Kapitel Sechs
Louis saß auf dem Boden der Zelle und starrte abwesend auf die ausgebreiteten Sachen vor ihm. Militärische Einweginjektionen, die eine blutrote Lösung enthielten, ein altes mobiles Kommunikationsgerät, die Klinge eines hochrangigen Offiziers, eine aufwendig gearbeitete Handfeuerwaffe, ein Holster, ein hochwertiger Einsatzanzug und ein dazu passender Kampfpanzer, der mehr als eine Schramme abbekommen hatte. Außerdem ein gut ausgestattetes Medkit, robuste Stiefel und drei Orden, ausgestellt von den Senatoren des alten Kaisers. Die Sachen waren buchstäblich mit Symbolen Subicus Gaius Cäsars übersät. Jedes einzelne davon stellte einen Grund dar, Dex auf der Stelle hinzurichten. Wenn Varro herausbekam, dass Louis einem potentiellen Rebellen Unterschlupf gewährt hatte, würde er zusammen mit ihm brennen. Aber schlimmer war, dass Dex anscheinend kein einfacher Legionär war. Er konnte Louis große Probleme bereiten. Probleme, die auch vor Gabrielle und seinen Templern nicht haltmachen würden. Die Frage war, wie Louis seinen Kopf aus dieser misslichen Lage bringen konnte, ohne den Inquisitor auf Dex’ Vergangenheit aufmerksam zu machen?
»Was hast du getan?«
Gabbys Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Sie sah schlecht aus, hatte eine Decke um die Schultern gewickelt und schien zu frieren.
»Gar nichts. Ich wollte nur wissen, mit wem ich es zu tun hab. Das ist alles.«
»Du hast eure Abmachung gebrochen, Lou.« Sie sah ihn vorwurfsvoll an. »Er hat nichts Schlechtes getan.«
»Das weißt du nicht …«
»Ich rede von seiner Zeit bei uns!« Sie funkelte ihn wütend an, während ihre Nase zu bluten begann. »Seine Vergangenheit interessiert mich nicht.«
Louis erhob sich, zog ein Tuch aus einer Tasche seiner Uniform und tupfte den dunkelroten Faden von ihren bebenden Lippen.
»Ich respektiere Dex«, begann er vorsichtig, »aber es ist im Moment sicher nicht meine Priorität, ihn aus der Schusslinie zu bekommen, okay? Mir geht es um dich. Um deine Gesundheit. Dein Leben.«
»Nicht nur«, wandte sie ein.
»Natürlich wünsche ich mir, dieses Leben hinter uns zu lassen. Aber in erster Linie geht es darum, dir eine anständige Therapie zu verschaffen.« Er versuchte, Gabrielle entschlossen anzusehen, aber seine Angst, sie zu verlieren, konnte er nicht vor ihr verheimlichen. »Ich will nicht ohne dich …«
Sie legte ihm einen Finger über die Lippen und schmiegte sich an ihn. »Noch ist es nicht so weit. Und selbst wenn«, sie sah ihn mahnend an, »darfst du nicht aufgeben, okay? Gib nicht auf.«
Louis hatte Mühe, die Tränen zurückzuhalten. Er nickte, strich ihr sanft über den Rücken und stützte sie, während sie ihren glänzenden Blick über die Sachen am Boden schweifen ließ.
