Kapitel 25
Nach einer unruhigen Nacht stand Jackman früh auf, nahm sich ein Beispiel an Gary und kochte sich ein reichhaltiges englisches Frühstück. Er versperrte gerade die Haustür, als sein Handy klingelte.
»Marie? Sie sind doch nicht etwa schon im Büro, oder?«
»Doch. Und es tut mir leid, dass der Tag schon wieder mit einer schlechten Nachricht beginnt, aber wir haben ein Problem.«
»Was ist denn jetzt schon wieder?«
»Micah Lee ist aus dem Krankenhaus getürmt.«
»Was? Wie, zum Teufel, konnte das passieren?«
»Niemand hat direkt Schuld daran, Sir. Außer, dass man scheinbar seine Kraft unterschätzt hat.«
Jackman sprang in sein Auto und knallte die Tür zu. Es hatte immer
irgendjemand Schuld daran, wenn einem Gefangenen die Flucht gelang. Es passierte nicht häufig, aber im Großteil der Fälle war derjenige zuvor ins Krankenhaus eingeliefert worden. »Okay, schießen Sie los. Und sagen Sie ja nicht, dass irgendjemand seinen Posten verlassen hat, um auf die verdammte Toilette zu gehen, sonst werden Köpfe rollen.
«
»Nein, nichts dergleichen. Sie dachten, er wäre ohnmächtig, als sie ihn in die Radiologie brachten. Es waren zwei Constables und zwei Schwestern bei ihm, doch als er aus der Röhre kam und sie ihm die Handschellen wieder anlegen wollten, geriet er völlig außer sich. Einer der beiden Constables wurde schwer verletzt, der andere hat eine Gehirnerschütterung, und die beiden Schwestern wurden zu Boden geschleudert.«
»Nein!« Jackmans Wut wich ehrlicher Sorge. »Wie schlimm ist es?«
»Verdacht auf Schädelfraktur, Sir. Offenbar hat er die Köpfe der beiden zusammengeschlagen. PC
Bladon hat es böse erwischt, PC
Smythe hat eine leichte Gehirnerschütterung.«
»Und die Schwestern?«
»Sind erschüttert und haben ein paar blaue Flecken davongetragen.«
»Und wo ist er hin? Haben die Überwachungskameras alles aufgezeichnet?«
»Ja. Er lief zum Hintereingang, schlug einen Pfleger nieder und nahm seine Kleidung und die Geldbörse mit. Dann ist er über die Mauer gesprungen, durch ein paar angrenzende Gärten gelaufen und schließlich in Richtung West-Fen-Entwässerungskanal verschwunden.«
»Dann haben wir ihn also verloren?«
Jackman hörte, wie Marie scharf einatmete und seufzte. »Ja, wir haben ihn verloren.«
»Okay, ich bin in fünfzehn Minuten im Büro. Machen Sie mir einen starken Kaffee, und dann reden wir weiter.«
Jackman legte auf und stieß ein bitteres Lachen aus. Und er hatte tatsächlich geglaubt, dass heute alles besser laufen würde
!
Als Jackman in den Ermittlungsraum trat, war sein Ärger verflogen. Er hatte vielmehr das Gefühl, dass ihm die Dinge langsam aus der Hand glitten.
Marie war als Einzige bereits im Büro, und sie sah in etwa so fröhlich aus, wie er sich fühlte.
