Alle Gefühle sind da, um gefühlt zu werden. Klingt logisch, aber Emotionen zu erleben, ist das eine, das andere ist es, sie auszuleben. Vor allem, wenn wir unsere jahrelange Sozialisierung als Frauen berücksichtigen.
Witzig, klug, sympathisch, charismatisch und verdammt gut in ihrem Job. Genau das ist eine ehemalige Arbeitskollegin von mir. Sie arbeitete hart, zählte zu den erfolgreichsten Beraterinnen in der Agentur, in der wir gemeinsam tätig waren. Sie fehlte oft. Doch obwohl sie im Vergleich zu den anderen Kolleg:innen wenig im Büro war, erledigte sie in der Zeit, in der sie anwesend war, mehr Aufgaben, war erfolgreicher als diejenigen, die stets und ständig am Schreibtisch saßen, und ging euphorisch immer noch einen Schritt weiter als die anderen Kolleg:innen. Die Chefinnen mochten sie, die Kolleg:innen hassten sie. Sie wurde von ihrem Team als anstrengend bezeichnet, da sie für ihr Recht einstand, laut wurde, sobald sie eine Ungerechtigkeit witterte. Das machte sie verdammt unsympathisch.
Sie ist ein starker Kontrast zu dem, was unsere Gesellschaft als universelle Rolle von Frauen erwartet. Sie war nicht selbstlos. Sich aufzuopfern und für Familie, Freund:innen oder Partner:innen stets und ständig da zu sein, sind Aspekte, für die eine Frau anerkannt wird. Das ultimative Kompliment, das man einer Frau machen kann, ist es, ihr zu sagen, dass sie selbstlos ist.
Wut ist egoistisch, und Frauen sollen selbstlos sein. Was würde passieren, wenn alle Frauen ihre Wut auslebten? Wenn alle Frauen Grenzen setzen und für sich einstehen, im Kleinen sowie im Großen. Unausgewogene Beziehungen würden in Balance kommen, korrupte Strukturen würden gerecht — wie dass Frauen weiterhin weniger Geld verdienen —, und unsere Gesellschaft würde sich wandeln. Ärgerliche Frauen gab es schon immer. Mal als Hexe, Emanze oder als Zicke betitelt, wurden sie diskursiv und symbolisch sanktioniert, teilweise auch räumlich von der Gesellschaft ausgeschlossen — Hexen durften beispielsweise nur am Rande des Dorfes leben —, sobald sie am Raster der normativen Weiblichkeitskonzeptionen scheiterten.
Je nach historisch-kulturellem Setting galten solche Frauen als besessen, irrational, hysterisch oder frustriert, schreibt die Historikerin und Geschlechterforscherin Dr. Fabienne Amlinger in ihrem Aufsatz Wut und Feminismus. Zuschreibungen, die abwerten, individualisieren, pathologisieren und letztlich ablenken von dem, was hinter diesen sozial relevanten Emotionen steckt: ein Alarm, der einem signalisiert, hier stimmt etwas nicht, und dagegen muss vorgegangen werden. Stattdessen sind starke Frauen, die nicht vor ihrer Wut zurückschrecken, unsympathisch.
Insbesondere, wenn man sich selbst stark aufopfert, neigt man dazu, das eigene Umfeld zu verurteilen. Man kritisiert andere Personen intensiver dafür, dass sie sich »gehen lassen«, wenn man sich selbst nicht den Raum gibt, die eigene Wut auf diese Weise auszudrücken.
»Psychologie hin, Sozialisation her — Frauen haben die Wahl. Konflikte auszutragen, lässt sich lernen, wenn man es will. Doch dazu gehört Mut. Und Frauen sind feige«, schreibt Bascha Mika in Die Feigheit der Frauen: Rollenfallen und Geiselmentalität. Was, mit Verlaub, leicht gesagt ist.
