Kapitel 31
»Nein, nein, nein. Hier stimmt doch was nicht!«
Jackman wanderte in seinem Büro auf und ab.
Professor Henry O’Byrnes Blick folgte ihm. »Aber was ist mit seiner Aussage? Die ist doch überaus belastend.«
Dessen war sich Jackman natürlich bewusst, aber seine Alarmglocken schrillten dennoch. »Klar, er wusste alles über den unterirdischen Raum. Er war ganz offensichtlich dort. Das beweisen auch die Fingerabdrücke, die Rory gefunden hat. Aber Philip Groves hat diese Mädchen nicht unter Drogen gesetzt, missbraucht und brutal ermordet. Er schützt jemanden.«
»Vielleicht hatte Ihr junger Detective recht, und es handelt sich tatsächlich um eine multiple Persönlichkeit. Dann schützt er sein zweites Ich.« Der Professor kratzte sich am Kopf. »Wenigstens hat er eingewilligt, dass ich beim nächsten Verhör anwesend sein darf. Vielleicht kann ich etwas Licht in die Angelegenheit bringen.«
Marie lehnte an der Wand und schien tief in Gedanken versunken. »Jan Wallace, unsere forensische Anthropologin, meinte, dass derjenige, der Fleurs Skelett auf dem Krankenbett drapiert hat, über ausgezeichnete Anatomiekenntnisse verfügt haben muss.«
»Wie zum Beispiel ein Tierarzt«, murmelte Henry O’Byrne.
»Genau. Wie ein Tierarzt.«
Jackman warf die Hände in die Höhe. »Vielleicht hat er die Mädchen wirklich dorthin gebracht! Aber das bedeutet nicht, dass er sie auch getötet hat.« Er wanderte weiter auf und ab. War es wirklich möglich, dass Groves die Mädchen ermordet hatte?
»Sie glauben, dass ein Mann, der kleine Kätzchen und kranke Welpen behandelt, niemanden umbringen kann, oder?«, fragte der Professor.
»Wäre möglich.«
»Dann sollten Sie nicht vergessen, dass derselbe Mann Tieren tödliche Injektionen setzt und ihnen beim Sterben zusieht.« Der Professor ließ Jackman nicht aus den Augen. »Er schneidet das weiche Fell mit einem Skalpell auf und beobachtet, wie warmes Blut aus den Wunden fließt. Unterschätzen Sie Philip Groves nicht, DI Jackman. Das könnte ein großer Fehler sein.«
Jackman seufzte laut. »Ich weiß, ich weiß. Ich möchte es doch nur verstehen. Ich habe noch immer das Gefühl, dass Fleur der Schlüssel zu allem ist. Wenn wir sie doch nur identifizieren könnten.«
»Ja, Sie haben recht«, erwiderte Marie, lehnte sich über Jackmans Schreibtisch und holte ein leeres Blatt Papier aus seinem Drucker. Dann zog sie einen Stift aus der Tasche und schrieb »Fleur« in die Mitte des Blattes.
»Brainstorming«, rief der Professor. »Gute Idee!«
»Ich wollte bloß die Verbindungen zwischen den einzelnen Personen deutlich machen.« Marie zeichnete einen Pfeil von Fleur zu Elizabeth Sewell. »Sie sagte, Rosie würde sie an Fleur erinnern …« Danach schrieb Marie Philip Groves’ Namen dazu und verband ihn mit Fleur und Elizabeth. Kurz darauf folgten Benedict Broome, Micah Lee, Toby Tanner und Asher Leyton, und schon bald war das Blatt voller Namen und sich überkreuzender Linien.
»Und das soll uns weiterhelfen?«, fragte Jackman säuerlich.
Marie schob das Blatt von sich. »Nein, eigentlich nicht. Ich sehe mal nach Max und Rosie. Vielleicht hatten sie mehr Glück.«
Nachdem Marie gegangen war, zog der Psychologe das Blatt näher heran und ließ seinen Finger über das Labyrinth aus Linien gleiten. »Oh, welch verworren Netz wir weben, wenn wir nach Trug und Täuschung streben …« Er legte den Kopf schief. »Ich frage mich, was Sir Walter Scott zu diesem Wirrwarr gesagt hätte. Keiner hängt mit den anderen zusammen, und doch sind sie alle miteinander verbunden.«
Max benutzte seinen eigenen Laptop für den inoffiziellen Ausflug auf verbotenes Terrain. Eine ständige Abfolge an Ziffern, Codes und Buchstaben lief über den Bildschirm, und er sah immer wieder zu Rosie, die an ihrem Schreibtisch arbeitete.
Hoffentlich war dieser grauenerregende Fall bald vorüber, denn je näher er Rosie McElderry kennenlernte, desto mehr wurde ihm klar, wohin seine Gefühle für sie führten. Aber im Moment hatte er leider wichtige Arbeit zu erledigen.
Rosie hatte gerade den Hörer aufgelegt und wandte sich an Marie: »Das war die Spurensicherung, Sarge. Der Tote in der Mühle ist Toby Tanner. Die Fingerabdrücke stimmen überein. Und das ist noch nicht alles. Sie haben auch noch einen zweiten Treffer. Dieselben Fingerabdrücke wurden auch in der Fendyke-Kapelle gefunden.« Sie senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Unser angesehener Farmer hat sich mit Cade und seinen perversen Freunden herumgetrieben.«
Max stieß die Faust in die Luft und grinste. »Dann hatten wir also recht! Er hatte tatsächlich etwas mit den Partys zu tun.«
Rosie grinste ebenfalls. »Wahrscheinlich hat er sich deshalb umgebracht.«
»Hast du auch Asher Leytons Abdrücke gefunden?«, fragte Marie.
