Kapitel 23
Zurück im Ermittlungsraum, reichte Clive Jackman ein Memo. »Das hier ist vom Gerichtsmediziner. Und ich habe mit Grace Black gesprochen. Sie war sehr verständnisvoll. Ihr ist klar, dass Sie im Moment viel um die Ohren haben, aber sie würde sich über ein Update freuen, wenn Sie die Zeit dafür finden.«
»Ja, selbstverständlich«, erwiderte Jackman und überflog das Memo, bevor er sich an Marie wandte: »Der Tatort wurde noch nicht freigegeben, aber Rory ist einverstanden, dass wir beide uns noch mal umsehen. Ted Watchman hat in der Zwischenzeit bestätigt, dass sich in einer der Wände ein großer Durchgang befand, der sorgfältig verschlossen wurde. Und zwar von einem Tunnel unter dem Haus aus. Das bedeutet, dass die Betten und die andere Einrichtung tatsächlich aus dem Windrush-Sanatorium nach unten geschafft wurden.«
»Was für Benedict Broome sprechen würde«, erwiderte Marie eifrig.
»Oder für den Mann, der schon seit geraumer Zeit auf dem Anwesen arbeitet.«
»Micah Lee. «
»Genau. Wir müssen unbedingt so schnell wie möglich mit ihm reden! Ich werde sofort in Harlan Marsh anrufen und ein Wörtchen mit dem Amtsarzt reden. Sehen Sie doch bitte nach, ob Rosie und Max schon zurück sind, und dann fahren wir gleich noch mal raus ins Sanatorium.«
Rory Wilkinson winkte sie zu sich und deutete auf die kleinen Kärtchen, die über jedem Bett befestigt gewesen waren. Er wirkte erschöpft.
»Nachdem Sie so zuvorkommend waren, meinen Tatort nicht zu verunreinigen, haben Sie die hier natürlich noch nicht von hinten gesehen.« Rory griff mit seinen behandschuhten Fingern nach einer Karte und zeigte ihnen die verblasste handschriftliche Notiz auf der Rückseite.
»Das Geburtsdatum?«, fragte Jackman und dachte sofort an den Mann, der unbedingt wissen wollte, wann Toni Clarkson geboren worden war.
»Ja, zumindest Teile davon. Der Wochentag ist auf jedem Kärtchen vermerkt, und auf manchen steht auch noch der Monat oder das Jahr. Andere sind hingegen bereits vollständig verblasst. Aber wie Sie sehen, wurde der Wochentag auf allen Karten unterstrichen.«
Marie trat näher heran. »Die Mädchen wurden alle an einem Mittwoch geboren?«
»Nachdem die älteren Namenskärtchen nicht mehr lesbar sind, können wir es erst nach den Laboruntersuchungen mit Sicherheit sagen, aber auf denjenigen, die wir noch entziffern konnten, steht überall Mittwoch.«
»Montagskind hübsch anzusehen, Dienstagskind anmutig schön …« Jackman sah Marie Hilfe suchend an, weil er nicht mehr wusste, wie der alte englische Kinderreim weiterging .
»Mittwochskind voll Kummer und Leid!« Marie schüttelte den Kopf.
»Ein guter Psychologe würde das sicher äußerst interessant finden«, erklärte Rory und legte das Schild zurück.
»Ja, wenn wir bloß einen hätten«, murmelte Jackman missmutig.
