Kapitel 27
Nachdem sichergestellt war, dass ein Team aus uniformierten Beamten die Gegend am Roman Bank durchkämmte, versammelten sich Jackman und seine Leute wieder im Ermittlungsraum.
»Sollten wir vielleicht den Tierarzt herholen?«, fragte Max und kaute nachdenklich auf seinem Sandwich herum. »Wir sind uns einig, dass Elizabeth Sewell nicht die Mörderin sein kann, aber sie kennt jemanden namens Fleur, die von ihr beschrifteten Karten befanden sich in der Kammer des Schreckens, und sie hat beinahe identische Schilder für die Käfige in Philip Groves’ Auffangstation geschrieben.«
»Max hat recht, Sir«, stimmte Rosie ihm zu. »Auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, dass Groves ein kaltblütiger Mörder ist.«
Jackman betrachtete sein Sandwich und legte es zurück auf den Tisch. »Aber vielleicht sollten wir das. Er wohnt ganz in der Nähe, und falls wir es wirklich mit einer Persönlichkeitsspaltung zu tun haben, wer weiß? Woher sollen wir wissen, wonach wir suchen?« Er musterte Marie, die ein wenig abseits saß und ins Leere starrte. »Was denken Sie? «
Sie sah auf. »Es ist alles so verwirrend.« Sie lehnte sich zurück und streckte sich. »Wir haben zwölf tote Mädchen, die alle an einem Mittwoch geboren wurden. Im selben Raum lag aber auch noch ein weiteres totes Mädchen, das im Gegensatz zu den anderen verhungert ist. Und dann ist da noch Toni, die entführt wurde, aber überlebt hat. Im Gegensatz zu Shauna, die starb – wenn auch unter vollkommen anderen Umständen. Die beiden Überlebenden erzählten von einem Mann mit toten Augen. Aber hat jemand von uns einen Mann mit toten Augen gesehen? Nein. Micah Lee hat ein Furcht einflößendes Gesicht, aber seine Augen sind dunkel und sehr ausdrucksstark, Benedict Broome hat vollkommen normale Augen, und Elizabeth Sewell ist eine Frau. Keiner, mit dem wir bis jetzt gesprochen haben – und es waren tatsächlich eine Menge –, hatte seltsame Augen.« Sie stöhnte. »Und wer, zum Teufel, ist Fleur?«
»Die Spuren führen immer wieder zu ihr zurück, nicht wahr?«, bemerkte Jackman.
»Aber es gibt keine einzige Vermisstenmeldung mit diesem Namen«, klagte Max.
»Hallo, habe ich was versäumt?« Gary trat mit einem Lächeln auf den Lippen zu ihnen, das jedoch sofort verblasste, als er sich umsah. »Hm, die Stimmung ist ja nicht gerade gut. Aber zumindest habe ich den Namen und die Adresse eines der Kerle, die die Partys organisieren. Er heißt Brendan Keefe und wohnt am Rand von Harlan Marsh. Wir können ihn jederzeit festnehmen, wenn wir so weit sind.«
»Gute Arbeit, Gary. Er hat nicht zufällig seltsame Augen?«, fragte Jackman hoffnungsvoll.
»Gerissen, durchtrieben, schweinchenartig. Aber nicht seltsam. «
»Schade. Setzen Sie sich.« Er schob Gary sein Sandwich zu, das er nicht angerührt hatte, und erklärte: »Wir überlegen gerade, wer Fleur sein könnte.«
Gary griff nach dem Sandwich, biss dankbar hinein und kaute gemächlich. »Fleur ist nicht gerade ein gebräuchlicher Name, aber …«
Eine zivile Angestellte trat ins Zimmer.
»Entschuldigen Sie die Störung, DI Jackman, aber ich soll vom Beamten am Empfang ausrichten, dass die Leiche eines männlichen Weißen am Rand der Marsch gefunden wurde. Es sieht so aus, als hätte er sich erhängt. Aber der Kollege dachte, dass Sie es sich aufgrund der Lage des Fundortes vielleicht ansehen möchten.«
Jackman richtete sich ruckartig auf. »Wo wurde er gefunden?«
»In der alten Mühle am Goshawk End.«
»Die kenne ich«, rief Gary. »Sie liegt zwischen Roman Bank und Hurn Point und damit in dem Gebiet, das wir gerade nach Micah Lee durchkämmen.«
Jackman war bereits auf halbem Weg zur Tür hinaus.