»Er ist ein Offizier?«
»Sieht so aus«, erwiderte Louis. »Ein Hochrangiger. Normale Templeroffiziere werden nicht mit Orden des Kaisers oder dieser Art von Ausrüstung bedacht. Sieh dir den Kampfpanzer und die Klinge an. Er scheint beides ausgiebig benutzt zu haben.«
»Das geht uns nichts an. Wir haben kein Recht, seine Sachen zu durchsuchen.«
Louis bedachte sie mit einem skeptischen Blick. »Wenn der Inquisitor herausfindet, dass Dex …«
»Das wird er nicht«, hielt Gabrielle stur dagegen. »Sieh zu, dass du Varro so schnell wie möglich loswirst. Vielleicht lässt er uns unser Leben in Ruhe zu Ende führen.«
»Dazu ist es zu spät«, erwiderte er kleinlaut. »Es gibt kein Zurück. Ich werde alles tun, um dich in eine Klinik der Regentschaft zu bekommen, hörst du? Und ich bin bereit, jeden Preis dafür zu bezahlen.«
Gabrielles Ausdruck verdunkelte sich und ihre Augen begannen zu glänzen. »Bitte gib ihn nicht auf. Nicht für mich.«
»Warum ist er dir so wichtig? Wir schulden ihm nichts.«
»Er hat sich immer korrekt verhalten«, erwiderte sie. »Ich will ihn nicht verraten. Der Krieg hat genug Opfer gefordert. Ich will, dass das endlich aufhört, verstehst du? Ich könnte nicht damit leben.«
Louis wusste nicht, was er darauf sagen sollte, nahm sie stattdessen in den Arm und führte sie aus dem heruntergekommenen Quartier. Nachdem er abgeschlossen hatte, brachte er sie zurück in ihre gemeinsame Unterkunft und legte sich zu ihr ins Bett, bis sie eingeschlafen war. Die Müdigkeit machte sich langsam bemerkbar und erinnerte ihn daran, dass er nicht mehr der Jüngste war. Louis würde den verlorengegangenen Schlaf letzter Nacht nachholen müssen. Aber die vorangegangenen Ereignisse ließen ihm einfach keine Ruhe und zwangen ihn bereits nach wenigen Minuten von der weichen Matratze. Danach machte er seinen täglichen Kontrollgang durch den Außenposten, erkundigte sich über das Wohlbefinden seiner Männer, die Fortschritte diverser Aufträge und suchte Baldwin auf, der ihm versicherte, dass die Sprengung glücklicherweise keine wichtigen Systeme beeinträchtigt und er die entstandenen Schäden zum größten Teil bereits repariert hatte. Anschließend verließ er den Außenposten und suchte den unscheinbaren Friedhof auf, der zur Anlage gehörte und durch einen verdorrten Baum markiert wurde. Louis liebte dieses alte trotzige Ding. Stand es doch für alles, was ihm wichtig war: Hartnäckigkeit, Konsistenz und Widerstandsfähigkeit. Die Werte der Alten Ordnung, die sein Leben nach wie vor bestimmten, auch wenn sich alles andere verändert hatte. Der haushohe Baum trotzte den lebenswidrigen Bedingungen der Aschewüste seit einer Ewigkeit und war der einzige Vertreter seiner Art in dieser öden Gegend. Und wenn er auch vertrocknet, vergiftet und halbtot war, so schaffte er es doch, von Zeit zu Zeit ein grünes Blatt wachsen zu lassen, das Louis Hoffnung gab und sein Durchhaltevermögen bestärkte. Er hing hier gerne seinen Gedanken nach, überdachte schwerwiegende Entscheidungen und genoss die Stille seiner toten Kameraden.
Nachdem er sich etwas beruhigt hatte, stand er auf, schenkte dem Baum einen Schluck aus seiner Wasserflasche und ging zurück. Als er am verschlossenen Schott des Kontrollbunkers vorüberschritt, blieb er nachdenklich stehen. Der Inquisitor musste mittlerweile Kontakt zu seinen Vorgesetzten aufgenommen haben. Vielleicht gab es bereits eine Entscheidung bezüglich Louis’ Anliegen. Gleichzeitig zermarterte er sich den Kopf über Dex und ob er das Geheimnis um den Mann, der ihm fünf Jahre lang loyal gedient hatte, in einen Vorteil für sich selbst verwandeln konnte. Allein der Gedanke schien seinem schlechten Gewissen nicht zu gefallen, das ihm sofort klarmachte, dass ein Mann von Ehre diese Grenze besser nicht überschreiten sollte. Aber die ehrenvollen Zeiten waren lange vorbei und heute stand das eigene Überleben im Vordergrund, egal, wie sein Gewissen oder Gabrielle das auch sehen mochten. Louis wusste noch nicht, wie er Dex’ Geheimnis für sich nutzen konnte, aber er war bereit, eine Chance diesbezüglich zu ergreifen, sobald sich ihm diese bieten würde. Da er keine Zeit hatte, darauf zu warten, beschloss er, das Ganze etwas anzutreiben.