Sie streckte ihm einen Kaffeebecher entgegen und sagte: »Max hat uns eine Nachricht hinterlassen. Der Computer konnte zwei weitere Opfer identifizieren. Die Bestätigung aus dem Labor steht zwar noch aus, aber die Vornamen und die Geburtsdaten stimmen überein. Corrie Anderson kam aus Bristol, Charlotte King aus Hull.«
»Und keiner der Namen kommt mir bekannt vor. Unser Mörder hielt sich also ausschließlich an kaum beachtete Vermisstenfälle aus einem ziemlich breiten Umkreis. Keiner der Fälle war so spektakulär, dass er es in die Medien geschafft hat.«
Marie sah Jackman ratlos an. »Mir ist das mit den Geburtstagen ein Rätsel. Warum wird man zum Mordopfer, nur weil man an einem Mittwoch geboren wurde?«
Jackman schüttelte langsam den Kopf. »Das werden wir wohl erst erfahren, wenn wir den Fall gelöst haben. Im Moment ist es vor allem wichtig, dass wir den ›verrückten Micah‹ wiederfinden.« Er atmete tief durch. »Würden Sie bitte in der Psychiatrie anrufen und nachfragen, ob Elizabeth inzwischen vernehmungsfähig ist, während wir darauf warten, dass die anderen aufkreuzen?«
Marie machte sich auf die Suche nach der Telefonnummer. Während sie ihre Unterlagen durchblätterte, sagte sie: »Wohin ist Micah Ihrer Meinung nach geflüchtet?«
Das war die Preisfrage. »Wenn Benedict Broome nicht hier in der Verwahrungszelle säße, hätte ich viel Geld darauf verwettet, dass Micah bei ihm ist, aber …
«
»Glauben Sie, dass er nach Hause geflohen ist? Er ist psychisch labil, vielleicht braucht er eine gewohnte Umgebung?«
»Aber er weiß doch sicher, dass beide Häuser unter Beobachtung stehen. Auf der Farm sind bereits Beamte stationiert, und im Windrush-Sanatorium wimmelt es nur so von Polizisten und Leuten von der Spurensicherung.«
Jackman sah immer noch die Wut in Micahs zerklüftetem, hässlichem Gesicht vor sich, als sie mit der Durchsuchung des Sanatoriums begonnen hatten. Vielleicht hatte er damals schon gewusst, dass das Ende der Kinderstation nahte, und den Gedanken daran nicht ertragen.
Marie hatte mittlerweile mit dem Krankenhaus telefoniert. »Wir haben grünes Licht, Sir. Sie sind zwar nicht begeistert, aber es ist okay, solange ein Arzt dabei ist und wir uns kurz fassen.«
Jackman dachte einen Augenblick lang nach. »Vielleicht wäre es besser, wenn Sie fahren und Rosie mitnehmen. Falls die Frau wirklich so labil ist, ist es womöglich nicht sinnvoll, wenn ihr ausgerechnet ein Mann unangenehme Fragen stellt.«
»Ja, da haben Sie recht, Sir. Rosie ist gerade gekommen, wir können also gleich losfahren, bevor die Ärzte ihre Meinung noch einmal ändern.«
Marie und Rosie eilten vom Parkplatz auf die schwere Glaseingangstür der psychiatrischen Klinik zu. Marie drückte den Knopf an der Gegensprechanlage und nannte ihren Namen. Die Tür summte, und das Schloss öffnete sich mit einem Klicken.
Es gab keine Wärter mit klirrenden Schlüsselketten, keine massiven Schlösser und keine scheppernden
Eisentüren, sondern bloß Besucherausweise und Tastenfelder zur Eingabe der Sicherheitscodes.
»Dr. Mason erwartet Sie bereits, ich bringe Sie hinunter in seine Abteilung.« Der Portier war ein etwa dreißigjähriger Mann in einer akkuraten Uniform. Er hatte kurze Haare, war groß und muskulös und sah aus, als sollte man sich lieber nicht mit ihm anlegen.
Elizabeth war in einem Einzelzimmer untergebracht, vor dem zwei Constables Stellung bezogen hatten. Dr. Leonard Mason und ein Krankenpfleger waren gerade bei ihr und öffneten Marie und Rosie die Tür. Das Zimmer war makellos sauber und spartanisch eingerichtet.
Der Arzt hatte Marie gewarnt, dass Elizabeth ein leichtes Beruhigungsmittel bekommen hatte. Sie war vollkommen klar im Kopf, aber dennoch labil, weshalb der Psychiater und der Pfleger während des gesamten Gespräches anwesend sein würden.
Marie hatte vorab beschlossen, nur allgemeine Fragen zu stellen, falls der Arzt ihnen frühzeitig den Stecker ziehen würde. Sie traten der möglichen Komplizin des gesuchten Serienmörders so sanft und freundlich wie möglich gegenüber.
Elizabeth betrachtete Marie mehr oder weniger emotionslos, bis ihr Blick auf Rosie fiel. »Was für ein hübsches Mädchen«, sagte sie, und ein seltsames Lächeln umspielte ihre Lippen. »Sie erinnern mich an … Nein, ihre Haare waren blonder.« Das Lächeln blieb, doch Marie hatte noch nie so traurige Augen gesehen. Sie fragte sich, woran die Frau wohl dachte.