Alle Menschen kennen Feigheit oder Scham. Sie sind Teil unserer Existenz. Gerade die Scham ist ein peinigendes Gefühl. Wer sich schämt, zieht sich zurück, igelt sich ein, möchte im Erdboden versinken. Sie trennt die Menschen — jedenfalls solange sie unbewusst ist. Scham kann von unterschiedlicher Dauer sein: Sie kann ein flüchtiger Affekt bleiben oder sich zu einer dauerhaften Charaktereigenschaft chronifizieren. Sie kann auch unterschiedliche Intensitäten haben: Von leichter Peinlichkeit bis hin zum abgrundtiefen Selbstwertzweifel.
Auch bei der Wut gibt es den Morgen danach, der dem Zustand nach einer durchzechten Nacht ähnelt. Der Schädel brummt, in der Magengegend braut sich ein ungutes Gefühl zusammen, am liebsten würde frau die Decke über den Kopf ziehen, doch vor allem drängt eine große Frage: »Was habe ich gesagt?«, gepaart mit dem Schuldgefühl: »Hätte ich es auch anders sagen können?«
Wut und Aggressionen sind Energien, die Frauen nicht produktiv einzusetzen gelernt haben, schreibt Bascha Mika. Diplomatisch zu sein entlastet nicht die Person, die ihre Wut verbergen muss, sondern das Gegenüber. Dabei wird die Wut so stark klein gemacht, dass aus dem lodernden Feuer ein kleines Glühen wird, das schließlich ganz verpufft.
Eine der wichtigsten Fragen zur Wut der Frauen bleibt also: Warum soll unsere Wut diplomatisch sein? Ist es die Scham, falschzuliegen, die Angst vor gesellschaftlichen Folgen wie Ausgrenzung, oder denken wir, dass unsere Argumente nur dann, wenn sie hübsch verpackt sind, einen Wandel hervorrufen können?
Ist meine Wut berechtigt? Das ist die zweite wichtige Frage. In welcher Situation wird unsere Wut als o. k. betrachtet? Dabei gibt es keine falsche oder richtige Wut. Ärger ist subjektiv. Nur man selbst kann bestimmen, wann die Wut uns geholfen hat. Wut hat eine wichtige Funktion. Sie ist ein Alarmsignal und zeigt, hier stimmt etwas nicht. Ob sie letztendlich effektiv oder nicht ist, liegt daran, ob das Problem bleibt oder verschwindet. Dabei spielen wir selbst eine signifikante Rolle. Denn wütend zu sein, ist eine Grundemotion. Grenzen zu setzen, für sich einzustehen, ist ein Instinkt.
»How dare you?«, fragte die schwedische Klimaschutzaktivistin Greta Erman Thunberg beim UN-Klimagipfel im September 2019 in New York. Aus ihren »Schulstreiks für das Klima« wurde eine globale Bewegung. Fridays For Future plädiert für eine an den Erkenntnissen der Wissenschaft orientierte, konsequente Klimapolitik. Davon sind wir aktuell noch weit entfernt. Thunbergs Rede demonstrierte ihre Wut und sorgte weltweit für Schlagzeilen. »Das ist alles nicht richtig«, begann Thunberg. »Ich sollte hier nicht sein, ich sollte in der Schule sein, auf der anderen Seite des Ozeans.« Sie warf den anwesenden Staats- und Regierungschefs, darunter auch Angela Merkel, mangelnde Handlungsbereitschaft vor. Ihre Wangen waren übersät mit roten Flecken, in ihren Augen sammelten sich Tränen, ihr Gesicht war zu einer Fratze verzogen, und ihre Stimme war brüchig, fast heiser. »Wie konntet ihr es wagen, meine Träume und meine Kindheit zu stehlen mit euren leeren Worten?«, fragte die junge Schwedin mit bebendender Stimme: »Wie könnt Ihr nur weiter wegschauen?«
Anfangs konnten auch diejenigen, die den Klimawandel bagatellisieren, einigermaßen mit der Sechzehnjährigen leben. Greta war das liebe, stille, wohlerzogen wirkende Mädchen. Doch das Blatt wendete sich mit der Rede vor der UN. Thunberg war wütend. Das kommunizierte sie in ihren Worten und in ihrer Körpersprache. »Warum denn so aggressiv?«, lautete die Frage in den Kommentarspalten unter der Videoaufnahme ihrer Rede. »Sie könnte das besser rüberbringen«, schlussfolgerte ein anderer Kommentator. Der CDU-Bundestagsabgeordnete Roderich Kiesewetter twitterte: »Wer da rational argumentieren will, ist von vornherein schon diskreditiert. Das ist die neue ›Qualität‹ mangelnden Willens zur Sachlichkeit. Bitter.« Und auch US-Präsident Donald Trump meldete sich zu Wort: »Sie scheint ein sehr glückliches junges Mädchen zu sein, das sich auf eine glänzende und wundervolle Zukunft freut.«
Greta Thunberg hatte den netten Protest versucht, nun wollte sie vor der UN klarmachen: Ich bin wütend, und ihr seid der Grund. Doch die Welt hielt sich damit auf, über die Darbietung dieses Protests zu diskutieren, statt über den Grund von Thunbergs Wut.