Rory warf ihm über den Rand seiner Brille einen Blick zu. »Wissen Sie, ich habe da einen Freund. Er ist ein brillanter forensischer Psychologe und außerdem bereits in Rente, weshalb er Ihnen vielleicht als Berater zur Verfügung stehen würde. Soll ich ihn anrufen?«
Jackman dachte an die Aversion der Superintendentin dem Thema Profiling gegenüber und an die Probleme, die sie mit ihrem letzten Berater gehabt hatten, doch dann antwortete er: »Ja, bitte tun Sie das. Ich würde sehr gerne einige Dinge mit ihm besprechen.«
»Gut. Ich bin mir sicher, dass er Ihnen eine große Hilfe sein wird. Außerdem ist er einfach umwerfend! Er ist natürlich schon ein wenig älter, aber … Mein Gott, wenn ich nicht schon in festen Händen wäre … Aber ich schweife ab! Bevor ich es vergesse, wollte ich Ihnen noch danken, dass Sie uns eine so wunderbare forensische Anthropologin organisiert haben. Ich werde Sie einander gleich vorstellen, aber die Frau weiß wirklich eine Menge über Knochen.«
Rory wandte sich wieder den Karten zu. »Da ist noch etwas. Es geht um die Handschrift, die darauf zu sehen ist.« Er biss sich auf die Lippe. »Es handelt sich natürlich um keinen eindeutigen Befund, aber der Techniker, der sie katalogisiert hat, ist Grafologe, und er ist sich sicher, dass sie von einer Frau geschrieben wurden.«
Jackman sah Marie an, dass sie dasselbe dachte wie er. Bedeuteten die Blumenvasen, die sorgfältig verstauten Kleider und die gewissenhafte Beschriftung, dass Rory von Anfang an recht gehabt hatte?
Aber was war dann mit dem Mann mit den seltsamen Augen? Und mit dem Sänger? War er vielleicht ein Komplize?
»Haben Sie denn eine weibliche Verdächtige, Jackman?«, fragte Rory.
»Ja, möglicherweise. Sie heißt Elizabeth Sewell«, antwortete Jackman leise. »Aber sie liegt im Moment im Krankenhaus und kann nicht befragt werden.«
»Nun, an Ihrer Stelle würde ich sie definitiv im Auge behalten. Ich schätze, dass sie eine Menge über die Kinderstation weiß.« Er hob eine Augenbraue. »Aber gehen wir doch noch zu unserer ältesten Patientin – und zu Professor Wallace. Wir haben alles erledigt, was vor Ort möglich war, und unser Mädchen gerade für den Transport vorbereitet.«
Rory blieb etwas abseits stehen und stellte sie einander vor, wobei er Jackman und Marie ermahnte, nicht zu nahe heranzugehen, damit sie den Leichnam nicht kontaminierten.
Die Anthropologin war klein, stämmig, hatte große, leuchtende Augen und erinnerte Jackman an seine Tante Hilda. Es bereitete ihr offensichtlich einige Schwierigkeiten, ihre grauen Haare unter der Kapuze des Schutzanzugs unterzubringen, weshalb sie aussah, als hätte sie einen riesigen Kopf.
Jackman kämpfte gegen den Drang an, sie Tantchen zu nennen, und fragte stattdessen, warum das Bein des Skelettes so deformiert wirkte.
»Das kann ich Ihnen erst genau sagen, wenn ich die Knochen im Labor untersuchen konnte, aber ich nehme an, dass sie sich als Kind den Knöchel gebrochen hat. Es muss ein komplizierter Bruch gewesen sein, der auch den unteren Teil des Schienbeins betraf. Die Deformation ist sogar jetzt noch erkennbar. Entweder wurde der Bruch nicht ordentlich behandelt, oder es kam zu einer weiteren Verletzung an derselben, bereits geschwächten Stelle. Wenn Sie morgen zu mir in die Gerichtsmedizin kommen, kann ich Ihnen mehr sagen.«
»Können Sie vielleicht abschätzen, wie alt das Mädchen war, Professor?«, fragte Marie.