»Elizabeth, Ihr Arbeitgeber Benedict Broome lässt Sie grüßen. Wir sollen Ihnen ausrichten, dass es ihm gut geht und Sie sich keine Sorgen machen sollen. Er sagt, Sie
dürfen offen mit uns reden. Wir sind nur hier, um die Wahrheit herauszufinden. Verstehen Sie?«
Elizabeth legte den Kopf schief. »Ah, Mr Broome. Benedict.« Sie zog an ihren Ärmeln, bis sie ihre schlanken Finger beinahe vollständig bedeckten.
»Ist er ein netter Chef?«, fragte Rosie. »Behandelt er Sie gut?«
»O ja! Ich könnte mir nichts Besseres wünschen. Er ist sehr nett. Ich weiß gar nicht, was ich ohne ihn machen würde.«
Die Finger, die unter den Ärmeln gerade noch herausschauten, zuckten ohne Unterlass. »Aber was wollen Sie von mir? Warum bin ich hier?«
»Wir würden Ihnen gerne etwas zeigen. Vielleicht erkennen Sie es wieder.« Marie legte eine durchsichtige Beweistüte vor Elizabeth hin. Sie enthielt ein Namensschild aus dem versteckten Keller. Der Name »Lucy« war deutlich zu sehen. »Ist das Ihre Handschrift?«
»Ich glaube schon.« Sie kniff die Augen zusammen, um besser lesen zu können. »Ja, ich bin mir sicher, dass ich das geschrieben habe.«
Marie hörte, wie Rosie nach Luft schnappte. »Was sind das für Kärtchen, Elizabeth? Wofür haben Sie sie angefertigt?«
Elizabeth antwortete nicht, und Marie kämpfte gegen den Drang an, sie an den Schultern zu packen und zu schütteln. »War es Ihre Idee, oder hat Sie jemand gebeten, sie für ihn zu schreiben?«
Elizabeths Finger zuckten. »Nein, meine Idee war es nicht.« Sie runzelte die Stirn. »Aber wer …?«
»Mr Broome vielleicht?«, fragte Rosie mit vollkommen ruhiger Stimme
.
»Ja, so muss es wohl gewesen sein, nicht wahr?« Sie schob die Beweistüte von sich.
»Oder ein Freund?«, fragte Marie.
»Ich … ich bin mir nicht sicher.«
Marie biss sich auf die Lippe und merkte, dass der Arzt sie fixierte.
»Vorsicht!«, sagte er kaum hörbar. »Drängen Sie sie nicht!«
Sie betrachtete die mausgraue Frau genauer, die nicht annähernd so alt war, wie sie aussah. Sie war sehr dünn, hatte zarte Knochen und eine porzellanweiße Haut, aber etwas in diesen traurigen Augen sagte Marie, dass sie nicht so zerbrechlich war, wie sie den Anschein erweckte. Marie beschloss, ihre Taktik zu ändern.
»Micah Lee ist verschwunden, Miss Sewell.«
Elizabeth schlug sich die zitternde Hand vor den Mund und schnappte nach Luft. Da meldetet sich Dr. Mason zu Wort. »DS
Evans, könnte ich vielleicht kurz mit Ihnen sprechen?«
Genau auf diese Reaktion hatte Marie gehofft. Sie erhob sich und folgte dem Arzt nach draußen, während Rosie bei Elizabeth sitzen blieb. Sie hatte nun die Chance, die Reaktion der Frau genau zu beobachten.
Marie hörte zu, wie der Arzt sie ermahnte, zurückhaltender zu sein, und warf dabei immer wieder einen Blick durch das Fenster in der Tür. Sie sah, wie Rosies Lippen sich bewegten und wie ihre Kollegin lächelte. Nachdem mittlerweile nur noch der Pfleger und »das hübsche Mädchen« im Zimmer waren, fühlte sich Elizabeth Sewell nicht mehr bedroht. Marie beschloss, ein wenig mit dem Arzt zu diskutieren, sodass sich das Gespräch in die Länge zog.
Sie schlug ganze fünf Minuten heraus, ehe der Arzt ihr
die Erlaubnis erteilte, noch einmal mit der Patientin zu sprechen. Marie fragte Elizabeth nach den Tunneln, doch dieses Mal schien sie tatsächlich nicht zu wissen, wovon die Rede war. Mr Broome hätte nie irgendwelche Tunnel oder unterirdischen Räume erwähnt. Sie war mehrere Male zusammen mit ihm dort gewesen, aber nie allein.
