Der Himmel hatte sich bereits massiv verdunkelt, die Sturmböen zugenommen. Dex kontrollierte den Filter seiner Gasmaske, als er von einer Aschewolke eingehüllt wurde und angewidert die Luft anhielt, bis die grauen Flocken von einer Böe fortgeweht wurden. Die Kapazität des Filters lag bei fünfzig Prozent. Genug für die kommende Nacht, aber zu wenig, um eine weitere hier draußen überstehen zu können. Er hing sich die Maske um den Hals und sicherte sie mit Gummibändern. Noch konnte er ohne sie atmen, aber es war nur eine Frage der Zeit, bis die vergiftete Luft seine Lunge schädigen würde.
Er warf einen Blick zum Transporter – wie so oft in den letzten Stunden – und widerstand dem Drang, die Heckklappe aufzubrechen, um die im Innern gefangene Seele in die Freiheit zu entlassen. Louis’ Worte hielten ihn nach wie vor zurück. Dex konnte seine Schuld gegenüber dem Templer nicht ignorieren. Auch wenn sein Herz anderer Meinung war. Das Wissen, eine Gefangene der Regentschaft zu bewachen, erfüllte ihn mit Zorn, aber seine Loyalität und sein Pflichtgefühl machten ihm einen
Strich durch die Rechnung. Waren sie doch die einzigen Werte, die ihm geblieben waren und ihn von den gesetzlosen Scraggern unterschieden.
Dex hatte sich dem Wagen mehrmals genähert, bis er das verzweifelte Wimmern der Frau hören konnte. Deren Stimme war bereits schwach und heiser, und wurde mit Leichtigkeit von den Böen überlagert, die über die Wüste fauchten und die vergiftete Asche aus dem Boden rissen. Die monotonen Geräusche machten Dex schläfrig und ließen die Hilferufe der Frau wie Echos eines verblassenden Traums erscheinen, der nichts weiter mit der Realität zu tun hatte, und ihre Existenz am Ende sogar infrage stellte. Dex begrüßte diesen lächerlichen Gedankengang und sah sich ein letztes Mal um, bevor er die Vorbereitungen für die Nacht in Angriff nehmen wollte.
Die grelle Sonne war nur noch knapp über dem Horizont zu erahnen, als die Böen zunahmen. Dex nutzte die verbleibenden Minuten, um eine Nährstoffplatte runterzuwürgen, nahm einen letzten Schluck Wasser und befestigte die Gasmaske vor seinem Gesicht. Danach aktivierte er den Filter, setzte sich mit der Shotgun in den Händen gegenüber dem Transporter in die Nische zweier Gebäude und lehnte sich ächzend gegen die Wand. Die Nacht würde lang werden und er hoffte, dass ihn die Gedanken an die Gefangene nicht ewig wachhalten würden. Gleichzeitig graute ihm vorm nächsten Tag. Denn wenn Louis die Klappe öffnen und Dex die Frau leibhaftig vor sich sehen würde, war er sich nicht sicher, ob er sein rebellisches Herz weiterhin im Zaum halten konnte.
Louis saß dem Anführer der merkwürdigen Truppe gegenüber.
Dessen Männer hielten sich weitgehend im Hintergrund auf und genossen wortlos ihre Mahlzeiten, die weitaus köstlicher als die üblichen Nährstoffplatten waren. Die industriell hergestellte Notfallnahrung hatte ihre Verbreitung während des Kriegs gefunden und sich seitdem aufgrund einer fast überall herrschenden Lebensmittelknappheit gehalten. Die Fremden dagegen hatten getrocknetes Fleisch bei sich. Ob es sich dabei um Katze, Taube oder Ratte handelte, war Louis egal. Denn im Gegensatz zu den geschmacklosen Platten, stellte das Trockenfleisch der angeblichen Nomaden eine Delikatesse dar. Louis konnte sich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal echtes Fleisch zu sich genommen hatte. Die Ebenen um den Außenposten waren praktisch leer gejagt und die Gebiete, die noch von Tieren aufgesucht wurden, in der Hand der Scragger. Damit blieben ihm und seinen Männern nur die Nährstoffplatten und hin und wieder vertrocknetes Brot aus den Megaplexen. Wasser und Brot. Ein Häftling wurde im Gefängnis Ankhroms besser versorgt, als die Templer der Regentschaft, die an den Grenzen des Reichs für Ordnung sorgten und die Scragger Tag für Tag auf Abstand hielten. Kein Wunder, dass die meist aus verbannten Männern bestehenden Truppen in den Randbereichen nicht allzu motiviert waren, um die Befehle des Interrex durchzusetzen, und für ihn den Kopf hinzuhalten.
Pius schien Louis dessen Gedanken anzusehen, beschränkte sich aber auf ein bescheidenes Lächeln und schwieg, bis er seine Mahlzeit beendet hatte. Natürlich hätte er weitaus mehr vertragen und das Fleisch vor ihm war wirklich zu verlockend, aber er wollte nicht unhöflich erscheinen und beließ es bei einer angemessenen Portion. Ben hatte größere Probleme, sich zurückzuhalten. Louis
musste ihn mit mehreren ernsten Blicken bedenken, bis er sich schweren Herzens zurücklehnte und die Hände neben seinen ausladenden Körper zwang, der seine Form sicher nicht den Nährstoffplatten zu verdanken hatte. Vermutlich versorgten ihn die Scragger aus Temburin oder die Ex-Militärs aus Smallridge
mit entsprechender Nahrung, im Gegenzug für Informationen und anderen Dingen, die ihnen nützlich waren. Aber Louis hatte nicht gefragt und Ben nichts gesagt, weshalb er das Erscheinungsbild seines Untergebenen hinnahm und zufrieden war, solange er weiter zwischen ihm und den Gesetzlosen vermittelte.