»Es gibt schon Räume für Frauen, wütend zu sein«, so Dr. Ursula Hess. »Aber es ist besonders schwierig für junge Menschen. Älteren Frauen wird mehr Raum für ihren Ärger eingeräumt.« Das ist paradox, denn viele wissenschaftliche Arbeiten weisen darauf hin, dass die Häufigkeit, die eigene Wut ausdrücken zu müssen, und die Intensität der Wut mit fortschreitendem Alter abnimmt. Ob das an der Sozialisierung liegt oder mit den individuellen Erfahrungen zusammenhängt, bleibt unklar. Eines steht fest: Je jünger die Frau, desto weniger Wut wird ihr eingeräumt, auch wenn sie diese eher ausdrücken möchte.
Wenn eine Frau in einem vollen Geschäft wütend ist, ist irrelevant, wie es zu diesem Umstand kam. Der Fakt, dass die Person überhaupt ihre Contenance verliert, überwiegt alles andere, das Resultat wird als wichtiger bewertet als die Ursache. Ist man also in einem vollen Geschäft wütend, sind die Reaktionen der umstehenden Menschen meistens folgende: Man wird bewertet, beurteilt, verurteilt oder ausgelacht. Wütenden Frauen wird oft suggeriert, dass sie übertreiben oder dass ihre Wut unberechtigt sei. Noch schlimmer ist es, wenn ihnen erklärt wird, dass es gar kein Problem gebe, sondern dass sie es sich nur einbilden. Unser gesellschaftlicher Umgang mit der Wut, die Frauen nicht ausdrücken dürfen, gleicht dem sogenannten Gaslighting.
»Willst du mir sagen, dass ich wahnsinnig bin?«, haucht Ingrid Bergman als junge Opernsängerin Paula in dem Film Gaslight (zu deutsch Das Haus der Lady Alquist) aus dem Jahr 1944. Ihr Ehemann, den sie nach dem Tod ihrer Tante heiratet, ein charmanter Musiker, erklärt ihr: »Jetzt verstehst du vielleicht, warum ich dich nicht unter Leute lassen kann.« Der Film handelt davon, wie Paula zunehmend isoliert und desorientiert wird. Ihr Mann überzeugt sie davon, dass sie den Verstand verliert: Gegenstände verschwinden, seltsame Geräusche dringen aus einem verschlossenen Dachboden, die gasbetriebene Beleuchtung verblasst auf mysteriöse Weise. Wir erkennen, bevor Paula es tut, dass es ihr Ehemann ist, der diese Störungen verursacht. Spoilerwarnung: Paula wird am Ende verrückt.
Dieser Film hat dem psychologischen Konzept »Gaslighting« einen Namen gegeben. Es handelt sich um einen manipulativen Missbrauch, bei dem das Opfer durch die wiederholten Leugnungen, Ablenkungen und Lügen des Täters dazu gebracht wird, an dem eigenen Urteilsvermögen und Realitätssinn zu zweifeln.