Marie legte die Beweismitteltüte noch einmal vor Elizabeth hin und hob fragend die Augenbrauen. »Ist Ihnen dazu vielleicht noch etwas eingefallen?«
»Philip!«, rief Elizabeth plötzlich. »Die waren für die Käfige in seiner Tierklinik – für die Tiere in der Auffangstation, die keiner wollte.«
Maries Gedanken rasten. Philip?
Philip Groves? »Woher kennen Sie den Tierarzt?«
»Ich arbeite für ihn.« Elizabeth lächelte zum ersten Mal übers ganze Gesicht. »Aber natürlich nur als Freiwillige. Ich helfe schon seit Jahren in meiner Freizeit in der Auffangstelle aus.«
»Und Sie haben dieses Schild hier für Philip Groves geschrieben?«
»Ich bin mir nicht sicher«, murmelte Elizabeth. »Ich dachte, es wären Namen wie Fluffy oder Rocky gewesen. Und auf den Karten waren kleine Knochen und Hundepfoten abgebildet. Mein Gott, ich bin total verwirrt.« Ihre Finger begannen erneut zu zucken.
»Ich glaube, das reicht jetzt.« Dr. Mason erhob sich, und Marie hätte am liebsten frustriert aufgeschrien.
Die beiden Polizistinnen bedankten sich bei Elizabeth und verließen das Zimmer.
Während sie auf den Portier warteten, der sie zum Ausgang begleiten würde, sagte Rosie leise: »Rate mal, an wen ich sie erinnere?
«
Marie hob eine Augenbraue. »An Buffy, die Vampirjägerin?«
»Sehr witzig. Nein, ich erinnere sie an jemanden namens Fleur.«
»Das erste Opfer!«, hauchte Marie. »Aber was ist die Verbindung zwischen ihr und Elizabeth Sewell?«
»Ich weiß es nicht, aber sie war ziemlich wütend auf sich selbst, dass sie es mir verraten hatte. Als ich sie nach Fleur fragte, machte sie sofort dicht und redete nur noch von Micah.«
»Was hat sie über ihn gesagt?«
»Sie will unbedingt, dass wir ihn finden, und dann hat sie etwas ziemlich Seltsames gesagt.« Rosie runzelte die Stirn. »Sie meinte, du und ich sollten ihn lieber den Männern überlassen, die würden sich schon um ihn kümmern.«
»Und das heißt?«
»Dass er eine Gefahr für Frauen ist, schätze ich.«
»Na ja, das ist ja nichts Neues. Er ist eine Gefahr für alle.«
Rosie senkte die Stimme, als der Portier auf sie zukam. »Ich glaube nicht, dass sie das gemeint hat. Ich bin mir sicher, dass sie mich warnen wollte.«
Zurück an der frischen Luft, öffnete Marie die Autotür und warf ihre Tasche auf den Rücksitz. »Okay, wir fahren zurück zur Dienststelle, und dann rufst du als Erstes in Philip Groves’ Praxis an und überprüfst, ob die ›armen Tiere‹ kleine Namenskärtchen mit hübschen Pfotenabdrücken haben, die von unserer freiwilligen Helferin Elizabeth Sewell geschrieben wurden.«
»Wird gemacht, Sarge. Und dann?«
»Dann versuchen wir, so viel wie möglich über Fleur herauszufinden. Ihre Verbindung zu Elizabeth überrascht
mich, und es könnte eine wichtige Spur sein, wenn wir sie erst identifiziert haben. Setz dich dafür bitte mit Max zusammen.«
Im Stadtzentrum kamen sie nur langsam voran, und Marie fragte Rosie, was sie von Elizabeth hielt.