Als er zum Schott ging, stellte er überrascht fest, dass es nicht verschlossen war. Die Stimme des Inquisitors drang dumpf bis zu Louis Position und er kam nicht umhin, einen Teil des Gesprächs mitzuhören.
»… mein Centurio reagiert nicht auf meine Kontaktversuche, Regulator«, knurrte Varro gereizt, »es ist mir im Moment nicht möglich, seine Position zu bestimmen. Die Gefangene wird von einem Söldner bewacht, der auf der Gehaltsliste des Präfekten steht.« Er hielt kurz inne, um die Person am anderen Ende der Verbindung die Chance zu geben, etwas zu erwidern. »Natürlich ist mir das Risiko bewusst. Aber ohne Verstärkung sind mir die Hände gebunden.« Er atmete wütend aus. »Das Wort des Interrex scheint in dieser gottverlassenen Einöde nicht das Gewicht zu haben, das es haben sollte.« Victrix schien ni cht begeistert zu sein. »Was hat das mit Ketzerei zu tun? Die Moral unserer Truppen in den Randgebieten ist außerordentlich schwach. Aber sobald meine Templer hier eingetroffen sind, wird alles wie geplant seinen Weg gehen. Ich werde dafür sorgen, dass alle potenziellen Spuren verschwinden. Wie lange werden die Verstärkungen benötigen?« Varro biss die Zähne zusammen, nachdem er die Antwort seines Vorgesetzten erhalten hatte. »Verstanden. Vale, Regulator.«
Varro trennte die Verbindung und ließ eine neue aufbauen. Nach einigen Versuchen gab er auf und trat fluchend gegen eine Ablage.
Louis wartete einen Moment und atmete tief durch. Laut Varro würde es hier bald vor linientreuen Templern wimmeln. Louis lief die Zeit davon. In Anbetracht der zu erwartenden Übermacht hatte er sich entschlossen, die Sache mit Dex vorerst ruhen zu lassen. Wer wusste schon, ob er ihn nicht als Verbündeten gegen den Inquisitor brauchen würde. Trotzdem würde er die Option, Dex’ Geheimnis vielleicht zu seinem Vorteil zu nutzen, nicht ad acta legen. Die Lage konnte sich in der angespannten Situation jederzeit ändern, weshalb es wichtig war, weiterhin flexibel zu bleiben. Auch wenn Gabrielle das nicht gefallen mochte.
Louis straffte die Schultern und betrat den Kontrollbunker.
»Präfekt …« Varro wirkte noch immer wütend.
»Gibt es ein Problem?«
»Keines, das Euch etwas anginge.«
Louis verzichtete darauf, nachzuhaken, baute sich vor Varro auf und sah ihn direkt an. »Gibt es Neuigkeiten aus Ankhrom?«
»Euer anliegen betreffend? «
Louis nickte.
»Die Mühlen in den Megaplexen mahlen langsam, Präfekt. Und sie sind seit Ende des Krieges nicht schneller geworden.«
»Wann rechnet Ihr mit einer Antwort?«
»Wenn es eine gibt«, erwiderte er gereizt.
»Wann denkt Ihr …«
»Genug! Wir haben weiß Gott andere Probleme als das Nest für Euren Ruhestand vorzubereiten!« Varros Gesicht hatte sich in eine wuterfüllte Fratze verwandelt. »Lucius wird vermisst und ich kann ihn von diesem Rattenloch aus nicht lokalisieren!«
Louis blieb ruhig und hob fragend eine Augenbraue.