»Gary, Sie kommen mit. Und Max auch. Ein wenig frische Luft wird Ihnen guttun. Sie sollten nicht immer nur vor dem Computer hocken.« Er warf Marie ein Lächeln zu. »Und Sie bekommen eine Leichenpause. Suchen Sie mit Rosie zusammen weiter nach Fleur, und reden Sie noch einmal mit Jan Wallace. Vielleicht gibt es Neuigkeiten.«
»Ob Micah sich wohl umgebracht hat?«, murmelte Marie.
»Das könnte durchaus sein. Aber keine Sorge: Falls es so ist, rufe ich Sie sofort an. «
In der alten Mühle gab es nicht viel zu sehen, aber der Anblick, der sich ihnen bot, war durchaus überraschend.
Die Leiche baumelte nicht an einem knarrenden Balken, sondern lag zusammengekrümmt auf dem schmutzigen Fußboden, umgeben von einem Haufen zerbrochener Gemüsekisten.
»Der Mann ist definitiv tot und hat sogar noch das Seil um den Hals. Aber es ist nicht Micah Lee«, murmelte Jackman.
»Sieht aus, als wäre es zu einem Kampf gekommen, wenn man das Chaos hier so betrachtet«, meinte Max.
Doch Gary schüttelte den Kopf. »Nein, das glaube ich nicht. Er ist auf die Kisten geklettert und … Nein, so kann es auch nicht gewesen sein. Dafür liegen sie zu weit weg.«
»Und wie ist das Seil von dem Balken gerutscht?« Max sah nachdenklich nach oben. »Er sieht doch sehr stabil aus und hängt auch nicht nach unten.«
Jackman betrachtete den Toten. Der Körper war vollkommen verdreht und das Gesicht glücklicherweise leicht abgewendet. »Ich glaube, wir sollten uns vor allem die Frage stellen, wie es ein Toter geschafft hat, das Seil um seinen gebrochenen Hals zu lösen?«
»Genau! Also, wer war bei ihm?«, fragte Max.
»Es könnte doch sein, dass jemand versucht hat, ihm zu helfen?« Jackman ließ den Blick über die verstreuten Kisten, den Balken und die Leiche wandern. »Ich würde sagen, dass ihn jemand gefunden hat, auf die Kisten geklettert ist und das Seil vom Balken geknüpft hat. Und nachdem kein Notruf einging, war es vermutlich jemand, der nichts mit der Polizei zu tun haben will.«
»Da das hier nicht Micah Lee ist, könnte es doch sein, dass Micah den Mann gefunden hat, oder?«, fragte Gary. » Wie lange er wohl schon so daliegt? Wir sollten auf jeden Fall die Kollegen verständigen, dass Lee sich irgendwo in der Nähe herumtreibt. Es gibt nicht viele Orte, zu denen er von hier aus unbemerkt gelangen kann.« Gary machte sich auf den Weg zur Tür.
»Wäre es möglich, von hier aus zu Fuß ins Sanatorium zu gehen?«, fragte Jackman.
»Ja, aber man muss dabei ein ziemlich unwegsames Stück Marschland durchqueren, und das sollte man nur riskieren, wenn man die Gegend gut kennt.«
»Micah hat immerhin hier in der Nähe gearbeitet«, wandte Max ein.
»Und wenn er die Marsch so gut kennt, dann kann es auch durchaus sein, dass er von dem Tunnel wusste«, überlegte Jackman. »Wir fahren am besten gleich wieder zurück. Hier können wir ohnehin nichts ausrichten. Die uniformierten Kollegen werden den Tatort absperren, bis einer unserer heillos überarbeiteten Pathologen die Zeit findet, sich den armen Kerl anzusehen. Wir wissen nicht einmal, wer er ist. Er hat keinen Ausweis bei sich.«
Auf dem Weg zum Auto überlegten sie, warum der Mann sich das Leben genommen hatte, und das Wort »Schuld« kam dabei immer wieder zur Sprache. Schuld oder Verzweiflung. Es war sicher kein Zufall, dass sich jemand in unmittelbarer Nähe zum Tatort umgebracht hatte. Es musste eine Verbindung geben. Vielleicht hatte er es aus Verzweiflung getan, weil er seine kostbaren Mädchen verloren hatte?