»Ich rate zwar nicht gerne, aber wenn es wichtig für Sie ist, dann würde ich sagen, dass sie zwischen vierzehn und sechzehn Jahre alt war. Wir machen noch einige Tests, dann wissen wir mehr.«
»Rory Wilkinson sagte, dass dieses Mädchen schon wesentlich länger tot ist als die anderen Opfer. Können Sie uns vielleicht einen Anhaltspunkt geben, wann sie starb?«
Die Anthropologin legte den cremig-braunen Knochen in ihrer Hand beinahe zärtlich in eine Kiste und betrachtete ihn nachdenklich. »Ich würde sagen, dass es etwa zwanzig Jahre her ist. Vielleicht aber auch länger.«
Jackman fragte sich, wer um alles in der Welt dieses Mädchen war, und warum jemand das Risiko eingegangen war, es aus seinem Grab zu holen und hierherzubringen. Es war mehr als bizarr.
Rory reichte Jackman einen Ausdruck. »Ich habe einen meiner Mitarbeiter gebeten, das hier für Sie vorzubereiten, damit Sie nicht auf den Abschlussbericht warten müssen. Vielleicht hilft es Ihnen bei den ersten Nachforschungen.« Es war eine Liste der Namen und Daten auf den Kärtchen und eine Beschreibung der Kleidungsstücke, die so sorgfältig aufbewahrt worden waren, dass sie jedem Opfer zugeordnet werden konnten. Das war nicht nur wegen der Spuren wichtig, die zweifellos noch erhalten waren, sondern auch für die Identifizierung der Opfer. Die Eltern wussten sicher noch ganz genau, was ihre Kinder am Tag ihres Verschwindens getragen hatten.
»Danke, Rory. Das weiß ich sehr zu schätzen.« Jackman steckte den Zettel vorsichtig in seine Tasche.
»Keine Ursache. Ich schätze, dass wir den Tatort heute Abend freigeben können. Vorausgesetzt, die Logistiker finden einen Weg, meine Patienten aus der Marsch zu transportieren. Sie wollen mit ihren Geländewägen so nahe wie möglich an den Eingang fahren, und dann sollen die Leichen von mehreren Männern auf Bahren aus dem Tunnel und zu den Fahrzeugen getragen werden. Es klingt wie die Evakuierung eines Schützengrabens im Ersten Weltkrieg! Wie auch immer, wir haben alles fotografiert, dokumentiert und sauber gemacht und sämtliche Beweisstücke eingepackt und etikettiert. Ich hoffe, dass meine Patienten noch heute Abend bei mir im Krankenhaus ankommen, und dann können wir mit der richtigen Arbeit beginnen.« Er trat einen Schritt zurück. »Und nun muss ich Sie bei allem Respekt bitten, sich endlich zu verziehen und mich weiterarbeiten zu lassen.«
Jackman grinste, bedankte sich erneut, und sie machten sich auf den langen Rückweg durch den Tunnel.
Gary sprang auf, als Jackman und Marie den Ermittlungsraum betraten, folgte ihnen in Jackmans Büro und schloss die Tür hinter sich. »Tut mir leid, Sir, aber ich glaube, dass die Sache in Harlan Marsh langsam außer Kontrolle gerät.«
»Hat es etwas mit Cade zu tun?« Marie spie den Namen beinahe aus.
Gary ließ sich in den Stuhl gegenüber seinem neuen Vorgesetzten sinken. »Er wird sich ab sofort persönlich um die Ermittlungen rund um die illegalen Partys kümmern und lässt kaum einen anderen heran. Mein Freund wurde zur Verstärkung in sein Team bestellt.«
»Glaubt er, dass Cade jemanden deckt?«, fragte Jackman.