»Ihr müsst Euch nicht zurückhalten, Präfekt«, ermutigte Pius. »Nehmt Euch, was Ihr wollt.«
»Ich danke Euch für Euer Angebot, aber wir haben Euch bereits mehr als genug genommen.«
Pius verzog den Mund zu einem Schmunzeln. »Ihr habt uns Schutz vor dem Sturm geboten, Präfekt«, er horchte demonstrativ auf, als eine Böe über das Gebäude fauchte und die alten Fenster zum Vibrieren brachte, »und es Euch damit verdient. Wir sind weder Diebe noch Halsabschneider und wir wollen nichts geschenkt.«
»Ihr scheint nicht aus dieser Gegend zu stammen, richtig?«
Pius nickte. »Aber jetzt sind wir hier.«
»Dürfte ich fragen, welches Ziel Ihr verfolgt?«
»Nichts Wichtiges«, wiegelte er ab. »Allerdings sind uns achtzehn Männer und fünfzehn Motorräder abhanden gekommen.« Er sah ihn ernst an. »Weshalb ich mit Euch reden wollte.«
Louis brauchte nicht lange, um die Toten von heute Morgen mit dem geheimnisvollen Mann und seinen Anhängern in Verbindung zu bringen. Fünfzehn Motorräder, achtzehn Leichen. Beseitigt durch die Scragger aus
Temburin, die selbst ihre Mütter für einen entsprechenden Vorteil verkaufen würden.
»Ist Euch bekannt, in welchem Gebiet sie abhandengekommen
sind?«
»Der Funkkontakt riss etwa fünfundzwanzig Kilometer von Eurer Position entfernt ab. Laut den Aufzeichnungen unserer Scanner in nordwestlicher Richtung. Da dieser Bereich zu Eurem Territorium gehört, könnte ich mir vorstellen, dass Ihr vielleicht Informationen über diesen Vorfall habt?«
»Ihr wisst erstaunlich gut über die Gegebenheiten dieses Sektors Bescheid.« Louis sah den Kerl eindringlich an. »Für einen Nomaden.«
Pius hielt seinem Blick stand, setzte ein Lächeln auf und gönnte sich ein weiteres Stück Trockenfleisch. »Was spricht dagegen? Ich meine, dass wir Nomaden sind?«
»Eure Männer sind zu diszipliniert. Außerdem habt Ihr mir das Messer nicht grundlos überlassen, nicht wahr? Das Symbol des letzten Cäsaren darauf war kaum zu übersehen.«
»Es handelt sich nur um ein Symbol, Präfekt. Nichts weiter. Ich könnte die Waffe einem Toten abgenommen haben.«
»Männer, die die Symbole der alten Ordnung offen zur Schau tragen, sind für gewöhnlich bereit, für Ihre Sache zu sterben.« Louis bedachte ihn mit einem ernsten Blick. »Seid Ihr
bereit, für Eure zu sterben?«
»Was denkt Ihr?«
»Eure Angelegenheiten gehen mich nichts an«, erwiderte Louis knapp. »Hier draußen ist das Leben bereits anstrengend genug. Ich lege keinen Wert auf zusätzliche Animositäten. Mit wem auch immer.
«
»Dann seid Ihr nicht bereit, Euer Leben für Eure
Sache zu lassen?«
»Für mich und meine Männer sind die glorreichen Zeiten lange vorbei«, erwiderte er gelassen. »Wir wurden vom Interrex zu einem langsamen Tod verdammt und damit jeglichen Idealismus beraubt. Aber ich nehme an, das wusstet Ihr bereits.«
»In der Tat. Ich wollte mich nur selbst davon überzeugen, Präfekt, denn Ihr seid mir nicht unbekannt.«
Louis horchte gewarnt auf.