»Mein Centurio«, erwiderte Varro wie jemand, den man bei etwas Verbotenem ertappt hatte. »Lucius Mallus.«
»Wo liegt seine letzte bekannte Position?«
»In der Nähe der Koordinaten, die Ihr mir gestohlen habt.«
»Die Verbrennungsstätte?«
»Korrekt.«
»Das Purgatorium befindet sich in einer Senke«, erklärte Louis ruhig. »Das erschwert den Verbindungsaufbau. Bei Aschestürmen ist eine Kommunikation allerdings unmöglich. Vielleicht werden die Frequenzen noch von den Nachwehen des Sturms beeinträchtigt.«
Varro schien sich etwas zu beruhigen. »Vielleicht. Denkt Ihr, ein Mann kann unter diesen Umständen auf sich alleine gestellt überleben?«
»Mit einer Gasmaske und ausreichend Filtern durchaus. Noch ist er nicht verloren.«
»Ich werde Eure Unterstützung nicht vergessen, Präfekt.«
»Das hoffe ich … «
Jetzt war es der Inquisitor, der eine Braue hob.
»… es ist kein Geheimnis, dass Versprechen aus den Megaplexen oft nichts als Schall und Rauch sind.«
»Ich werde dafür sorgen, dass Ihr Eure Dokumente bekommt. Aber bis es so weit ist, werdet Ihr Euch um meine Probleme kümmern.«
»Natürlich«, gab Louis nach. »Wann werden Eure Verstärkungen eintreffen?«
Varro bedachte ihn mit einem skeptischen Blick, bevor Louis sich erklärte.
»Meine Templer müssen die Quartiere vorbereiten.«
»Macht Euch deswegen keine Gedanken. Meine Männer sind nicht aus Zucker.«
»Eure Entscheidung. Ich wollte nur helfen.«
Varro ging zum Schott. »Ich werde mich kurz frisch machen. Bleibt derweilen hier und benachrichtigt mich, sobald es Neuigkeiten gibt.«
Louis schluckte den widerspenstigen Kommentar, der ihm auf der Zunge gelegen hatte, herunter, und setzte sich auf den Stuhl vor der Anlage. Der verdammte Inquisitor kostete ihn einiges an Nerven. Der Mann riss sich zusammen, aber hin und wieder offenbarte seine Art zu reden, seine verächtlichen Blicke und seine überhebliche Art, was er wirklich von Louis und seinen Getreuen hielt. In einem anderen Leben hätte Louis ihn dafür bluten lassen. Aber in der aktuellen Situation war er froh, wenn er und Gabby mit einem blauen Auge davonkommen würden.
Nach einigen Minuten wanderte sein müder Blick über die Kommunikationsanlage. Varro hatte vergessen, den letzten Verbindungsversuch zu löschen. Während Louis auf die leuchtenden Frequenzdaten starrte, kreisten seine Gedanken um Gabrielle, Dex und die Gefangene in der Wüste. Darüber, ob er sein Ziel erreichen würde oder ob er ein Spiel angefangen hatte, das er nicht gewinnen konnte. Irgendwann lehnte er sich blinzelnd nach vorne und aktivierte die ruhende Verbindung aus einer Laune heraus, die er nicht einordnen konnte. Die Anlage startete einen neuen Kontaktversuch, der kurz darauf bestätigte wurde. Louis stieg es heiß auf. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sein Versuch entgegengenommen werden könnte. Er wusste ja nicht mal, warum er die Verbindung überhaupt hatte aufbauen lassen.
»Hier spricht Louis Octavius, Präfekt des vierundvierzigsten Außenpostens der heiligen Regentschaft. Nennt Euren namen und Euren Rang.«
Stille.
Louis konnte leise Atemgeräusche hören.
»Identifiziert Euch!«
Als er einen Augenblick später Dex’ Stimme vernahm, hatte er das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren und ihm wurde klar, dass die Chancen, unbeschadet aus der Sache herauszukommen, soeben drastisch gesunken waren.