»Du bist einfach übermäßig empfindlich«, »Ich weiß nicht, warum du so eine große Sache daraus machst …« oder »Du übertreibst!« sind Sätze, hinter denen sich Gaslighting verstecken kann. Im Kern geht es darum, klarzumachen: Das, was das Gegenüber fühlt, ist nicht echt. Das geht so weit, bis das Gegenüber verrückt wird oder an der eigenen Fähigkeit zweifelt, bewerten zu können, ob die eigene Wut gerechtfertigt ist oder nicht. Während die Wut von Frauen als irrational abgestempelt wurde, ist unser Urteilsvermögen sukzessive umsozialisiert worden. In Situationen, in denen man wütend werden würde, sind wir verwirrt. Das kann einen doch nur wahnsinnig machen oder zumindest verunsichern.
Viele Menschen, die Gaslighting ausgesetzt sind, ändern ihre Wahrnehmung, um einen Konflikt zu vermeiden. Normalerweise gibt es eine Machtdynamik, wenn Gaslighting stattfindet. Der Manipulator hat so viel Macht, dass das Ziel des Gaslighting Angst hat, die Beziehung zu ändern oder aus der Gaslighting-Dynamik auszusteigen, weil die Drohung, die Beziehung zu verlieren — oder die Drohung, als weniger angesehen zu werden, als man von dem Manipulator gesehen werden möchte —, eine existenzielle Gefahr darstellt.
Unter Berücksichtigung all dessen ist es schwierig zu sagen, dass Frauen feige seien. Vor allem, wenn wir die lebenslange Konditionierung und Gaslighting-Dynamik bedenken, denen Frauen ausgesetzt sind. Wenn man nach etwas greifen möchte, und jemand schlägt einem auf die Hand, ist das das nicht weiter schlimm, aber wenn es über Jahre geschieht, verinnerlichen wir die Reaktion. Es steckt Trauma in der Sozialisierung, die wir als Frauen erleben. Diese zu durchbrechen, kostet viel Selbstwert, Mut und die Bereitschaft, unsympathisch zu sein.
»Frauen können selbstverständlich wütend sein«, erklärt die Emotionsforscherin Dr. Ursula Hess. Wenn man eine Frau sieht, die ärgerlich ist, assoziiert man diese Emotion allerdings mit ihrem Charakter. Bei Männern wird deren Wut äußeren Umständen zugeschrieben. Auch in heteronormativen Beziehungen, stellte ein Forscher:innenteam um Agneta H. Fischer fest, neigen Frauen dazu, ihre Wut eher zu unterdrücken als Männer. Männer berichten, ihre Wut direkt auszudrücken. In egalitären Beziehungen, also in gleichberechtigten Verhältnissen, wurde dieser Unterschied nicht gefunden. Zusätzlich haben Frauen in industriellen Gesellschaften im globalen Norden eher als Männer häusliche und pflegende Rollen inne, in denen die emotionale Fürsorge für andere ihre Hauptaufgabe ist. Männer hingegen sorgen eher als Frauen für die materiellen Ressourcen und übernehmen eine Rolle in der Erwerbswirtschaft. Diese Rollen deuten auf Macht- und Statusunterschiede hin, wobei weiblichen Rollen weniger Macht und Status zugesprochen wird. Agneta Fischer schlussfolgert, dass unterschiedliche Emotionen und Emotionsausdrücke erforderlich sind, um diese sozialen Rollen erfolgreich auszuführen. Wut dient dem Durchsetzen. Etwas, was Frauen in ihren Positionen traditionell weniger benötigten. Fischer unterscheidet zudem in der Anwendung von starken Emotionen wie Wut oder Verachtung. Sie dienen zur Machterhaltung und werden zur Demonstration von Durchsetzungsfähigkeit genutzt. Dann gibt es noch machtlose Emotionen, die sich mit der inneren Schuld, Verletzlichkeit und der Unfähigkeit, mit negativen Ereignissen umzugehen, beschäftigen. Zu diesen Emotionen gehören zum Beispiel Traurigkeit, Angst, Scham und Schuld. Letztere dienen dazu, Harmonie und soziale Beziehungen aufrechtzuerhalten.