»Wir sind uns vor fünf Jahren auf einem der letzten Schlachtfelder gegenübergestanden und es ist mir eine Ehre, Euch heute erneut gegenüberzusitzen. Legat Louis Octavius, Führer der Ersten Legion, Bezwinger der Rebellenbastion und Henker Ars Munais.« Pius hielt seinen bohrenden Blick weiterhin auf Louis gerichtet, während sein Auge zu zucken begann. »Keine Sorge, Präfekt. Ich will keine späte Rache.«
»Was zur Hölle wollt Ihr dann?«
»Informationen über meine verschwundenen Soldaten und mich vergewissern, dass Euer einstiges Feuer erloschen ist – wie bei allen Templern und Legionären, die von der Regentschaft ins Exil geschickt wurden.«
»Aber die verdammte Rebellion ist vorbei. Ihr seid gescheitert.«
»Solange einer von uns am Leben ist, werden wir tun, was in unserer Macht steht, um gegen den Interrex ins Feld zu ziehen«, erwiderte er lauernd. »Subicus Gaius Cäsar mag ein Despot gewesen sein, aber Brutus Maximus ist ein blutrünstiger Tyrann, erwachsen aus einem gnadenlosen Militärapparat, unterstützt von gierigen Politikern, die nur sich selbst wichtig waren und es noch immer sind. Ins Amt gehoben durch eine Bande rückgratloser
Speichellecker, die zu feige waren, ihm Einhalt zu gebieten, als sie die Chance dazu hatten. Seine Regentschaft und seine Existenz müssen beendet werden, bevor er die Restgesellschaft vollständig vernichtet.«
»Dann hört das Kämpfen nie auf?«
»Nicht für uns.«
Louis schnaubte verächtlich. »Euer Kampf wird viel Leid nach sich ziehen. Sie werden die Purgatorien wieder öffnen und Ketzer um Ketzer verbrennen, bis kein Rebell mehr übrig ist, der sich gegen sie stellen könnte.«
»Freiheit gibt es nicht umsonst, Präfekt«, ermahnte Pius ihn. »Ihr Fundament wird meist auf dem Blut der Märtyrer errichtet, die sich den Tyrannen entgegenwerfen. Aber davon scheint Ihr nichts zu verstehen, nicht wahr? Ihr habt Euer privilegiertes Leben in Ankhrom genossen, bis man es Euch genommen hat. Ansonsten habt Ihr nichts, wofür Ihr einstehen wollt. Ihr habt Euch in Euer Schicksal ergeben und wartet auf den Tod. Wie ein verwundetes altes Reh, das keinen Sinn darin sieht, sich weiterzuschleppen.« Pius nahm einen Schluck Wasser. »Ihr habt Euren Lebenssinn verloren, Präfekt. Aber damit befindet Ihr Euch unter Euresgleichen in bester Gesellschaft.«
Louis senkte betreten den Blick.
»Da wir dies nun geklärt haben, wollte ich mich erneut nach meinen verschwundenen Soldaten erkundigen. Falls Ihr etwas über den Vorfall wisst, würde ich mich freuen, wenn Ihr mich an diesem Wissen teilhaben lassen würdet.«
Louis biss die Zähne zusammen, hob den Kopf und starrte seinem Gegenüber direkt in die Augen. »Ich muss Euch leider enttäuschen. Mir ist nichts zu Ohren gekommen. Allerdings sind einige meiner Aufklärer noch auf
Patrouille. Vielleicht kommen sie zurück und erstatten Bericht, bevor Ihr morgen früh abreist.«
»Das ist bedauerlich, Präfekt«, erwiderte Pius und verzog enttäuscht den Mund, bis er sich ein weiteres Stück Trockenfleisch gönnte. »Aber wohl nicht zu ändern.«
»Was habt Ihr vor?«
»Wir werden nach Smallridge fahren und uns umhören. Vielleicht hat einer der Gesetzlosen etwas aufgeschnappt, das uns weiterhilft. Bei der Gelegenheit werden wir auch unsere Filtervorräte auffrischen und vielleicht das ein oder andere Geschäft abschließen.«
Louis starrte ihn verwirrt an. »Warum ausgerechnet jetzt?«
Pius hob fragend eine Augenbraue.
»Nach all den Jahren? Warum habt Ihr Euer Versteck verlassen und Euch auf den Weg hierher gemacht?«
Der Mann strich mit den Fingern abwesend über die Narbe in seinem Gesicht, bevor er sich Louis erneut widmete und ein geheimnisvolles Lächeln aufsetzte.
»Sagt Euch der Name Trochilla
etwas?«
Louis setzte einen verständnislosen Blick auf.
»Dabei handelt es sich um eine Reptilienart, die sich monatelang auf die Lauer nach Beute legen kann. Die Tiere verhalten sich ruhig, fallen nicht weiter auf und warten auf den einen Moment, um ihr Versteck zu verlassen und zuzuschlagen. Sie sind perfekt in ihre Umgebung integriert. Wie ein Grashalm unter Tausenden. Aber wenn es darauf ankommt, sind sie zur Stelle.«
»Dann wollt Ihr damit sagen, dass …«
»So ein Moment gekommen ist, Präfekt. Aber da Ihr weder etwas damit anfangen noch Euch dafür erwärmen könntet, ist es besser, wir belassen es dabei und genießen noch etwas Trockenfleisch, schwelgen in alten
Erinnerungen und trauern Dingen nach, die längst verloren sind.« Er verzog den Mund zu einem Grinsen. »Ich nehme an, das ist mehr in Eurem Sinn, richtig?«
Louis verzichtete auf einen Kommentar und schluckte den aufsteigenden Ärger hinunter. Die Provokationen des Fremden gingen ihm auf die Nerven. Louis hatte einst die erfolgreichste Legion des Imperiums befehligt und den Widerstand der Rebellen am Ende gebrochen. Was bildete sich der Kerl eigentlich ein? Der Krieg war vorbei und der Aufstand niedergeschlagen. Pius und seine Renegaten würden keinen Unterschied machen. Nicht gegen die Regentschaft und deren Legionen, die um die Megaplexe stationiert und bereit waren, jederzeit loszuschlagen. Pius’ Anstrengungen waren bedeutungslos und seine Mühen würde schon bald vergessen sein. So wie Louis’ jahrzehntelanger Einsatz und seine Aufopferungsbereitschaft, die ihn am Ende ins Exil gebracht hatte.