»War es eigentlich wirklich ein Selbstmord?«, fragte Max leise. »Oder hat jemand nachgeholfen?«
»Ich glaube nicht. Der v-förmige Abdruck am Hals des Opfers stammt definitiv von dem Seil, daher würde ich sagen, dass es ein gewollter – und in diesem Fall auch erfolgreicher – Selbstmord war.«
Jackman warf einen letzten Blick auf die verfallene Mühle, von der nur noch die Mauern und die verwitterte Holztür übrig waren. Natürlich hatte sie früher ein Segel gehabt, doch das war schon lange fort. Und glücklicherweise erinnerte sie ihn in keiner Weise an sein eigenes gemütliches Zuhause.
»Marie, dort drüben wartet jemand auf dich.« Der diensthabende Beamte am Empfang deutete auf eine junge Frau, die im Foyer saß.
Marie wollte ihm bereits sagen, dass sich ein Kollege um die Frau kümmern sollte, als sie Asher Leytons Verlobte, Lynda Cowley, wiedererkannte.
Marie ging zu ihr und setzte sich neben sie. Außer ihnen waren kaum noch Leute hier. »Miss Cowley, nicht wahr?«
Die junge Frau nickte. »Es tut mir leid, wenn ich Sie störe, Sergeant Evans, aber er ist verschwunden.« Sie kämpfte gegen die Tränen an. »Asher ist gestern Abend nicht nach Hause gekommen und war heute auch nicht im Büro.« Sie tupfte sich mit einem Taschentuch das perfekte Augen-Make-up trocken. »Das sieht ihm gar nicht ähnlich. Er ist sonst so aufmerksam und fährt nie weg, ohne es mir zu sagen. Irgendetwas ist passiert, das weiß ich.«
Marie überlegte eilig. Asher Leyton hatte sich mehrmals mit Shauna Kelly unterhalten, die mittlerweile tot war. Außerdem war er einige Male verwarnt worden, weil er vom Auto aus offensichtlich Ausschau nach Frauen gehalten hatte. Sie hatten sich mit ihm über Shaunas Tod unterhalten, und nun war er verschwunden .
»Wann haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen beziehungsweise mit ihm gesprochen?«
»Gestern Mittag. Er sagte, er hätte noch einen Termin am späten Nachmittag, aber er wollte zum Abendessen zu Hause sein.« Sie begann zu schluchzen. »Ich war wirklich lange wach, aber er ist nicht gekommen.«
Marie versprach, sich umzuhören. »Ich werde sehen, was sich machen lässt, aber er ist ein erwachsener Mann, weshalb ich ihn noch nicht als vermisst melden kann, das verstehen Sie doch, oder?«
Lynda nickte und verließ weinend die Dienststelle.
Marie ging zu dem Kollegen am Empfang. »Danny, schick bitte einen deiner Leute zu den Nutten an der Dock Lane. Er soll sich nach Asher Leyton umhören – mal sehen, was sie so erzählen. Und vielleicht könntest du auch eine Fahndung nach ihm rausgeben. Ich würde mich gerne in aller Ruhe mit dem jungen Mann unterhalten.« Sie gab ihm eine Beschreibung des Vermissten und machte sich anschließend auf den Weg zu den Aufzügen.
Der Fall kam immer mehr ins Rollen, und zwar so sehr, dass er sie beinahe unter sich begrub. Sie musste so schnell wie möglich mit Jackman sprechen und ihm von der letzten besorgniserregenden Entwicklung erzählen.
Als es Abend wurde, ging ein weiterer Anruf ein.