»Das dachte er schon von Anfang an, aber langsam macht er sich wirklich Sorgen. Sehen Sie sich das hier mal an. Er hat eines der Bilder eingescannt, die Cade sich geschnappt hat, und es mir anschließend gemailt.« Gary zog einen Ausdruck aus der Tasche, faltete ihn auseinander und reichte ihn über den Tisch. »Erinnern Sie sich daran? Das ist Nick Barley mit den beiden Organisatoren.«
»Das Bild, bei dem sowohl Sie als auch Marie dachten, jemanden wiederzuerkennen?«
Gary nickte. »Sehen Sie genauer hin, Sir. Dieser Mann, der da im Schatten des Hauses steht. Ich glaube nicht, dass es sich um einen von Cades Kumpels handelt. Es ist Cade selbst.«
Gary senkte die Stimme. »Und wissen Sie, was? Kurz nachdem mein Freund es in den Händen hatte, ist das Original verschwunden. Und das Band aus der Überwachungskamera wurde zufällig beschädigt.« Er deutete auf das Bild. »Niemand weiß davon, Sir. Das hier ist die einzige Kopie.«
Jackman griff eilig nach dem Ausdruck und betrachtete ihn eingehend. »Mein Gott! Es ist zwar nicht eindeutig genug, um ihn damit zu konfrontieren, aber ich würde sagen, Sie haben recht!«
Marie lehnte sich vor und nahm ihm das Bild aus der Hand. »Ich wusste, dass der Kerl mich an jemanden erinnert«, murmelte sie. »Dieser Drecksack!« Sie sah auf. »Sir, es gibt da eine neue Software, die die Gesichtskonturen des Mannes auf dem Bild mit einem anderen Foto vergleichen kann. Das Bild muss nicht einwandfrei sein, es sollte lediglich ein Teil des Gesichts erkennbar sein. Wir bräuchten nur ein zweites Foto von Cade, dann könnten wir ihn identifizieren.«
»Besitzen wir diese Software?«
»Wir nicht, aber die Universität. Ted hat mir davon erzählt.«
Jackman runzelte die Stirn. »Damit würden wir uns extrem weit aus dem Fenster lehnen und müssten sehr vorsichtig sein. Können Sie sich den Aufruhr vorstellen, wenn das herauskommt? Und was, wenn wir uns irren? Wir würden alle unsere Jobs verlieren.«
»Ja, die Situation ist mehr als brenzlig, aber wenn ein leitender Beamter korrupt ist, dann müssen wir etwas unternehmen.« Marie wandte sich an Gary. »Sie haben doch für ihn gearbeitet. Wir wissen alle, dass er ein schleimiger Mistkerl ist, aber glauben Sie wirklich, dass er einen so schwerwiegenden Verstoß begehen würde?«
Gary zögerte keine Sekunde. »Ja, Sarge, das tue ich. Ich verwette sogar meine Rente darauf.«
Jackman sah aus, als hätte er in eine Zitrone gebissen. »Dann stellt sich als Nächstes die Frage, wie weit er darin verwickelt ist. Ist er nur ein einfacher Konsument, der sich daran aufgeilt, anderen beim Sex zuzusehen, oder ist er sehr viel mehr? Ich kann irgendwie nicht glauben, dass er etwas mit den Entführungen zu tun hat. So tief würde doch nicht mal Cade sinken, oder?«
»Toni erzählte, dass sie vor der Entführung auf einigen Partys war, aber den Kerl, der sie schließlich zu der zweiten ›Party‹ mitgenommen hat, hat sie vorher noch nie gesehen.« Gary hob die Augenbrauen. »Ich frage mich, ob sie Cade wohl wiedererkennen würde, wenn wir ihr ein Foto zeigen.«
»Das können wir nicht machen, Gary«, erwiderte Marie. »Wenn jemand dahinterkommt, sind wir geliefert. Sie würden uns vorwerfen, Toni beeinflusst zu haben. Außerdem kennt sie ihn sowieso. Er ist immerhin ein Freund ihres Vaters.«
»Ich wette, dass Cade nur mit Neil Clarkson befreundet ist, weil er der Dienststelle regelmäßig Geld spendet. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie sich auch privat treffen, dazu sind sie zu unterschiedlich«, wandte Jackman ein.
»Dann schlagen Sie also vor, dass wir Toni das Foto zeigen, Sir?«, fragte Marie.