Bei der Frage, wer Wut ausdrücken darf, geht es in Wahrheit um eines: Macht. Fischers Arbeit zeigt, dass es in egalitären Beziehungsmodellen keine Wut- und Machtverschiebungen gibt. Damit Frauen mehr Raum für ihre Wut haben, bräuchten wir also eine gleichberechtigte Gesellschaft. Von der sind wir aktuell noch sehr weit entfernt.
Das zeigt schon ein Blick in die zwei Industrien, in denen Frauen mehr Geld verdienen als Männer: Die Pornoindustrie und das Influencer:innen-Marketing. In den Vorständen der dreißig Dax-Konzerne sind sechs ausnahmslos mit Männern besetzt, und insgesamt 15 Prozent der Dax-Vorstandsmitglieder:innen sind Frauen. Deutschland hinkt im Vergleich zu den USA, Schweden, Großbritannien und Frankreich hinterher. Das bedeutet, Frauen sind in den Bereichen erfolgreich, wo sie die Strukturen und Ordnungen der männlichen Dominanz nicht untergraben.
Doch was ist, wenn Zurückhaltung einfach in der Natur von Frauen liegt? Die gute alte biologisch-physiologische Erklärung, dass Frauen submissiv und Männer dominant sind, die Frage: Was verursacht Geschlechtsunterschiede im menschlichen Verhalten? Diese Überlegung lässt sich nicht mit einem einzigen wissenschaftlichen Prinzip beantworten. Einfach gesagt, es ist kompliziert.
Der biosoziale Ansatz von dem Forscherinnenteam Wendy Wood und Alice H. Eagley versucht darauf eine Antwort zu finden. Dieser Ansatz betont die Bedeutung sozialer Rollen bei der Erklärung von Geschlechtsunterschieden im Sozialverhalten, erkennt aber auch die Tatsache an, dass geschlechtsspezifische physiologische Attribute (Männer sind körperlich stärker, oder Frauen können Kinder kriegen) berücksichtigt werden müssen. Diese Form der Analyse und Überlegung stellt eine Cis-Perspektive ins Zentrum. Hier geht es um »Männer« und »Frauen«, obwohl das längst nicht alle Menschen umfasst — es gibt mehr als nur diese beiden Geschlechter, nicht alle Frauen können Kinder gebären, und nicht alle Männer haben einen starken Bizeps. Trotzdem können die folgenden Beobachtungen von Wood und Eagly dabei helfen, sich mit denjenigen gesellschaftlichen Konstruktionen auseinanderzusetzen, die noch immer auf der Binarität von »männlich« oder »weiblich« basieren.
»Alle von uns untersuchten Kulturen weisen auf eine Allianz zwischen Männern und Frauen bei der Arbeitsteilung hin, die in erster Linie so organisiert zu sein schien, dass die Mütter in der Lage waren, Kinder zu gebären und Säuglinge zu stillen und zu versorgen, und in zweiter Linie die Größe, Kraft und Schnelligkeit der Männer auszunutzen«, so das Forscher:innenteam. »Dennoch variierten die spezifischen Aufgaben, die von Männern und Frauen innerhalb dieser Aufteilung am effizientesten ausgeführt wurden, je nach lokaler Ökologie und sozioökonomischer Struktur, mit dem Ergebnis, dass Aufgaben, die für Männer charakteristisch waren, von Frauen unter Umständen ausgeführt wurden, die die Einschränkungen der reproduktiven Aktivitäten von Frauen aber nicht reduzierten. Zum Beispiel jagten Frauen in Gesellschaften, in denen diese Tätigkeit ihre reproduktiven und kinderbetreuenden Aktivitäten nicht übermäßig einschränkte.«
Woods und Eagly schlussfolgern: »Die Einschränkungen, die sich aus dem reproduktiven Verhalten der Frauen ergeben, scheinen die Ausübung von Tätigkeiten zu behindern, die eine intensive Ausbildung und den Erwerb von Fähigkeiten erfordern, und den Frauen die Energie und Zeit zu entziehen, die sie für die Ausübung solcher Tätigkeiten benötigen. In Gesellschaften des globalen Nordens waren es genau diese Tätigkeiten, die Status und Macht in der breiteren Gesellschaft verschafften. Das Patriarchat entstand also zu einem großen Teil aus den Schwierigkeiten der Frauen, ihre reproduktiven Tätigkeiten effizient mit qualifizierten Produktionsaufgaben zu verbinden, die in komplexeren Gesellschaften maximal zu Macht und Status beitrugen.«
Inzwischen gibt es Kitas, Schulen und weitere Instanzen, die Frauen die Möglichkeit bieten, sich Fähigkeiten, Abschlüsse und zudem noch all die anderen Dinge zu beschaffen, die es für ein Ticket an den Tisch der Entscheidung braucht. Nur hinken wir einige Jahrhunderte an patriarchalischen Strukturen hinterher. Alle Plätze sind schon vom Sohn des Chefs, dem Neffen oder dem Enkel belegt. Auf eine gleichberechtigte Gesellschaft müssen wir noch hinarbeiten. So um die 99,5 Jahre, laut der Untersuchung des World Economic Forums. Solange braucht es noch, um zu einer vollständigen Gleichstellung der Geschlechter in Arbeitswelt, Bildung und Politik zu gelangen. Und was ist bis dahin mit der Wut?