Dex stand inmitten der toten Templer. Sein Körper bebte und seine Sinne überschlugen sich förmlich aufgrund des Adrenalins in seinen Adern. Ein Zustand, der ihn an den Krieg und dessen unzählige Schlachten erinnerte, die er im Namen der Freiheit geschlagen hatte. Das Blut des halb gespaltenen Templers tropfte von der besudelten Klinge auf den Boden und versickerte in der knisternden Asche, die es wie ein Schwamm aufzusaugen schien und gar nicht genug davon bekommen konnte. Dex stand wie paralysiert da und hoffte, dass ihn jemand aufwecken würde. Seine Gedanken wollten sich einfach nicht ordnen und überschlugen sich wie Gummibälle, die gegeneinanderprallten und nicht zur Ruhe kamen. Er hatte alles zerstört, was ihm wichtig war. Louis würde ihn aus dem Außenposten jagen – wenn er ihn nicht vorher erschießen würde. Dex hatte sein Vertrauen verspielt und ihn in eine wirklich missliche Lage gebracht, die Louis, seinen Templern und Gabrielle das Leben kosten konnte. Was hatte er sich nur dabei gedacht? Im Grunde nicht viel, musste er sich einen Augenblick später eingestehen. Er hatte instinktiv gehandelt und war seinem Herzen gefolgt, dass den Anblick der auf Ylvi einprügelnden Männer nicht hatte ertragen können. In diesem dunklen Moment war alles andere unwichtig gewesen. Louis’, Gabbys und Dex’ eigenes Leben standen nicht zur Debatte. Stattdessen hatte ihn sein Gewissen dazu gedrängt, die kleine Wölfin zu retten. Und das hatte er getan. Nichtsdestotrotz fühlte er sich wegen der drohenden Konsequenzen schlecht.
Ilvy lag vor dem Transporter auf dem Boden. Sie atmete schwer. Ihr Körper war mit Blutergüssen und Prellungen übersät. Dex ging zu ihr, ließ sich vorsichtig auf die Knie sinken und begann sie nach ernsten Verletzungen abzusuchen. Nachdem er keine finden konnte, atmete er erleichtert auf und sah sich den Celron an. Dessen Display war gesperrt und mit einem zufälligen, vom System des Folterinstruments generierten Code gesichert worden. Die sechs künstlichen Arme hatten sich um Ilvys Körper geschlungen und sich an ihrem Rücken miteinander verbunden. Sie hatten sich zusammengezogen und ließen ihr gerade genug Luft, um nicht zu ersticken. Dex verfluchte die Inquisition und wandte sich wieder an die Frau, die zitternd die Hand nach ihm ausstreckte.
»N… Name? «
»Dex.«
Sie verzog den Mund zu einem schüchternen Lächeln. »Danke …«
Dex verzichtete auf einen Kommentar, hielt ihre Hand davon ab, zurückzusinken, und säuberte ihre zitternden Finger von der Asche. Er würde den Celron nicht ohne Hilfe von ihrem Körper bekommen. Louis hätte den entsprechenden Code besorgen und das Gerät deaktivieren können, aber Dex befürchtete, dass der Präfekt ihn und Ilvy für seinen eigenen Vorteil aufgeben würde. Und das war ein Risiko, dass er nicht eingehen konnte. Ansonsten blieb nur noch die Möglichkeit, einen der Cryptotechniker in Smallridge aufzusuchen. Viele davon hatten früher in der Legion gedient und waren mit den Celrons und deren zugrundeliegender Technik vertraut. Allerdings würde es Louis nicht allzu viel Mühe machen, auf denselben Gedanken zu kommen, falls Varro das Folterinstrument erwähnte. Blieben Temburin, Cornwall oder die Fallouts, in denen sich wirklich nur der allerletzte Abschaum aufhielt. Nicht die beste Lösung. Aber mit irgendeiner würde er aufwarten müssen, wenn er Ilvy helfen wollte.
