Kapitel 35
Jackman las das Memo, das die Superintendentin über ihren Schreibtisch in seine Richtung schob.
Kenya Black wurde an einen sicheren Ort gebracht. Sie wird psychologisch betreut, während sie langsam darauf vorbereitet wird, erste Fragen über ihr Leben mit ihrem Entführer zu beantworten. Es ist unerlässlich, dass sie über ihre Erfahrungen spricht – sowohl für ihre geistige Gesundheit als auch zum Wohle anderer. Sämtliche Informationen werden Ihnen zugänglich gemacht, sobald sie zur Verfügung stehen.
Er kannte die Unterschrift darunter nicht.
»Rowan, für Grace Black sind Sie ein richtiger Held.«
»Ich bin kein Held. Mein Team hat bloß seinen Job gemacht, das ist alles.«
»Ich glaube, Grace Black sieht das anders. Diese Frau bekam im Lauf der Jahre viele leere Versprechungen zu hören. Ehrlich gesagt, bin ich der Meinung, dass wir sie schmählich im Stich gelassen haben. Sie erzählte, Sie und Marie wären die ersten Polizisten gewesen, denen sie tatsächlich vertraute. Sie war sich sicher, dass Sie den Fall abschließen würden. Dass Sie ihr jetzt sogar ihre Tochter wiedergegeben haben, übersteigt ihre kühnsten Träume.«
»Ich wüsste bloß gerne, wie viel von ihrer Tochter nach all den Jahren in Gefangenschaft noch übrig ist.«
»Der erste Eindruck war positiv, Rowan, und das war auch der Hauptgrund, warum ich Sie heute hierherbestellt habe.« Ruth schenkte ihm ein seltenes Lächeln. »Wenn man Asher Leytons psychische Probleme – und vor allem sein gesteigertes sexuelles Verlangen – in Betracht zieht, ist es vermutlich eine schöne Überraschung, dass Kenya Black nicht missbraucht wurde. Die medizinische Untersuchung hat bestätigt, dass er sie kein einziges Mal angerührt hat. Sie ist noch Jungfrau.«
Jackman dachte an das Zimmer, in dem Kenya gefangen gehalten worden war. Er verstand es zwar nicht, aber er glaubte Ruth Crooke.
Eine Zeit lang sagte keiner ein Wort. In ihrem Job musste man immer auf das Schlimmste gefasst sein, und manchmal waren derart erstaunliche Entwicklungen schwer zu begreifen.
»Die Psychologen meinten außerdem, dass Kenyas Gefühle für Asher nichts mit dem Stockholm-Syndrom zu tun haben. Kenya hat erzählt, dass er sehr nett zu ihr war. Auch wenn er sie entführt hat, war er doch fast ihr ganzes Leben lang ihre einzige Bezugsperson.« Ruth hob die Augenbrauen. »Sie behauptet, er hätte sie gerettet. Mehr wissen wir nicht – wir stehen immerhin erst am Anfang der Befragungen. Aber in Anbetracht dessen, was ihr zugestoßen ist, wirkt Kenya bemerkenswert ausgeglichen.«
»Ob er sie vor Toby Tanner gerettet hat?«
»Das wird eine der ersten Fragen sein, die man ihr stellt. Wir müssen die Ereignisse in die richtige Reihenfolge bringen. Es sieht nicht so aus, als hätte Asher Leyton sie entführt, um seine Bedürfnisse zu befriedigen. Er hat sie zwar beinahe ein Jahrzehnt lang gefangen gehalten, aber warum? Wir wissen, dass sie ihm nicht als Sexspielzeug diente, und nach der Untersuchung der Kleider gehen wir davon aus, dass er sie zum Spielen mit nach draußen genommen hat. Auf den Sohlen ihrer Turnschuhe befanden sich Erde und Pflanzenreste, und die Kollegen haben Gummistiefel und eine Regenjacke im Schrank entdeckt.«
»Kenya lebt, und zwölf andere sind tot. Warum?«, überlegte Jackman.