»Vermutlich habt Ihr recht«, stimmte er Pius zu. »Lasst uns noch etwas essen und über alte Zeiten reden.« Er hob seine Feldflasche. »Prosit!«
Pius erwiderte die Geste und trank von seiner eigenen. Danach wischte er sich mit dem Handrücken über den Mund. »Wir stoßen mit destilliertem Wasser an. Wie erbärmlich.« Er seufzte. »Aber das ist besser als nichts, nicht wahr?«
Louis nickte. »Dürfte ich erfahren, wer Ihr wirklich seid?«
Pius begann zu lachen. »Ich bin nur ein Mann, der ein Ziel verfolgt, Präfekt. Nicht mehr und nicht weniger. Wie Ihr bereits festgestellt habt, sind die Zeiten von Ehre, Rängen und Titeln vorbei.«
»Da Ihr mir anscheinend auf dem Schlachtfeld gegenübergestanden habt, wollte ich wissen, wem ich die Ehre
erweise. Dies wäre mir – entgegen Eurer Annahme – wirklich wichtig.«
Pius legte den Kopf schief, bevor er antwortete. »Also gut. Wenn Ihr darauf besteht …«
»Das tue ich.«
»… ich bin Legat Pius Primo, Befehlshaber der dritten Legion, Nestbeschmutzer und erster Überläufer.«
Louis atmete scharf aus. »Ich hätte Euch beim besten Willen nicht wiedererkannt, Legat.«
»Die Zeit macht vor niemandem Halt«, sagte er lächelnd. »Auch nicht vor Euch.«
»Das ist mir mehr als bewusst.« Louis erwiderte sein Lächeln. »Die Gerüchte, Euch hätte die Wüste verschluckt …«
»Wurden von meinen Männern gestreut«, fiel er ihm ins Wort. »Ich musste den Druck der Regentschaft loswerden und hab mich selbst getötet. Zumindest in den Köpfen der Usurpatoren. Es braucht nicht viel, um von der Bildfläche zu verschwinden. Vor allem in einer Welt, die zu siebzig Prozent zerstört ist.«
»Um Jahre später wie der Phönix aus der Asche aufzuerstehen? Um was zu tun?«
»Wenn ich Euch das erzählen würde, müsste ich Euch töten.« Er setzte ein breites Grinsen auf. »Und das will ich nicht, Präfekt. Kommt uns einfach nicht in die Quere und haltet Euch zurück.« Er begann zu lachen. »Macht also einfach, was Ihr immer macht.«
Louis versuchte, in Pius’ Gelächter mit einzustimmen. Aber die Tatsache, dass der Inquisitor im Lazarett für den Tod der Renegaten verantwortlich war und Louis dem Regulator angeboten hatte, diesen zu unterstützen, machte ihm klar, dass er dem Legat vermutlich nicht aus dem Weg gehen konnte. Es würde nur eine Frage der Zeit sein, bis
sie sich wieder gegenüberstehen würden. Nichtsdestotrotz machte er gute Mine zum bösen Spiel und griff erneut in den Kanister mit Trockenfleisch, während draußen der Sturm tobte und dessen Böen über den Außenposten fauchten, als ob die Hölle ausgebrochen war.
Gabrielle blickte aus dem Fenster ihres Quartiers und beobachtete aufmerksam die Gebäude der Mannschaftsquartiere. Der schwache Lichtschein wurde fast vollständig von der aufgewirbelten Asche geschluckt, die der Sturm seit Stunden durch den Außenposten jagte. Louis war noch nicht zurück und Gabrielle machte sich langsam Sorgen um ihn. Er hatte ihr aufgetragen, nach dem Inquisitor zu sehen und ihr verboten, ihre Unterkunft zu verlassen, während sich die Fremden innerhalb der Anlage aufhielten. Auf die Frage, warum er ihnen überhaupt Zutritt verschafft hatte, war er ausgewichen.
Gabrielle fühlte sich nicht gut. Sie musste dem Inquisitor alle zwei Stunden eine Injektion verpassen, aber der Schlafentzug und ihr schlechtes Gefühl machten ihr mehr zu schaffen, als sie sich eingestehen wollte. Sie war unkonzentriert, eckte bei ihrem Weg durch die Anlage öfter an und fühlte sich wie erschlagen. Sie wäre froh gewesen, einen Teil der Arbeit an Ben abzutreten. Aber sie hatte abgelehnt, als Louis ihr den Templer zur Seite hatte stellen wollen, weil sie seit der Ankunft des Inquisitors ein Gedanke verfolgte, mit dem sie sich alleine auseinandersetzen wollte. Ben befand sich vermutlich ebenfalls im Mannschaftsquartier und hielt Louis den Rücken frei. Genau wie die anderen Templer, die unter ihm dienten. Hier draußen achtete jeder auf jeden und die Befehlskette
wurde nicht immer akribisch eingehalten. Aber im Gegensatz zu den Megaplexen gab es in der Einöde nicht den Komfort, auf die verbliebenen Legionen zurückgreifen zu können, wenn es brenzlig wurde. Die Templer hatten nur ihre Kameraden und einer von Louis’ Grundsätzen war, dass er gefährliche Situationen erst gar nicht aufkommen ließ. Ruhe und Besonnenheit gehörten normalerweise zu seinen besten Eigenschaften, die ihn zu einem guten Anführer machten. Aber seit heute Morgen war sie sich dessen nicht mehr sicher. Immerhin hatte er einen verdammten Inquisitor im Außenposten abgeladen. Beim Gedanken an den bewusstlosen Mann lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken, der das schlechte Gefühl befeuerte, das sie im Griff hatte, seit Louis ihm die erste Injektion verabreicht hatte. Und dieses Gefühl würde erst wieder verschwinden, wenn der Kerl fort oder tot war. Gabrielle wäre mit beiden Optionen zufrieden, denn ein Inquisitor konnte nur Unglück und Verderben bringen.
