut mir leid, Sir, aber das können wir auch nicht.« Marie betrachtete den Betriebsleiter interessiert. »Wo ist Mr Tanner eigentlich?«
»In Deutschland, bei einem großen Landmaschinenhersteller.
«
»Wann ist er fortgefahren?«
»Vorletzte Nacht. Er kommt morgen zurück.« Hickey sah von einem zum anderen. »Geht es Micah gut? Er hatte doch keinen Unfall?«
»Es geht ihm gut, Sir«, erwiderte Jackman knapp.
»Aber er steckt in Schwierigkeiten, nicht wahr?« Hickey grinste kaum merklich. »Er kann verdammt schnell die Nerven verlieren. Es würde mich nicht wundern, wenn er jemanden zusammengeschlagen hätte.«
Jackman schüttelte den Kopf. »Er hilft uns bei unseren Ermittlungen, Mr Hickey, aber er war in keine Schlägerei verwickelt. Haben Sie einen Schlüssel für das Haus? Wir würden uns gerne Mr Lees Wohnung ansehen.«
Hickey nickte und holte einen großen Schlüsselbund aus der Jackentasche. »Ich bin mir zwar nicht sicher, ob Mr Tanner das gutheißen würde, aber ich denke, es tut niemandem weh. Ist es okay, wenn ich mitkomme?«
»Natürlich. Sie gehen voran.«
Das Haus war sauber und schmucklos, ohne Dekogegenstände, Pflanzen, Fernseher oder Computer. Und ohne Leben,
dachte Jackman.
Micahs Zimmer war genauso karg, und jeder Gegenstand erfüllte ausschließlich einen praktischen Zweck. Jackman warf Marie einen hilflosen Blick zu. »Das Haus wird es vermutlich nicht auf das Cover eines Einrichtungsmagazins schaffen, oder?«
»Und es liefert uns keinen einzigen Hinweis darauf, was für ein Mensch Micah ist.« Marie wandte sich an Hickey. »Wie würden Sie Micah Lee einschätzen? Woher kommt er?«
Der Betriebsleiter atmete aus. »Ich glaube, da fragen Sie den Falschen, Sergeant. Er hat ziemliche Probleme, aber
ich habe keine Ahnung, was die Ursache ist. Er ist lieber für sich, aber er hat mal erzählt, dass er als Kind in Derbyshire gewohnt hat. In der Nähe des sogenannten Pest-Dorfes im Peak District. Eyam heißt es, glaube ich.«
»Wie sieht es mit engen Freunden aus?«
»Soweit ich weiß, hat er keine, und außerdem hat er in letzter Zeit sehr viel Zeit bei seinem anderen Job im Sanatorium verbracht, sodass ich ihn kaum gesehen habe.«
Jackman zuckte mit den Schultern und betrachtete ein letztes Mal die kahlen Wände. »Ich habe genug gesehen. Danke, Mr Hickey.«
»Sie sollten unbedingt mit Toby Tanner über Micah sprechen, Detective. Er kennt ihn besser als jeder andere. Ich werde ihm sagen, dass er Sie anrufen soll, sobald er zurück ist.«
Auf dem Weg zum Auto murmelte Jackman: »Ich hoffe, Charlie und Rosie hatten mehr Glück. Das hier ist ein seltsamer Ort. Es fehlt jegliche Heimeligkeit.«
Gary nickte. »So ist das offenbar, wenn es keine Frau im Haushalt gibt.«
Dem konnte Jackman nicht zustimmen. Immerhin hatte er auch keine Partnerin, aber er hatte sein Haus trotzdem zu einem Zuhause gemacht. Diese Farm war wirklich mehr als eigenartig.
Rosies und Charlies Vormittag verlief wesentlich erfolgreicher.
Zuerst waren sie bei einem älteren Ehepaar gewesen, dessen Eltern im Windrush-Sanatorium gearbeitet hatten, als es im Zweiten Weltkrieg als Soldatenunterkunft gedient hatte. Die beiden hatten eine Menge Geschichten, Tee und echt leckere Plätzchen für die beiden Polizisten bereitgehalten.
Zum Schluss erzählte Ernie, der Ehemann, dass er einmal bei einem Spaziergang mit seinen zwei Hunden eine seltsame, unheimliche Stimme gehört hatte, die im Dämmerlicht traurige Lieder sang.
Auch der zweite Besuch war ziemlich informativ gewesen. Der Besitzer des Cottages hieß Ralph Jenkins und war ein kleiner, stämmiger Mann mit zotteligem Vollbart. Er war der örtliche Vertreter der Königlichen Gesellschaft für Vogelschutz und verbrachte viel Zeit in der Marsch, wo er Wat-, Wasser- und Zugvögel katalogisierte. Er erklärte, bereits öfter eine Gestalt draußen im Marschland gesehen zu haben – und zwar bei jedem Wetter. »Dieser Idiot! Ich bin hier geboren und aufgewachsen, Detectives, aber ich würde so etwas nie machen.«
Als Letztes fuhren sie zu dem Haus von Garys Tierarzt und erwischten ihn glücklicherweise an seinem einzigen freien Tag.