Aktuell gibt es zwei Möglichkeiten, als Frau wütend zu sein. Entweder man teilt die Wut und erlebt gesellschaftliche Abstrafungen, ist die unsympathische Zicke, oder man hält sich an die Spielregeln, kriegt eventuell mehr Zugriff, weil man aktuell bestehende Machtstrukturen nicht zum Wanken bringt, und fährt die Respektabilitätspolitik.
Respektabilitätspolitik bedeutet, dass Menschen, die von diskriminierenden Strukturen wie Rassismus oder Sexismus betroffen sind und die davon ausgelösten Emotionen wie Wut, Depression und Angst erleben, besonders geduldig und verständnisvoll handeln, um die Gunst der Mächtigen zu gewinnen. Ein Beispiel dafür sind die Obamas und ihr Slogan »When they go low, we go high«. So schreibt der Journalist Joshunda Sanders über die Obama-Ära und die Respektabilitätspolitik.
»Es ist die Philosophie, dass wir Schwarze uns benehmen und an die dominante Kultur anpassen müssen, um erfolgreich zu sein, um den Schutz der weißen Staatsbürgerschaft zu verdienen.«
Im Prinzip sollen Frauen die besseren Menschen sein. Respektabilitätspolitik ist, wenn Pädagog:innen in Kinderohren flüstern: »Der Klügere gibt nach.« Überproportional ist diese Aussage an Mädchen gerichtet. Nach dem Motto: Ja, du bist wütend, weil du in deinem Leben nur halb so viel wie Männer verdienen wirst, solltest du darüber hinaus auch noch in einer heterosexuellen Ehe mit Kindern sein, musst du neben deinem Vollzeitjob noch 4,5 Stunden täglich an kostenloser unbezahlter Care-Arbeit obendrauf packen, die du mit Putzen, Schrubben und Ackern in deinem eigenen Haushalt beschäftigt bist. Wenn du eine trans Frau bist, kommt erhöhte Gewalt und stärkere Diskriminierung am Arbeitsplatz und im Sozialen hinzu, aber wenn dich all das wütend macht, schieb es einfach weg, denn sonst wirst du von der Gesellschaft als hysterische, undankbare Kuh abgestraft. Sei klüger. Schluck es runter.
Es gibt nicht den einen Weg aus diesem Teufelskreis. Es braucht mehrere. Es braucht Frauen, die trotz gesellschaftlicher Folgen laut und unbequem sind, und Frauen, die sich dem System anpassen, um es von innen heraus zu verbessern.
Das wohl spannendste Beispiel ist die Königin der Respektabilitätspolitik, Angela Merkel. Mit dunklem Blazer steht die CDU-Frau im November 2005 vor dem damaligen Bundestagspräsidenten Norbert Lammert und spricht die Formel, um als Bundeskanzlerin vereidigt zu werden. Über sechzehn Jahre scheint sie eine der wenigen Frauen in der Politik zu sein, die eine Machtposition innehat, ohne jemals in der Öffentlichkeit aufzubrausen. Wenn eine Frau es schafft, beispielsweise in machtvollen Strukturen aufzusteigen, ebnet das den Weg für viele weitere Frauen. Der Vorbildeffekt hat sich laut der Untersuchung des World Economic Forums auch auf die Führungsqualitäten und Löhne von Frauen ausgewirkt.