»Ich glaube, sie ist ehrlich verwirrt, und das beunruhigt sie. Vermutlich sind die Medikamente schuld, aber ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass sie in ein so furchtbares Verbrechen verwickelt ist. Andererseits bin ich mir sicher, dass sie sich Benedict Broome gegenüber bis zu ihrem letzten Atemzug loyal verhalten wird. Sie ist ein wenig irre, aber ich könnte schwören, dass sie nicht absichtlich lügt.«
Das entsprach in etwa Maries Einschätzung, aber die Notwendigkeit, den Mörder so schnell wie möglich zu finden, ließ ihr kaum Zeit für derartige Mutmaßungen. »Falls wir sie noch einmal befragen müssen, würde ich vorschlagen, dass du allein hinfährst, Rosie. So wirst du am meisten aus ihr herausbekommen.«
Rosie grinste. »Ich glaube, dein Dienstgrad hat sie abgeschreckt, Sarge. Sie hatte auch Probleme mit dem Arzt, aber der Pfleger und ich waren ihr egal. Sie hat vermutlich Schwierigkeiten mit Autoritätspersonen.«
»Was wohl mit ihr los ist? Warum ist sie so ein nervöses Wrack?«
Marie bog in eine Seitenstraße und fuhr dann bis zum Parkplatz der Dienststelle. »Vielleicht frage ich Broome. Wenn er seine kostbare Zeit opfert, um sie für eine ambulante Behandlung ins Krankenhaus zu fahren, weiß er vermutlich ganz genau, was ihr fehlt.«
Sobald sie durch die Tür ins Foyer getreten waren, rief jemand Maries Namen. Es war Jackman, der sie zu sich
winkte. Er stand gerade neben Superintendentin Crooke, die sich angeregt mit einem großen, schlanken Mann mit einem akkurat geschnittenen Bart und einer Brille mit schwarzem Rahmen unterhielt.
»Ah, gut, Sergeant Evans, dann kann ich Ihnen gleich Professor Henry O’Byrne vorstellen. Er ist ein Freund von Rory Wilkinson, und Sie haben ihn bereits erwartet.«
Marie hielt verblüfft inne und warf Jackman einen Blick zu. Die Superintendentin lächelte, und zwar ungewohnt warmherzig.
»Zufälligerweise ist Henry ein alter Bekannter. Er ist ein angesehener Experte für Kindesmissbrauch.« Sie sah ihn an und lächelte bewundernd. »Er war mit einigen der schwierigsten Fälle hier in der Gegend betraut, und jetzt gehört er ganz Ihnen, denn ich muss leider zu einer Sitzung.« Sie wandte sich an Jackman. »Die Presse hat Wind davon bekommen, dass in der Leichenhalle im Krankenhaus um einiges mehr los ist als sonst. Ich muss ihnen leider ein paar Brocken liefern, aber ich werde mich bemühen, so viel wie möglich zurückzuhalten.« Sie entfernte sich kopfschüttelnd, dann rief sie noch einmal über die Schulter hinweg: »Aber es wird nicht mehr lange dauern, bis die Bombe platzt. Sie sollten also unbedingt darauf gefasst sein.«
Das musste wohl passieren. Das tat es immer.
Marie schüttelte dem Professor die Hand, und sein Lächeln wirkte freundlich und einnehmend. Jackman hatte ihr erzählt, dass Rory ihn als »auf reife Art umwerfend« bezeichnet hatte, und Marie wusste genau, was er damit gemeint hatte.
»Gehen wir doch in mein Büro, Professor«, schlug Jackman vor. »Dort ist es ruhiger, und der Kaffee ist besser.
«
Sie machten zuerst noch im Ermittlungsraum halt, wo sie dem Psychologen die Fotos zeigten und den Fall kurz für ihn zusammenfassten.
Henry O’Byrne betrachtete die Bilder und Notizen lange, bevor er einen Schritt zurücktrat, um das Whiteboard als Ganzes in sich aufzunehmen. Schließlich folgte er Jackman in dessen Büro.
»Ich weiß, es ist viel verlangt, Sir, aber könnten Sie uns vielleicht eine Art Profil erstellen, welche Art Mensch zu so etwas fähig wäre?« Marie wusste nicht, wie viel Zeit der Professor den Ermittlungen opfern konnte, aber sie musste die Frage einfach stellen.