»Nein, nur die von Tanner. Asher war an dem Abend nicht in der Kapelle. Vielleicht hatte er keine Zeit.«
Marie wollte gerade etwas erwidern, als sie merkte, dass Max gebannt auf den Bildschirm starrte. »Sarge! Ich hab’s geschafft. Sieh mal!« Er streckte ihr einen Ausdruck entgegen. »Du wirst es nicht glauben!«
Marie nahm das Blatt und überflog die Liste der Namen und Daten unter der Überschrift VERTRAULICH . »Was? Um Himmels willen! Jackman muss das unbedingt sofort sehen. Kommt mit, ihr beide!«
Maries Stimme zitterte vor Aufregung. »Die Mulberry-Kinder hießen … Benedict, Tobias, Micah, Philip, Elizabeth und Asher!« Sie reichte Jackman den Ausdruck. »Sie wuchsen in Pflegefamilien auf, aber schließlich sind sie alle wieder hierher zurückgekehrt.«
»Weil ihnen nichts anderes übrig blieb«, erklärte der Psychologe leise. »Die armen Vögelchen mussten ins Nest zurück. An den einen Ort, an dem sie wieder vereint sein konnten. Sie hatten keine andere Wahl. Trotz der Bemühungen der Sozialarbeiter und Gerichte brauchten sie vor allem einander. Wie Motten das Licht.«
Jackman stieß die Luft aus. »Wir müssen unbedingt mit Benedict reden. Kein Wunder, dass er sich Sorgen um Elizabeth macht! Sie ist seine Schwester.«
»Und Asher!«, rief Rosie fassungslos. »Er hat seinen eigenen Bruder tot in der alten Mühle gefunden! Das erklärt, warum er so durch den Wind war.«
»Und warum er einen Schlüssel zum Farmhaus hatte«, fügte Marie hinzu. »Immerhin wohnten seine beiden Brüder dort. Ich wette, er wollte nachsehen, ob Tobys Unterlagen ihn womöglich mit den Mulberrys in Verbindung bringen.«
»Sie sind alle Geschwister …«, murmelte Jackman und wandte sich an den Psychologen. »Wie kaputt ist diese Familie? Ich meine, Benedict und Philip scheinen ihren Platz in der Gesellschaft gefunden zu haben. Der eine als Finanzier, der andere als angesehener Tierarzt.«
Der Professor zuckte mit den Schultern. »Das spielt keine Rolle. Sie sind alle traumatisiert. Einige natürlich mehr als andere – aber ich kann Ihnen versichern, dass keiner normal tickt.« Er lehnte sich zurück. »Sie wissen ja, dass Opfer von Misshandlungen sehr oft zu Tätern werden, und haben es sicher schon Tausende Male gesehen.«
»Eines der Geschwister, Asher, leidet offenbar unter einem gesteigerten sexuellen Verlangen. Meinen Sie das?«
»Auf jeden Fall. Je nach geistigem Zustand, den Möglichkeiten, die sich eröffnen, und dem Ausmaß der Traumatisierung kann es mit der Zeit durchaus eskalieren.«
»Bis hin zur Vergewaltigung? «
»Angefangen bei sexueller Belästigung über Vergewaltigung, bis hin zum Mord.«
Jackman rieb sich die Augen. »Wenn ich das so höre, frage ich mich, ob die Kinderstation als krankes Familienprojekt geführt wurde.« Er sah sich um. »Wo ist Max?«
Marie sah zur Tür hinaus. »Er sitzt noch immer vor dem Computer.« Sie rief ihm zu: »Max? Gibt es noch mehr?«
»Einen Moment noch, Sarge.«
Sie warteten schweigend, bis Henry O’Byrne Maries Gekritzel von zuvor aufhob. »Verworrene Netze, Trug und Täuschung. Es ist alles da.«
»Abgesehen von Fleur«, sagte Rosie düster.
»Da irrst du dich.« Max trat ins Büro und reichte Jackman einen weiteren Ausdruck.
»Eine Geburtsurkunde?«
»Es war nicht einfach, weil das Geburtsdatum nicht stimmte, aber ich habe nur ein Mädchen in der näheren Umgebung gefunden, das auf den Namen Fleur getauft wurde, und raten Sie mal, wer seine Mummy und sein Daddy waren?«
Jackman las die Namen. »Simeon und Charlotte Mulberry, Alderfield. Mein Gott! Sie ist ihre Schwester! Es gab sieben Kinder!« Er wandte sich an Max. »Würden Sie bitte auch nach der Sterbeurkunde suchen?«
»Das habe ich schon, Chef, aber da ist nichts. Es gibt keine offizielle Bestätigung, dass sie tot ist.«
Jackman erhob sich. »Max, Sie haben brillante Arbeit geleistet. Gut gemacht!« Er winkte Marie zu. »Kommen Sie, Sergeant, es wird Zeit, dass wir ein Wörtchen mit Benedict Mulberry reden.«