»Es ist bizarr, nicht wahr? Kenya musste den Albtraum, der sich im Wohnwagen zugetragen hat, offenbar nie miterleben. Und Philip hat sie nicht auf die letzte schreckliche Reise durch den Tunnel und auf die Kinderstation mitgenommen.«
»Vielleicht sollte ich noch einmal mit Philip sprechen, Ma’am. Womöglich weiß er etwas. Obwohl ich mir ziemlich sicher bin, dass Asher der Einzige war, der wusste, wo sich das Mädchen befand.«
»Ja, das sehe ich auch so. Aber reden Sie ruhig mit ihm, wenn Sie möchten.«
»Ich würde mich viel lieber mit Asher unterhalten.«
»Wollen wir das nicht alle? Aber er schwebt noch immer in Lebensgefahr, weshalb ich fürchte, dass wir warten müssen, bis Kenya uns ihre Geschichte selbst erzählt.«
»Was sicher noch einige Zeit dauern wird …«
Ruth Crooke legte den Kopf schief. »Da bin ich mir gar nicht so sicher. Sie hat schon angefangen zu reden, obwohl niemand damit gerechnet hat. Sie ist verwirrt und labil, aber sie steht nicht unter einem schweren Schock, wie es vermutlich der Fall wäre, wenn man sie regelmäßig misshandelt hätte. Sie hat offenbar geglaubt, ein vollkommen normales Leben zu führen, und erst jetzt herausgefunden, dass es sich wesentlich von dem Leben anderer Kinder unterschied.«
»Er hat sogar versucht, sie geistig zu fördern. Das hat man sofort gesehen. Spiele, Stofftiere, Puzzles, jede Menge Bücher.« Jackman atmete tief ein und langsam wieder aus. »Ich kann immer noch nicht glauben, dass sie tatsächlich am Leben ist. Ihr Fall lief beinahe zehn Jahre im Hintergrund. Die meisten von uns dachten, ihre Leiche würde irgendwann zufällig auftauchen. Niemand wagte zu träumen, dass sie eines Tages allein und ohne Hilfe aus ihrer kleinen unterirdischen Welt emporsteigt.«
»Als ich Sie vor Kurzem bat, den Fall ein für alle Mal abzuschließen, hätte ich nie gedacht, dass es so enden würde!«
Jackman griff bereits nach der Türklinke, als Ruth Crooke hinzufügte: »Ich hätte beinahe vergessen, Ihnen zu sagen, dass Chief Superintendent Cade in ein anderes County versetzt wird. Irgendwo in die Nähe der walisischen Grenze, glaube ich.«
Jackman erstarrte. »Er hat sich also herausgeredet! Dieses Arschloch!«
»Das habe ich jetzt überhört, Rowan. Leider ist das das Beste, worauf wir hoffen konnten.«
Nein, das war es nicht. Jackman hatte gehofft, dass der bösartige Mistkerl den Geiern zum Fraß vorgeworfen werden würde. »Wie hat er das geschafft?«, fragte er mit zusammengebissenen Zähnen.
»Er hat den ermittelnden Beamten erklärt, dass er die Party absichtlich infiltriert hat, um die Männer an der Spitze zu schnappen, und Sie und Ihr Team hätten seinen Undercover-Einsatz ruiniert.«
Jackman schluckte, und seine Wangen begannen zu glühen. »Aber wir hatten eindeutige Beweise! Spuren am Tatort. Fotos. Zeugen.«
»Das alles hätte vor Gericht nicht standgehalten, und einige der Beweise, die Sie gerade erwähnt haben, existieren nicht mehr.« Ruth schien in sich zusammenzusinken. »Er ist ein mächtiger Mann, Rowan, und sehr gefährlich. Wie gesagt, das ist das Beste, worauf wir hoffen konnten, und ich würde vorschlagen, dass Sie es darauf beruhen lassen.«
Jackman dachte daran, dass Marie am Boden zerstört sein würde, wenn sie davon erfuhr, und sagte leise: »Also werden erneut Unschuldige seinen ekelerregenden Trieben ausgesetzt sein. Nur an einem anderen Ort.«