»Die Verbesserung der politischen Handlungsfähigkeit von Frauen korrespondiert in der Regel mit einer höheren Anzahl von Frauen in Führungspositionen auf dem Arbeitsmarkt«, so das Fazit aus dem Bericht Mind the 100 Year Gap: Global Gender Gap Report 2020. Doch nur, weil wir eine Bundeskanzlerin hatten, leben wir dadurch nicht in einer gleichberechtigten Gesellschaft. Im Bundestag ist der Frauenanteil seit der Bundestagswahl 2017 wieder gesunken, von 36 auf knapp 30 Prozent. In Deutschland gab es noch nie eine Bundespräsidentin und damit noch nie eine Frau im nominell höchsten Staatsamt. Politisch hat Merkel sich wenig für die Gleichberechtigung eingesetzt. Sie sprach sich erst gegen eine Quote aus und gegen Teilzeitregelungen, die Frauen die Rückkehr in den Beruf erleichtert hätten. Gleichzeitig unterstützt sie ein Betreuungsgeld für Eltern, die ihre Kleinkinder zu Hause erziehen — die sogenannte Herdprämie —, was Frauen nicht hilft, da sie überwiegend diejenigen sind, die daheim bleiben. Eine Lösung für das Problem, dass Frauen weiterhin bei gleicher Qualifikation weniger als Männer verdienen, gibt es auch nicht. Trotzdem sieht sich Merkel als eine Art »Türöffnerin« für Frauen, allein weil sie als Vorbild fungiert. So wie ich könnt auch ihr es schaffen, sind zumindest das Bild und die Botschaft, die sie vor allem jungen Frauen und Mädchen vermitteln will. Immerhin gibt es inzwischen Kinder, die fragen: Können auch Jungs Bundeskanzlerin werden?
Angela Merkel ist eine Kanzlerin für alle, aber sie macht immer nur Politik für alle, statt sich spezifisch für Frauen oder nichtbinäre Menschen einzusetzen. Das ist die andere Seite der Respektabilitätsmedaille. So hat der Vorbildeffekt laut dem World Economic Forum auch seine Grenzen. Zwar hat er positive Auswirkungen auf die höheren Ränge, wo nun auf Führungsebene deutlich mehr Frauen präsent sind als früher, doch ein Blick auf den breiteren Arbeitsmarkt zeigt, dass die Chancen für Frauen ins Stocken geraten sind. Finanzielle Ungleichheit nimmt weltweit zu. Gleichberechtigung gibt es also nur für die weißen, akademischen Frauen der Elite.
Audre Lorde schreibt, dass unterdrückte Wut zweifellos dazu beigetragen hat, dass die weiße patriarchalische Macht Frauen zum Schweigen bringt und vor allem eine Zwietracht untereinander hervorruft. Diese weiße patriarchalische Kraft macht uns wütend auf andere Frauen, um von der eigenen strukturellen Macht abzulenken.
Die Autorin Joshunda Sanders schreibt, dass Frauen, besonders Schwarze Frauen und Women of Color, in patriarchalischen Gesellschaften lernen, ihr Wohlbefinden würde vom guten Willen der machthabenden Männer abhängen. Sie zitiert Audre Lorde: »Und wenn wir unsere Machtlosigkeit akzeptieren, dann kann [das Ausdrücken unserer Wut] uns natürlich zerstören.«
Wir müssen unsere kollektive Wut kanalisieren — zum Beispiel durch zivilgesellschaftliches Engagement wie die 68er-Bewegung, Black Lives Matter, welches mehrheitlich durch Schwarze Frauen initiiert wurde, oder durch den initialen Gedanken des Christopher Street Day. Diese Art von Organisation ist ein wichtiger erster Schritt, um nachhaltige politische Macht aufzubauen. Auch das sagte Audre Lorde: There is no liberation without community.