»Es ist ziemlich riskant, und wir können es auf keinen Fall vor ihren Eltern machen. Wir haben so viele Leichen, dass wir keine Zeit für so etwas haben, aber …« Jackman zuckte mit den Schultern. »Ich glaube, wir sollten es trotzdem tun.«
Er wandte sich an Gary.
»Das ist alles streng inoffiziell, und Sie müssen auch nicht mitmachen. Wenn Sie auffliegen, steht Ihr Job auf dem Spiel.«
Gary atmete tief durch und straffte die Schultern. »Das Risiko gehe ich ein, Sir. Ich weiß Dinge über Cade, die nur Leute wissen, die bereits mit ihm zusammengearbeitet haben. Ich bin bereit.«
»Okay, wenn Sie sich wirklich sicher sind … Toni mochte Sie sehr und hat Ihnen mehr als allen anderen vertraut. Reden Sie mit ihr – aber diskret.« Jackman hielt kurz inne. »Ich glaube nicht, dass Sie ihr von Emily erzählen sollten, es sei denn, sie spricht Sie direkt darauf an. Aber ich überlasse die Entscheidung Ihnen. «
Gary nickte. »Ich werde sehen, wie es sich ergibt. Darf ich noch etwas sagen, bevor ich mich auf den Weg mache?«
»Natürlich.«
Gary holte tief Luft. »Die Sache mit dem Foto ist schön und gut. Wir müssen ihr natürlich nachgehen, und ich bin mir sicher, dass wir beweisen können, dass es sich um Cade handelt, aber ich kenne ihn. Er wird sich irgendwie herausreden. Ich glaube, wir müssen ihn auf frischer Tat ertappen. Wir müssen noch einmal auf eine der Partys und ihn vor Ort verhaften.«
Es folgte langes Schweigen, dann seufzte Jackman. »Holen Sie Max und Rosie.«
»Aber Sir?« Marie wollte aufstehen, doch dann setzte sie sich wieder.
»Ich weiß, dass Ihnen die Sache nicht gefällt, Marie. Und Max ebenso wenig. Aber ich bin mir sicher, dass Gary recht hat. Wir müssen noch einmal dorthin.«
Wie erwartet, war Max tatsächlich nicht sehr glücklich, während Rosie sofort ihren neuen Freund Will anrief, den sie auf der Party kennengelernt hatte, und ein Treffen vereinbarte.
»Er liebt seinen Bruder und möchte den illegalen Club genauso gerne auffliegen lassen wie wir.« Sie sah Jackman an. »Ich vertraue ihm. Er ist ein netter Junge, und ich glaube, er verzeiht mir, dass ich ihn angelogen habe. Ich bin mir sicher, dass er uns helfen wird.«
»Nachdem mir leider kein besserer Weg einfällt, werde ich Rosie dieses Mal begleiten«, erklärte Max. »Und keine Sorge, ich werde alles tun, damit ich nicht auffalle.«
»Gut, dann warten wir auf die nächste Nachricht. Es wird vielleicht noch ein paar Tage dauern, aber sobald wir wissen, wann und wo die nächste Party steigt, sind wir bereit.«
»Und falls Cade tatsächlich vor Ort ist, stürmen wir den Laden mit jedem verfügbaren Officer, den wir auftreiben können«, fügte Marie grimmig hinzu. »In der Zwischenzeit werde ich mit Ted reden, damit wir auch das Foto als Beweis vorlegen können.«
»Das klingt schon eher nach dem Sergeant, den wir alle kennen und lieben«, bemerkte Jackman.