Sie wandte sich ab, gab ihrem Hustenreiz nach und musste sich an Louis’ Schreibtisch abstützen, um wieder zu Atem zu kommen. Danach machte sie sich auf den Weg ins Lazarett, um dem fremden Mann die nächste Injektion zu verabreichen. Dessen verbesserter Körper verarbeitete die Dosis viel schneller als der eines Normalsterblichen, weshalb Gabrielle die kurzen Zeitintervalle zwingend einhalten musste, um ihn im Tiefschlaf halten zu können.
Mittlerweile war es weit nach Mitternacht. Der Sturm tobte noch immer und fegte erbarmungslos über die Aschewüste, die sich in alle vier Himmelsrichtungen erstreckte. Gabrielle machte sich Sorgen um Dex. Er hatte sich bis jetzt nicht gemeldet und musste auf Louis’ Befehl hin eine weitere Nacht im Freien verbringen. Ein Risiko, dass er auch einem seiner Veteranen hätte auferlegen
können. Dex lebte zurückgezogen unter ihnen, redete nicht viel und war immer darauf bedacht, nirgends anzuecken, während er die Templer unterstützte und half, wo er konnte. Er nahm seine Situation nicht als selbstverständlich hin und bemühte sich, etwas zurückzugeben. Gabrielle mochte seine unaufdringliche Art. Abgesehen davon, hielt sie ihn für einen guten Mann – und von denen gab es nicht mehr viel. Hier draußen interessierte niemanden, wie seine Vergangenheit aussah, welche Leichen er im Keller hatte oder auf welcher Seite er im Krieg kämpfte. Jeder der Verdammten hatte sein Bündel zu tragen. Aber hier, im Nirgendwo, zählten nur Taten. Ränge und Titel waren nicht so wichtig wie in den Megaplexen des Interrex. Genau wie angebliche Heldentaten und Orden. Jeder wollte nur irgendwie überleben und alle mussten zusammenarbeiten, um dieses Ziel zu erreichen. Louis war ebenfalls einer von den Guten, aber er konnte sich einfach nicht von seinem alten Leben verabschieden und ergriff jede Chance, zurück in den Megaplex zu gelangen. Er schob es auf Gabrielles Krankheit, aber sie wusste, dass es ihm auch um sich selbst ging. Er konnte nicht damit umgehen, degradiert und abgeschoben worden zu sein, weil er den falschen Leuten zur falschen Zeit im Weg gestanden hatte. Diese Schmach verfolgte ihn noch heute und er würde alles dafür tun, um seinen alten Stand zurückzubekommen. Sein Ehrgeiz machte ihn blind für die Gefahr, der er die anderen Templer des Außenpostens aussetzte. Verdeckt operierende Einheiten des Interrex, ein Inquisitor und eine Gefangene? Dazu ein Regulator, der bis zum Hals in diesen Aktivitäten zu stecken schien und für den jeder Mitwisser ein zusätzliches Risiko darstellte? Zutaten, die zu einer Katastrophe führen konnten. Aber Louis wollte diese Möglichkeit nicht sehen.
Gabrielle blieb also nichts weiter übrig, als ihre Augen offenzuhalten und ihrem Mann den Rücken freizuhalten, während sie gleichzeitig hoffte, dass alles gutgehen würde.
Sie gelangte über die Treppe ins Erdgeschoss, durchquerte den Wohnraum und öffnete eine schmale Stahltür, die zu einem Korridor führte. Sie folgte dem düsteren Gang, bis sie eine weitere Sicherheitstür erreichte, gab den Code ein und betrat den Tunnel zum Lazarett. Im Raum war es dunkel. Gabrielle aktivierte einen kleinen Strahler und warf einen Blick zu dem Bewusstlosen, der regungslos auf der Trage lag. Die Bewegungen seines Brustkorbs waren kaum zu sehen. Sie holte eine weitere Phiole aus der Ablage, stach die Spitze der Injektionsnadel durch den Gummipfropfen und zog die Spritze auf. Der Vorrat an Narkotika ging schnell zur Neige. Sie würde den Mann vielleicht noch zwölf Stunden ruhigstellen können. Danach waren die Vorräte erschöpft und die Besatzung des Außenpostens dem Willen eines Hardliners ausgeliefert. Gabrielle wollte diese Aussicht nicht gefallen und es dauerte nicht lange, bis der nagende Gedanke, der sie verfolgte, seit Louis den Inquisitor hier abgeladen hatte, wieder in ihr Bewusstsein drängte. Sie begann auf ihrer Unterlippe zu kauen und überschlug, welche Menge des Narkotikums sie dem Kerl wohl verabreichen musste, um ihn für immer schlafen zu lassen. Sie würde Louis damit in den Rücken fallen, aber die Gefahr wäre beseitigt. Für alle. Gott! Sie begann auf der Stelle zu treten, während ihr Blick über die Phiolen wanderte und am Ende wieder auf dem Mann haften blieb, der die uneingeschränkte Gewalt der Regentschaft im Rücken hatte. Louis, Gabrielle und die Templer waren nichts im Gegensatz zu dem Inquisitor. Ob sie lebten oder starben, interessierte in Ankhrom niemanden.