Sie fixierte ihn nach wie vor, bis er ihre Hand zurücklegte und ihr eine Strähne aus der Stirn strich, was sie mit einem müden Lächeln quittierte. Seitdem Dex den Lösungsemitter entfernt hatte, schien es ihr von Stunde zu Stunde besser zu gehen und es würde nicht mehr lange dauern, bis sie unbeeinträchtigt mit ihm reden konnte. Ein gutes Zeichen. Dex gefiel der Gedanke, jemandem geholfen zu haben. Er erfüllte ihn und gab ihm das Gefühl, seit langem etwas Sinnvolles getan zu haben. Die Arbeit im Außenposten beschränkte sich in der Regel auf Tätigkeiten, die für niemanden einen großen Unterschied machten. Anlagen warten, Berichte schreiben, Vorräte überprüfen, Munition zählen oder auf Patrouille gehen. Wobei er mit Letzterem am wenigsten Probleme hatte, weil er sich in der Wüste nicht verstellen musste und seine Ruhe hatte. Louis würde das anders sehen, aber Dex fühlte sich mittlerweile wie ein lebender Toter. Allerdings schien es damit nun vorbei zu sein und sein gewohntes Leben war dahin, eingeholt von seiner Vergangenheit, der er so lange aus dem Weg gegangen war. Er wollte nur noch dafür sorgen, dass Ilvy den Celron loswurde. Danach würde er verschwinden und sich in irgendeinem Loch verkriechen, um zu überlegen, wie und wo er sein Leben in Zukunft führen wollte.
Das Summen des Folterinstruments riss ihn schließlich aus seinen Gedanken. Kurz darauf wurde dessen Display aktiviert und ein 5-Sekunden-Countdown eingeblendet, der startete, als der Kern geladen war. Ilvy starrte Dex ängstlich an, flehte um Hilfe und begann panisch zu atmen, während die Buchstaben auf dem Display sich unaufhaltsam verringerten. Einen Augenblick später entlud sich der Energiestoß in ihren Körper. Sie bäumte sich auf, begann vor Schmerzen zu knurren und brach benommen zusammen. Dex hob sie vorsichtig hoch und legte sie auf die Handtücher im Laderaum. Danach setzte er sich auf dessen Rand und vergrub knurrend das Gesicht in den Händen. Die Zeit drängte. Er musste verdammt noch mal eine Entscheidung treffen, wenn er sie nicht verlieren wollte. Stattdessen blieb er sitzen und starrte nachdenklich in die verfluchte Asche.
Einige Minuten später erklang ein drängender Signalton. Dex stand auf und schritt vorsichtig durch die Toten, bis ihn das Signal zu Mallus’ Leiche führte, auf deren zerstörtem Gesicht sich bereits Insekten tummelten. Der helle Ton hatte seinen Ursprung in einem mobilen Komm-Gerät, das in seine Koppel integriert worden war. Dex löste dessen Endstück, führte es zum Mund und nahm die Verbindungsanfrage entgegen. Kurz darauf lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken.
»Hier spricht Louis Octavius, Präfekt des vierundvierzigsten Außenpostens der heiligen Regentschaft. Nennt Euren namen und Euren Rang.«
Dex musste schwer schlucken.
»Identifiziert Euch!«
»Ich bin’s …«
Louis schien einen Moment zu brauchen, um die Situation einordnen zu können. »Wo zur Hölle bist du?«
»Im Nirgendwo.«
»Was soll das bedeuten? Wo ist die Gefangene?«
»In meiner Obhut.«
»Deiner Obhut? «
»Sie wurde angeschossen. Ohne meine Hilfe wär sie gestorben.«
Louis schien zu überlegen, ob das gut oder schlecht war. »Wer hat dich angegriffen? Scragger?«
»Templer …«
Er fluchte. »Hältst du dich noch beim Purgatorium auf?«
»Nicht mehr lange.«
»Rühr dich nicht vom Fleck, hörst du? Ich brauch die Frau!«
»Du wirst sie nicht bekommen«, erwiderte Dex ruhig.