»Ehrlich gesagt, werde ich auf den Tischen tanzen, wenn wir Cade aus dem Verkehr ziehen können, Sir.«
Gary schloss die Tür von Jackmans Büro hinter sich, und ihm wurde mit einem Mal klar, wie sehr er Chief Superintendent Cade hasste. Er arbeitete schon so lange mit ihm zusammen, dass er gelernt hatte, mit ihm zu leben wie mit einer Behinderung oder einer schweren Krankheit. Cades Dienstrang und die mächtigen Männer, mit denen er sich umgab, hatten ihn beinahe unantastbar gemacht. Gary hatte gedacht, dass sich das niemals ändern würde, doch jetzt hatten sie plötzlich eine echte Chance, ihn zu Fall zu bringen.
Er ging zu seinem Schreibtisch und schaltete den Computer an. Er wusste genau, was er zu tun hatte, und wenn er das hier schaffte, konnte er sehr viel Unrecht wiedergutmachen.
Ein entschlossenes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.
Er war wirklich froh, dass er jetzt für DI Jackman in Saltern-le-Fen arbeitete .
Jackman hoffte, dass er das Richtige tat. Seinen eigenen Job zu riskieren, war eine Sache, aber anderen zu erlauben, dasselbe zu tun, war etwas ganz anderes. Er sah Marie besorgt an. »Vertrauen Sie Ted Watchman?«
Marie nickte eifrig. »Ja, Sir.«
»Dann fragen Sie ihn, was er für die Fotoidentifikation braucht, und erklären Sie ihm, dass das niemandem zu Ohren kommen darf, weder hier noch sonst wo. Okay?«
Marie nickte erneut und verließ das Zimmer.
Jackman wandte sich an Max und Charlie. »Sie beide trommeln so viele Mitarbeiter wie möglich aus den anderen Teams zusammen. Wir müssen diese Liste hier mit unseren Vermisstenfällen abgleichen.« Er gab Max Rory Wilkinsons Aufzeichnungen. »Hier sind die Kleider, Vornamen und Teile des Geburtsdatums der Opfer vermerkt. Wir müssen so schnell wie möglich mit der Identifizierung beginnen. Sagen Sie den Kollegen, dass ich über jeden Treffer sofort informiert werden will. Max, Sie konzentrieren sich auf das Mädchen mit dem deformierten Bein. Wir glauben, dass sie vor etwa zwanzig Jahren die Erste war.« Er holte Luft.
»Charlie, bitten Sie Clive, den diensthabenden Beamten in Benedict Broomes Haus anzurufen. Wir brauchen eine Handschriftenprobe von Elizabeth Sewell. Und ich habe die wenig beneidenswerte Aufgabe, die Superintendentin zu informieren, dass wir einen Psychologen hinzuziehen wollen. Sie wird sicher nicht begeistert sein.«
Auf dem Weg zum Aufzug warf Jackman einen schnellen Blick auf die Uhr. Der Amtsarzt von Harlan Marsh hatte versprochen, sich zu melden, sobald Micah Lee vernehmungsfähig war, aber er hatte immer noch nichts von ihm gehört. Aufgrund der neuesten Entwicklungen fragte sich Jackman, ob die Verzögerung etwas mit Cade zu tun hatte. Er verstand immer noch nicht, warum der Mann so viel riskierte – einen Job mit jeder Menge Einfluss, riesigen Zusatzzahlungen und einer verdammt guten Rente –, bloß um ein paar Teenagern beim Fummeln zuzusehen. Andererseits wollte er es auch nicht verstehen, denn er hatte immerhin einen psychopathischen Serienmörder, dreizehn ermordete Jugendliche und zwei Verdächtige zu stemmen. Im nächsten Augenblick blieb Jackman wie angewurzelt stehen.
Ach, du meine Güte! Hatte er Micah Lee nach Harlan Marsh und damit in die Hände eines Mannes geschickt, der alles über ihn wusste?
Sein Mund war staubtrocken, als er zum Büro der Superintendentin eilte. Dieser Fall führte ihn in tiefe und sehr gefährliche Gewässer, und es lag an ihm, sie sicher zu durchschiffen. Er hoffte nur, dass er den Anforderungen gewachsen war.