»Sosehr ich Fernsehkrimis liebe, muss ich Ihnen leider sagen, dass ich nicht glaube, dass so etwas im wahren Leben funktioniert. Solche Gutachten sind nicht zuverlässig, und es kann sehr gefährlich werden, wenn man sich irrt. Ich weiß natürlich, dass mir die FBI
-Profiler in Quantico widersprechen würden, aber die Fakten sprechen für mich. Egal, was die Drehbuchautoren Ihnen weismachen wollen, die Chancen, dass es durch ein solches Profil zu einer Verhaftung kommt, sind äußerst gering. Manchmal wäre es sogar zielführender, die Namen aus einem Hut zu ziehen.«
Er sah Jackman und Marie entschuldigend an. »Ich sehe, dass Sie enttäuscht sind, aber Sie schnappen Ihren Mann – oder Ihre Frau – wohl eher durch solide Ermittlungsarbeit und die Unterstützung eines guten Pathologen und seines Labors.« Er warf ihnen über den Rand seiner Brille einen Blick zu. »Allerdings würde ich Ihnen trotzdem raten, auf einige einfache psychologische Fakten zu vertrauen. Das kann durchaus informativ sein.«
»Wunderbar!« Jackmans Gesicht hellte sich auf. »Damit
kann ich leben – und um ehrlich zu sein, stimme ich Ihnen vollkommen zu.«
Wenn Jackman damit zufrieden war, war es Marie ebenso. Sie nickte, und ihre Laune stieg erheblich.
»Also, was wollen Sie wissen?«, fragte Jackman.
»Dürfte ich vielleicht den Tatort sehen? Ich will dieselbe Luft atmen wie der Mörder und dasselbe sehen wie er.«
»Sie klingen wie Rory. Er möchte auch immer als Erster am Tatort sein und einige Zeit allein mit den Leichen verbringen. Er meint, dass sie dabei oft ihre Geheimnisse mit ihm teilen würden.«
»Ja, das verstehe ich vollkommen. Andererseits haben wir auch sonst einiges gemeinsam«, erwiderte der Professor grinsend.
Warum sind es bloß immer die netten, gut aussehenden Männer?,
dachte Marie.
»Wir fahren raus, nachdem ich mit meinem Team gesprochen habe.« Jackman erhob sich. »Sind Sie bereit für eine Fahrt ins nebelverhangene Marschland?«
Henry strahlte ihn an. »Liebend gern!«
Rosie legte gerade den Telefonhörer auf die Gabel, als Marie an ihren Tisch trat. »Philip Groves’ Sprechstundenhilfe hat bestätigt, dass mehrere Tiere in der Auffangstation handgeschriebene Schilder an den Käfigen haben. Sie wurden von Elizabeth Sewell angefertigt, die tatsächlich als freiwillige Helferin in der Station arbeitet.«
»Hm, das klingt nicht gerade nach einem Hobby für einen Mörder, oder?«
»Ich bin mir sicher, dass sie nichts mit der Sache zu tun hat. Sie hat die Kärtchen für jemanden geschrieben, ohne zu wissen, wofür sie verwendet werden sollten.«
»Ja, das ist durchaus möglich, aber es wäre trotzdem
hilfreich, wenn sie sich erinnern könnte, wer sie darum gebeten hat. Egal, wie nett und verrückt sie wirkt, wir sollten sie trotzdem noch nicht von der Liste streichen.«
»Soll ich noch mal mit ihr reden?«
»Noch nicht. Hilf zuerst Max bei der Suche nach Fleur. Sie ist die entscheidende Verbindung.«
»Wird gemacht, Sarge.«
»Wir fahren jetzt mit dem Psychologen, Professor O’Byrne, ins Windrush-Sanatorium, aber ruf mich bitte sofort auf dem Handy an, falls ihr etwas herausfindet.«
»Klar. Eine Sache noch, bevor ihr losfahrt.« Sie gab Marie einen braunen Umschlag. »Der hier ist für DI
Jackman. Von der Spurensicherung.«
Marie brachte das Kuvert zu Jackman, der gerade in ein Gespräch mit Charlie Button vertieft war.
»Würden Sie ihn bitte für mich öffnen, Marie? Wir sind hier gleich fertig.«
Marie überflog den Bericht, und erneut stieg Enttäuschung in ihr hoch. Es waren die Ergebnisse der Proben aus der alten Kapelle, und keine einzige stimmte mit einem der polizeibekannten Verbrecher überein. Aber zumindest hatten sie so neue Proben in den Akten und konnten sie verwenden, um Verdächtige zu identifizieren – vielleicht sogar jemanden aus den eigenen Reihen.
»Wir sind so weit!«, rief Jackman dem Professor zu. »Machen Sie sich auf etwas gefasst.«