Weshalb es an der Zeit war, eine Entscheidung zu treffen.
Gabrielle musste sich auf der Ablage abstützen, um den Anflug von Schwindel vorüberziehenzulassen. Kurz darauf holte sie die verbleibenden Phiolen aus dem Behälter, wechselte den Infusionsbeutel aus und reihte die Narkotika neben sich auf. Sie würde nicht lange brauchen. Louis würde toben, aber am Ende ihre Beweggründe nachvollziehen können. Sie verdrängte den Gedanken, stach die Nadel durch die Außenwand des Beutels und wollte abdrücken, als sie von einem schweren Hustenanfall heimgesucht wurde. Sie krümmte sich zusammen und musste sich auf der Trage abstützen, während sie röchelnd nach Atem rang und die Umgebung vor ihren Augen verschwamm.
Nicht jetzt! Bitte nicht jetzt!
Gabrielle hatte Mühe, das Gleichgewicht zu halten. Eine Sekunde später begann sich der Raum zu drehen. Sie verlor den Halt, stürzte zur Seite und schlug mit dem Kopf gegen den Haltegriff der Trage. Danach fiel sie auf die kalten Fliesen des Bodens und spürte einen weiteren dumpfen Schlag an der Stirn, der sie schließlich mit sich in die erlösende Dunkelheit riss.
Dex saß regungslos in der Nische, während die Motorräder langsam näherkamen. Die Asche stand ihm mittlerweile bis zum Hals, weil der Sturm seit Stunden tobte und die unzähligen Blitze gewaltige Löcher aus dem geschundenen Boden gerissen hatten. Die Energieentladungen befreiten die in der vergifteten Erde gebundenen Chemikalien und sorgten für Lichtspiele, die im schweren Säureregen das
gesamte Farbspektrum abdeckten. Die Einschläge ließen die Erde erzittern und rissen Fontänen aus Dreck und chemisch verseuchter Asche in die Höhe, die einen Augenblick später wie giftiger Nebel zurücksanken und Dex Zentimeter für Zentimeter unter sich begruben. Er hatte versucht, zu schlafen, aber die Vibrationen der heftigen Blitzschläge machten es unmöglich, auch nur ansatzweise zur Ruhe zu kommen, weshalb er irgendwann aufgegeben und seine Gedanken um die Frau im Transporter hatte kreisen lassen. Seitdem saß er an der Wand und starrte müde auf den Wagen, dessen Oberfläche im Schein der Blitze verräterisch schimmerte.
Der Sturm machte ihm nichts aus, denn es war nicht die erste Nacht, die er unter widrigsten Voraussetzungen in der Wüste verbringen musste. Mehr Sorgen bereitete ihm die Frau im Transporter, da er nicht wusste, ob der Wagen ein Filtersystem besaß und ob dieses aktiviert war. Die Solarplatten am Dach ließen diesen Schluss zu, aber sicher war er sich dessen nicht. Was, wenn sie jämmerlich ersticken würde? Louis wäre nicht begeistert. Auch wenn er Dex verboten hatte, sich der Gefangenen zu nähern, tot würde sie ihm nichts nützen. Dreck!
Er warf einen Blick zum wolkenverhangenen Himmel. Der Aschesturm würde erst in ein paar Stunden abnehmen. Er schien seinen Höhepunkt mittlerweile erreicht zu haben, was bedeutete, dass sich Dex bald in dessen Auge befinden würde. Spätestens dann wollte er einen Blick riskieren und sich davon überzeugen, dass die Frau noch lebte. Auch wenn Louis ihm dies verboten hatte.
Als die Böen rapide abnahmen und eine erdrückende Stille einsetzte, wollte er sich erheben, aber das Heulen aggressiver Motoren ließ ihn in der Bewegung erstarren. Kurz darauf zerrissen Scheinwerfer die Dunkelheit und
fünf Geländemaschinen preschten in die Senke, die sie direkt zu ihm führen würde. Nicht mal Scragger waren so wahnsinnig und gingen das Risiko ein, bei einem Sturm mit Motorrädern durch die Aschewüste zu fahren. Blieb die Frage, was die Unbekannten hier verloren hatten und welcher Fraktion sie angehörten. Dex ließ sich vorsichtig zurücksinken und beobachtete, wie die Fahrer neben einem der Gebäude hielten und abstiegen. Sie trugen behelmte Gasmasken mit integrierten Nachtsichtgeräten, Ponchos und Handschuhe, die sie vor den austretenden Giftstoffen schützten. Außerdem Einsatzanzüge und schwere Stiefel. Ein Symbol oder ein Abzeichen, das sie einem der unzähligen Clans zuordnete, konnte er nicht entdecken. Kurz darauf erklangen die zerhackten Geräusche ihres militärischen Kommunikationssystems. Sie gingen diszipliniert und vorsichtig vor, suchten die Gegend mit vorgehaltenen Waffen ab und hielten sich vorwiegend in den Schatten des Purgatoriums auf. Nach einigen Minuten waren sie von der Bildfläche verschwunden. Vermutlich durchsuchten sie die Gebäude der Anlage, so wie Dex ein paar Stunden zuvor. Hin und wieder hörte er knirschende Schritte, Funkfeuer und dumpfe Geräusche, die seine Annahme bestätigten. Er selbst blieb derweilen regungslos sitzen und hoffte, dass die Männer das Tarnnetz und den Transporter nicht entdecken würden. Immerhin war es stockdunkel und solange kein weiterer Blitz einschlagen würde, standen die Chancen gut, den Wagen zu übersehen. Auf der anderen Seite würde das Auge bald über das Purgatorium hinweggezogen sein und der Sturm mit voller Wucht wieder einsetzen.