»Vielleicht nicht.« Sie lächelte hintergründig. »Er ist nicht der Einzige mit Freunden ganz oben – und ganz unten.« Ihr Lächeln wurde breiter. »Ich habe einige sehr einflussreiche Leute über gewisse Dinge in Kenntnis gesetzt, und wenn Sie die Polizeinachrichten verfolgen, werden Sie in den nächsten Wochen vermutlich von einem frühzeitigen Abschied in den Ruhestand lesen. Ich weiß, das ist nicht der Ausgang, den Sie sich gewünscht hätten, Rowan, und es ist bei Weitem nicht das, was Cade verdient hätte. Aber so wird er wenigstens keinen Einfluss mehr auf den Polizeiapparat haben. Mehr war einfach nicht möglich, ohne die Büchse der Pandora zu öffnen.«
Jackman lockerte seinen Griff um die Türklinke. Er wusste, wie solche Dinge liefen. »Danke, Ma’am.«
»Es war mir ein Vergnügen. Glauben Sie mir. «
Marie hörte Jackman zu und lächelte ergeben. »Ich hätte wissen müssen, dass es nicht reichen wird. Nicht bei einer Schlange wie Cade.«
»Wenn Ruth Crooke ihr Wort hält – und davon bin ich überzeugt –, dann kann er in Zukunft nicht einmal mehr einen Blick aus dem Fenster werfen, ohne dass die Sitte ihm entgegenstarrt.«
»Ich hoffe, er wird in der Hölle schmoren.«
»Ganz meine Meinung«, erwiderte Jackman. Im nächsten Moment klingelte sein Telefon. »Gary? Ja … Ja … Okay! Wunderbar, wir sind in zehn Minuten da.«
Er stand auf. »Asher ist wieder bei Bewusstsein und will uns sehen.«
Sie liefen zum Auto und standen in weniger als zehn Minuten am Bett des schlafenden Asher Leyton.
»Die Ärzte meinen, er hätte großes Glück gehabt«, flüsterte Gary. »Die Verletzung ist nicht so schwer, wie anfangs vermutet, und seit er aufgewacht ist, fragt er ständig nach seiner Schwester.«
»Nach Elizabeth oder nach Fleur?«, fragte Marie.
»Nach Kenya. Er bezeichnet sie als seine kleine Schwester.«
Sie setzten sich ans Bett und warteten darauf, dass Asher aufwachte.
Jackman wandte sich grinsend an Gary. »Wir haben gehört, dass in der Dienststelle von Harlan Marsh eine riesige Party steigt, seit Cade fort ist. Aber ich hatte gehofft, dass Sie vielleicht trotzdem bei uns in Saltern-le-Fen bleiben würden?«
Gary grinste. »Wirklich?«
»Wenn Sie möchten, wäre in unserem Team ein Platz für Sie frei. «
Bevor Gary etwas erwidern konnte, öffnete Asher stöhnend die Augen.
»Sie ist in Sicherheit, Asher«, erklärte Jackman leise. »Kenya wird gut versorgt, und es kann ihr nichts geschehen.«
Eine Träne lief über die Wange des jungen Mannes. »Das ist gut.«
»Sie sagt, Sie hätten sie gerettet. Stimmt das?«
Asher nickte kaum merklich.
»Vor Toby?«
»Er hat sie beim Spielen am Strand entdeckt. Er hat sie mitgenommen und ins alte Sanatorium gebracht, aber ich habe ihn gesehen.« Asher schluckte.
»Also haben Sie sie versteckt?«
»Meine Schwester Fleur ist gestorben, und ich habe sie so vermisst. Ich war damals zwar noch sehr klein, aber ich konnte mich noch gut an sie erinnern und habe sie immer geliebt. Sie hatte ein so schreckliches Leben, und ich dachte, Kenya würde dasselbe bevorstehen. Das konnte ich doch nicht zulassen, oder?«
Tränen liefen über seine Wangen, und im nächsten Augenblick stürzte eine Krankenschwester ins Zimmer und erklärte, dass der Patient Ruhe bräuchte.
Jackman erhob sich. »Wir haben ohnehin genug gehört.«
»Ich bin furchtbar müde«, gähnte Marie.
»Und total erschöpft«, fügte Gary hinzu.
»Ist das ein Wunder?« Jackman schüttelte den Kopf. »Welcher vernünftige Mensch entscheidet sich freiwillig für einen solchen Job?«
»Wir!«, antworteten Marie und Gary wie aus einem Mund.
Jackman nickte nur.