Die Scham, die wir individuell und kollektiv fühlen, hat einen Grund. Unsere natürlichen Instinkte, aus der Haut zu fahren, wurden durch gesellschaftliches Gaslighting stillgelegt. Wütende Frauen mit gebrochenem Herzen sind nicht gebrochen. Wütende Frauen mit gebrochenem Herzen sind die Antwort auf eine kaputte Welt. Denn sie schenken unseren Umständen Aufmerksamkeit. Es geht hier nicht um die Wut einer Einzelnen, es geht um die Wut von uns allen.
Wenn wir der Frage nachgehen, warum die Wut von Frauen anders wahrgenommen wird, geht es um Macht und Traumatisierung. Wir sehen Frauen, die für ihre Wut verurteilt werden. Dabei ist Wut Selbstliebe. Frauen, die sie ausleben, sind nicht unsympathisch. Sie sind stark. Und starke Frauen können die Welt verändern.
Wir brauchen eine Rekalibrierung unseres Wut-Verständnis füreinander und darüber hinaus. Dabei müssen wir unsere sozialen Konventionen verlernen, um an unsere ursprünglichen Instinkte zu gelangen. Wir sind so geübt darin, unsere Wut zu verpacken, zu verschönern und rational zu erklären, und in diesem langen Prozess bleibt sie wieder nur bei einem selbst. Es ist hart und verunsichernd, die eigene Wut zuzulassen. Sich selbst treu zu sein, vor allem als Frau, wenn es doch immer wieder heißt, wütende Frauen seien unverschämt. Wütende Frauen sind vor allem gefährlich. Für den Status quo.
In Vom Nutzen der Erotik: Erotik als Macht schrieb Audre Lorde:
»Wir wurden dazu erzogen, das eigene Verlangen und das Ja zu uns selbst zu fürchten. Doch sobald wir es einmal anerkennen, verliert alles, was unserer Zukunft hinderlich ist, seinen Schrecken und seine Unveränderlichkeit. Die Angst macht unsere Sehnsüchte verdächtig, verleiht ihnen aber auch eine willkürliche Macht, denn eine unterdrückte Wahrheit ist umso zäher.«
Frauen aller Sexualitäten werden darauf programmiert, sich selbst innerhalb eines männlichen Systems und vor einer männlichen Aufmerksamkeit zu definieren. Wir brauchen mehr Allianzen statt Fehden. Wir müssen Wut für uns definieren, statt sie von anderen definieren zu lassen.
Für eine Wut-Katharsis benötigen wir die Angepassten und die Unangepassten. Dabei sollten sie kein Streitlager, sondern ein Team sein. Denn es braucht Dialoge, Kollegialität und eine Community. Statt bei dem nächsten öffentlichen Wutausbruch die Augen zu verdrehen, müssen wir zuhören.
»Ein weiteres universelles Merkmal sozialer Organisation ist das Bemühen von Eltern und anderen Bezugspersonen, Kinder so zu sozialisieren, dass sie einen geschlechtergerechten Beitrag zur gesellschaftlichen Arbeitsteilung sowie zu den patriarchalischen Sozialstrukturen leisten, die für viele Gesellschaften charakteristisch sind«, schreiben Woods und Eagly.
Wir haben es in der Hand, ob wir Mädchen und Jungen unsere geschlechtsspezifischen Stereotypen beibringen. Die Ergebnisse von Woods und Eagly legen nahe, dass Biologie, Sozialstruktur und Umwelt wechselseitig interagieren.
»Trotz der Rollenzwänge, die mit den reproduktiven Aktivitäten der Frauen und bis zu einem gewissen Grad mit der Größe und Stärke der Männer verbunden sind, scheinen beide Geschlechter genügend psychologische Flexibilität zu besitzen, um sich an eine breite Palette von sozioökonomischen Rollen anzupassen.«
Die 99,5 Jahre bis zur Gleichberechtigung sind eine verdammt lange Zeit. Doch ich kenne da eine Emotion, mit der wir so viel niederbrennen könnten, dass es vermutlich ein wenig schneller gehen würde.