Dex blieb sitzen, bis er über sich Geräusche vernahm und den Atem anhielt. Einer der Kerle musste am Rand des Dachs stehen. Vermutlich ziemlich genau an der Stelle,
wo Dex das Tarnnetz und den Transporter erst vor wenigen Stunden selbst entdeckt hatte. Einige Sekunden später glitt ein spezieller Infrarotstrahl über die Seitenwand des Wagens, die den Strahl in Form von glitzernden Punkten, die winzigen Funken ähnelten, reflektierte. Dex bewegte fluchend die Finger, um die Taubheit loszuwerden, und legte sie anschließend um den Griff der Shotgun und deren abgesägtes Ende. Er versuchte seit Jahren, jeder Auseinandersetzung möglichst aus dem Weg zu gehen und war etwas eingerostet. Außerdem hatte er nur die alte Waffe und seine Klinge. Die Maschinenpistole lag versteckt in der Nähe seiner Maschine und war damit außer Reichweite. Ein weiterer Nachteil, den er würde kompensieren müssen. Wenn er sich ruhig verhielt, würden die Kerle ihn vielleicht nicht bemerken und mit dem Transporter abziehen. Louis würde toben aber das war Dex egal. Er mochte dem Templer viel schulden, aber sicher nicht sein Leben. Auf der anderen Seite wollte er die Frau nicht diesen Halsabschneidern überlassen. Die Vorstellung, sie könnte vergewaltigt und ermordet werden, weckte sein altes Ehrgefühl, das er lange vergessen geglaubt und zusammen mit den Erinnerungen an den Krieg am Grund seines Bewusstseins vergraben hatte. Aber die Vergangenheit ließ sich nicht auf ewig verdrängen. Nicht mehr.
Dex registrierte aus den Augenwinkeln, wie sich drei dunkle Silhouetten dem Transporter näherten. Einer der Männer musste sich nach wie vor über ihm befinden. Wo der fünfte abgeblieben war, wusste er nicht. Bevor die beiden Schemen an der Spitze den Wagen erreichten, drehte sich der Dritte um und ließ seinen Blick über die Gebäude schweifen, zwischen denen Dex von Asche begraben saß. Einen Augenblick später aktivierte der
Mann den Infrarotstrahl seiner Maschinenpistole und blieb gewarnt stehen. Dex’ Maske musste den Strahl reflektiert haben!
Der Kerl hielt den Lauf der Waffe auf seine Position gerichtet, während er sich vorsichtig näherte. Da die Reichweite der Shotgun deutlich begrenzt war, blieb ihm nichts anderes übrig, als regungslos sitzen zu bleiben und zu hoffen, dass ihn der Mann nicht zu früh entdeckte. Seine Kameraden hatten den Transporter fast erreicht. Plötzlich nahm der Wind wieder zu. Kurz darauf zerriss ein greller Blitz die Dunkelheit und Dex drückte den Abzug. Der Knall der Waffe wurde vom Donner geschluckt, der Mann buchstäblich enthauptet. Dex verlor keine Zeit, ließ sich auf den Rücken sinken und starrte angestrengt nach oben. Als er den durch ein Fernglas starrenden Kerl über ihm entdeckt hatte, legte er an und drückte ab. Der Schuss zerfetzte die alte Dachrinne und ließ den Feldstecher in den Händen des Mannes zersplittern. Eine Sekunde später sackte er in einer Wolke aus Blut nach vorne und schlug neben Dex auf, der im letzten Moment zur Seite wich. Er vergewisserte sich, dass sein Gegner tot war, und nutzte dessen Körper als Deckung. Die Männer beim Transporter schienen dank des heulenden Sturms und der Donnerschläge nichts von der Auseinandersetzung mitbekommen zu haben. Sie lugten in die Fahrerkabine, betätigten die verschlossenen Türgriffe und gingen zum Heck. Dex durchsuchte derweilen den Toten und fand drei Granaten in dessen Koppel. Als er ihm das Scharfschützengewehr abnahm, entdeckte er eine Tätowierung unter dem aufgerissenen Ärmel, die ihm bekannt vorkam. Er vergrößerte die Öffnung, wischte das Blut weg und erstarrte, als ihn ein Schädel angrinste, der sich vor einem eisernen Kreuz befand. Darunter stand der
Name einer berüchtigten Zenturie: Angeli Caduci, Gefallene Engel. Eine Eliteeinheit der Templer!