Gary nahm ihn entgegen und verkündete dann mit ernster Stimme: »Die uniformierten Kollegen haben vermutlich den zweiten Tatort gefunden, Sir. Es ist ein alter Wohnwagen auf dem Nachbargrundstück. Allerdings sind sie nur darauf gestoßen, weil er in Flammen steht. Wir haben mehrere Männer vor Ort und auch einen Feuerwehrmann, aber es ist unmöglich, mit einem Feuerwehrwagen hinauszufahren. Dort gibt es nur Schlamm und Kohlfelder.«
»Wem gehört das Grundstück?«
»Einem Farmer namens Smith, aber er hat es auch nur gepachtet. Der Wohnwagen stand schon dort, als er es übernommen hat.«
»Befand sich jemand in dem Fahrzeug?«
»Ich glaube nicht, aber es lässt sich kaum feststellen, bevor jemand hineingehen kann. Der Farmer versucht, mit einem Traktor und einem Bewässerungsschlauch durchzukommen, aber das braucht alles seine Zeit.«
Jackman sah vor sich, wie sein Tatort in Rauch aufging. »Kommen Sie, Gary. Selbst, wenn alles niederbrennt – wir müssen es uns trotzdem ansehen.«
»Okay, Chef. Ich sage den Kollegen, dass wir unterwegs sind.«
Auf der Fahrt hatte Gary das unbestimmte Gefühl, etwas Wichtiges übersehen zu haben. Die anderen unterhielten sich und jonglierten mit verschiedenen Theorien, doch er schwieg. Der Fall entglitt ihm, und er geriet immer mehr ins Hintertreffen. Sie parkten den Wagen und stapften über das gepflügte Feld. Es war nicht mehr viel zu sehen außer einem ausgebrannten Wrack, verbogenen Metallteilen und verzogenen Vertäfelungen.
Der Feuerwehrmann trat mit finsterem Gesicht auf sie zu. »Ich fürchte, es sieht nicht gut aus, Sir.«
»Irgendwelche Leichen?«, fragte Jackman.
»Nein, das nicht. Aber ich habe Blutspuren entdeckt, und den Utensilien im Inneren des Wohnwagens nach zu schließen, sind hier fürchterliche Dinge passiert.« Er verzog das Gesicht. »Auch wenn nicht mehr viel übrig ist. «
»Welche Utensilien?«, fragte Marie.
»Das Feuer hat großen Schaden angerichtet, aber wir haben jede Menge Lederfesseln gefunden, eine schwarze Gesichtsmaske und noch andere seltsame Dinge. Am Boden des Wohnwagens sind Ketten befestigt, um Gefangene an Händen und Füßen zu fixieren. Es kommt immer mehr zutage, aber es glüht noch alles, und es ist zu gefährlich, sich länger im Inneren aufzuhalten.«
»Ich nehme an, dass das Feuer absichtlich gelegt wurde?«, fragte Jackman mit leicht zitternder Stimme.
»Ja, definitiv. Wir haben eine Gasflasche mit geöffnetem Ventil gefunden, und es sieht so aus, als wäre vor allem im Bereich des Schlafzimmers ein Brandbeschleuniger benutzt worden.«
Dann hat also jemand aufgeräumt, dachte Gary. Irgendjemand wollte alle Beweise loswerden, um entweder sich selbst oder jemand anderen zu schützen. Er betrachtete die glühenden Überreste und roch den beißenden Gestank von verbranntem Gummi.
»Es passt alles zusammen, nicht wahr?«, bemerkte Marie. »Er bringt die Mädchen in den Wohnwagen, vergeht sich an ihnen und tötet sie anschließend.« Ihr Gesicht war vor Wut verzerrt. »Und dann bringt das Arschloch die Leichen über das Marschland zum Eingang des Tunnels, lädt sie auf den Wagen und fährt sie auf die Kinderstation.«
»Damit sie dort bis in alle Ewigkeit ruhen«, flüsterte Gary. »Das dachte er zumindest.«
»Wissen Sie, was ich beunruhigend finde?«, sagte Jackman leise. »Dass das Ungeheuer, das hier gewütet hat, vielleicht in diesem Moment gerade zusieht, wie die Flammen seine Folterkammer verschlingen. «
Sie wandten dem ausgebrannten Wohnwagen den Rücken zu und kehrten zum Auto zurück.
»Wir sollten ins Sanatorium fahren und den uniformierten Kollegen Bescheid geben. Es ist nicht mehr notwendig, nach dem zweiten Tatort zu suchen, aber es wäre sicher vernünftig, die Einsatzkräfte vor Ort zu verstärken, um das Haus und die Tunnel zu bewachen. Bloß für den Fall, dass der Psychologe recht hat und der Mörder in sein Versteck zurückkehrt.«