»Kommen Sie doch rein! Wollen Sie einen Kaffee?«
Philip Groves, der eine alte Cordhose und ein kariertes Hemd trug, führte sie in ein gemütliches, einladendes Wohnzimmer. Beinahe jede freie Fläche wurde von einem Haustier belagert. Rosie zählte sechs Hunde verschiedenster Rassen und mindestens drei schlafende Katzen.
»Es ist nur leider kein Sitzplatz frei.« Groves lächelte und wandte sich dann an die beiden Jack-Russell-Terrier. »Kommt schon, Jungs! Jacko! Willoughby! Runter da! Macht der Dame Platz!«
Rosie setzte sich, und Willoughby sprang sofort auf ihren Schoß.
»Ach, du meine Güte! Ich hoffe, Sie mögen Hunde, Miss?«
»Ich liebe sie«, erwiderte Rosie und kraulte den kleinen Hund hinterm Ohr
.
Charlie schob eine fette, flauschige Katze von einem Lehnstuhl, setzte sich und erklärte, warum sie hier waren.
»Gibt es Probleme in Windrush?«, fragte Groves.
»Ja, Sir, aber mehr können wir Ihnen derzeit leider nicht sagen.«
»Aber der Riese, der dort arbeitet, hatte doch keinen Unfall, oder?« Groves’ Gesicht wurde ernst. »Er ist ständig allein unterwegs. Zu jeder Tages- und Nachtzeit. Das ist verdammt gefährlich hier draußen.«
»Nein, Mr Lee geht es gut, Mr Groves«, erwiderte Rosie. »Aber haben Sie außer ihm vielleicht noch jemand anderen in der Nähe des Sanatoriums beobachtet?«
Philip Groves zuckte mit den Schultern. »Ich glaube nicht, dass ich den Besitzer des Anwesens schon einmal gesehen habe. Aber mein Nachbar, Jenkins, ist oft draußen unterwegs. Er beobachtet Vögel. Ernie Coulter geht regelmäßig mit seinem Hund spazieren, und dann ist da noch der eine oder andere Wanderer.« Er runzelte die Stirn. »Jetzt, wo ich darüber nachdenke, habe ich vor etwa einer oder zwei Wochen jemanden weit draußen in der Marsch gesehen. Es ist nicht sonderlich schlau, so weit hinauszugehen, es sei denn, man kennt sich wirklich gut mit den Gezeiten und dem Wetter aus.«
»Dann muss es also ein Einheimischer gewesen sein?«, fragte Charlie.
»Das hoffe ich doch! Es ist sehr gefährlich, wenn man nicht von hier ist. Hier in der Gegend wohnen nicht viele Leute, Detective, aber diesen Kerl habe ich sicher noch nie gesehen.«
»Leben Sie allein, Mr Groves?«, fragte Rosie.
»Ja, abgesehen von der Meute hier.« Er deutete auf seine Haustiere. »Am Anfang hatte ich einen Hund – einen
Mischling – und eine Katze. Die anderen haben im Lauf der Jahre auf die eine oder andere Weise ihren Weg zu mir gefunden. Und jetzt sehen Sie sich uns an …«
»Haben Sie schon einmal jemanden draußen in der Marsch singen gehört, Sir?«, fragte Rosie.
Groves’ Lächeln verblasste, und ein seltsamer Ausdruck trat auf sein Gesicht.
»Ich wusste nicht, dass Sie sich auch für diese Geistergeschichten interessieren.«
»Möglicherweise sind es gar keine Geistergeschichten. Falls Sie etwas gehört haben, gibt es womöglich eine durchaus logische Erklärung dafür.«
»Ich kenne nur die alten Klatschgeschichten«, erwiderte Groves knapp. »Aber mich würde natürlich interessieren, worauf Sie anspielen.«
»Das werden wir Ihnen gerne erklären, Sir, aber im Moment ist das leider noch nicht möglich.« Charlie erhob sich. »Danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben.« Er gab Groves seine Karte. »Rufen Sie bitte an, falls Ihnen noch etwas zu dem alten Sanatorium oder der Marsch einfällt.«
Beim Hinausgehen drehte sich Charlie noch einmal um. »Ach, das hätte ich fast vergessen. Wir sollen Ihnen schöne Grüße von einem unserer Kollegen ausrichten, der Sie von früher kennt, Sir. PC
Gary Pritchard?«
»Gary! Natürlich! Er und seine wunderbare Schwester kamen früher immer mit ihren Hunden zu mir, bevor ich die Praxis in der Stadt übernommen habe. Gary ist ein guter, ehrlicher Mann. Er liebt seine Hunde und geht zum Abschalten gerne mit ihnen raus. Richten Sie ihm bitte die besten Wünsche aus, ja?« Er warf einen Blick auf Rosie, die Willoughby immer noch in den Armen hielt. »DC
McElderry, ich fürchte, der Hund muss hierbleiben. Aber zu
meiner Praxis gehört auch eine kleine Auffangstation, die von Freiwilligen und einigen meiner Assistentinnen betreut wird. Wenn Sie einem Hund oder einer Katze ein schönes Zuhause schenken wollen, dann kommen Sie gerne einmal vorbei.«
»Dafür mache ich zu viele Überstunden, Mr Groves. Das wäre nicht fair«, erwiderte Rosie und setzte den kleinen Hund seufzend auf dem Boden ab.