Wenn die Bastarde von den Koordinaten des Inquisitors wussten, wussten sie vielleicht auch, wo dieser sich aufhielt. Vielleicht trug er eine Wanze, die Louis übersehen hatten. Oder die Regentschaft hatte ihm eine implantiert, als sie seinen Körper verstärkten ließ. Welcher Fall auch immer zutraf, Louis war dabei, sich selbst und alle anderen Menschen im Außenposten in große Schwierigkeiten zu bringen. Schwierigkeiten, die sie vielleicht nicht überleben würden. Als er aus den Augenwinkeln registrierte, wie sich die Männer am Heck des Transporters zu schaffen machten, legte er sich hinter den Toten und nutzte dessen Körper als Auflage für das Gewehr. Danach nahm er einen der Männer ins Visier, hielt den Atem an und drückte ab. Der Kerl wurde mit voller Wucht gegen den Wagen geschleudert und hinterließ einen gewaltigen Blutfleck auf der Heckklappe. Sein Kamerad wandte sich überrascht um, feuerte blind in Dex’ Richtung und lief um sein Leben. Dex passte sich seinen Bewegungen an, hielt vor und drückte erneut ab. Kurz darauf wurde der Mann von einer Wolke aus Blut eingehüllt und von den Beinen gerissen. Dex schulterte das Scharfschützengewehr, lud die Shotgun nach und machte sich auf den Weg zum Transporter. Vom letzten Templer war nichts zu sehen. Der Sturm zerrte an seiner Kleidung, wirbelte ihm Asche ins Gesicht und erschwerte ihm die Sicht, bis er den Wagen erreichte und die Heckklappe überprüfte. Die Männer hatten das Schloss bereits geknackt. Dex ließ sich neben einem Reifen aufs Knie fallen und sah sie aufmerksam um. Als er einen undeutlichen Schatten links von sich ausmachte, begannen die metallischen Teile seiner Ausrüstung rötlich zu funkeln.
Dex ließ sich ansatzlos auf den Boden fallen und hörte, wie eine Salve über ihm in die Seitenwand des Transporters schlug. Er kroch unter den Wagen, wartete einen zweiten Feuerstoß ab und vernahm, wie im Laderaum jemand dumpf zu Boden ging. Danach hielt er den Atem an, bis sich der Schatten langsam näherte. Dex konnte nur dessen Beine sehen. Er kroch vorsichtig zur anderen Seite des Transporters, ging in die Hocke und aktivierte eine Granate, während er seinen Gegner im Auge behielt. Er wartete den richtigen Moment ab und schleuderte den Sprengkörper weit über den Wagen in den Rücken des Templers. Die Detonation folgte drei Sekunden später. Dex lief mit vorgehaltener Shotgun um den Transporter und schoss dem benommenen Mann zweimal in die Brust. Er wurde nach hinten gerissen, ließ die zerstörte Maschinenpistole fallen und rappelte sich grunzend auf, um eine Klinge aus einer Scheide am Rücken zu ziehen. Die kugelsichere Weste, die er verdeckt unter dem Poncho getragen hatte, hatte ihm das Leben gerettet. Dex tat es ihm gleich und zog das kurze Schwert vor seinem Körper durch die Luft, um wieder ein Gefühl für die Waffe zu bekommen, die er seit Jahren nicht hatte ziehen müssen. Die Klinge – ein Geschenk Louis’ – war perfekt austariert und lag nach wie vor gut in seiner Hand. Blieb die Frage, ob er sie noch angemessen führen konnte.
Der Templer hob das Schwert über den Kopf, täuschte einen Hieb zu Dex’ Hals an und zog es im letzten Moment nach unten, um sein Knie anzugreifen. Die Spitze kratzte über seinen Knieschützer und sorgte für einen stumpfen Schmerz, der ihn fluchen ließ. Er taumelte zur Seite, parierte einen Stich zum Hals und blockte einen Schlag, der seinen Unterleib aufreißen sollte. Der Templer schien sich mit jedem Angriff von den Folgen der Detonation und
Dex’ Treffern zu erholen, erhöhte die Intensität seiner Attacken und trieb ihn erbarmungslos vor sich her. Gleichzeitig schlugen Blitze um sie herum ein, die die Asche hoch in den dunklen Himmel schleuderten und die Erde erzittern ließen. Dex fühlte sich an unzählige Schlachten im Krieg erinnert, wo er unter schwerem Artilleriefeuer Schützengräben gestürmt, Wälle überwunden und feindliche Bunker ausgeräuchert hatte. Mit den blutigen Bildern kehrte sein Überlebenswille zurück, der auf einer einzigen simplen Regel basierte: Töte oder werde getötet.
Dex wartete eine Lücke in der Deckung des Templers ab, unterbrach dessen Folgeangriff und trat ihm vor die Brust. Der Tritt ließ den Mann zurücktaumeln. Dex setzte nach, parierte eine Attacke zum Kopf und zog seinem Gegner die Klinge im Vorbeigehen über die Flanke. Das austretende Blut durchnässte dessen Einsatzanzug, während er erneut angriff und Dex’ Filtereinheit spaltete, die unten an der Gasmaske angebracht war. Dex konnte die Asche und die giftigen Gerüche sofort wahrnehmen. Er hielt den Atem an, blockte einen Hieb zum Handgelenk und revanchierte sich mit einem Stich zur Innenseite des Oberschenkels seines Gegners, der dessen Arterie aufriss. Aber der verdammte Elitekrieger gab einfach nicht auf, startete eine weitere Serie und begann irgendwann benommen zu wanken, bis er auf die Knie sackte und vornüber in die Asche fiel. Dex würdigte ihn keines Blickes, wandte sich um und lief zum Transporter. Die unmittelbare Umgebung begann aufgrund des Sauerstoffmangels bereits vor seinen Augen zu verschwimmen, als er dessen Heckklappe aufriss, und sich ins Innere rettete.