»Was meinst du damit?«
»Ich werde mit ihr verschwinden, Lou. Wenn ich sie dir überlasse, werden die Bastarde sie töten.«
»Kann dir doch egal sein«, erwiderte Louis ungehalten. »Du kennst sie doch nicht mal. Sie ist nur eine von vielen. Wenn du mit ihr verschwindest, wird der verfluchte Inquisitor seinen Zorn an mir und Gabby auslassen. Vergiss nicht, was wir für dich auf uns genommen haben.«
»Du hättest ihn krepieren lassen sollen, als du die Chance dazu hattest, anstatt ihn in die Basis zu bringen«, wandte Dex niedergeschlagen ein.
»Ich hab eine Chance gesehen, um der Einöde zu entkommen und Gabrielle die Therapie zu verschaffen, die sie braucht. Kannst du das nicht verstehen? Sie wird sterben, wenn ich sie nicht in eine der Kliniken Ankhroms schaffe!«
Dex ging in die Hocke und rieb sich über die müden Augen. Er konnte sich nicht daran erinnern, jemals ein so offenes Gespräch mit Louis geführt zu haben. Nichtsdestotrotz war der Zeitpunkt äußerst schlecht, um ihre Beziehung – oder dem, was davon noch übrig war – zu vertiefen.
»Ich wollte dir keine Schwierigkeiten machen. Aber ich kann und will sie dem Inquisitor nicht überlassen.«
»Dann versteck dich mit ihr, bis ich mehr weiß, okay?«, gab Louis nach. »Du kennst die Aschewüste in diesem Sektor wie deine Westentasche. Bring sie zu einem deiner Verstecke und warte, bis ich dich kontaktiere. Wenn du verschwindest, sind wir erledigt.«
»Sie haben ihr einen Celron angelegt. Ich kenne dessen Programmierung nicht, aber ich nehme an, dass sie die Routine nicht überleben wird, wenn er nicht demnächst entfernt wird.«
Louis schien vor Wut gegen etwas im Hintergrund zu treten. »Ich hab einen Kontakt in Smallridge, der mir noch einen Gefallen schuldet. Sein Name ist Bulla. Ich werde ihn über deinen Besuch informieren, okay?«
»Danke, Louis. Ich hätte nicht gedacht …«
»Heb dir das für später auf. Der Inquisitor hat nach Verstärkungen gerufen. Unser Zeitfenster wird von Stunde zu Stunde enger. Wir sollten keine Zeit verlieren.« Er machte eine Pause, schien etwas zu trinken. »Und nimm dich vor einem Mann namens Lucius Mallus in Acht. Er ist der Centurio des Inquisitors und hält sich angeblich in deiner Nähe auf.«
Dex warf einen Blick auf Mallus Leiche’, bevor er antwortete. »Danke. Ich werd ihm aus dem Weg gehen.«
»Mach das. Er scheint dem Inquisitor wichtig zu sein und wir sollten ihm keinen weiteren Grund geben, richtig?«
Dex verzichtete auf einen Kommentar, stand auf und straffte seine Schultern. »Ich werde mich sofort auf den Weg machen und mich melden, sobald ich Smallridge erreicht habe.«
»Einverstanden.«
Louis hörte sich trotz ihrer Übereinkunft nicht begeistert an. Dex hatte ihn in eine schwierige Situation manövriert und jetzt lag es an ihm, einen Weg herauszufinden. Er fühlte sich dem Präfekten und seiner Frau trotz seiner Zweifel nach wie vor verpflichtet. Vor allem die Vorstellung, Gabrielle könnte wegen ihm Schaden nehmen, wollte ihm nicht gefallen. Auf der anderen Seite fühlte er sich mittlerweile für Ilvy verantwortlich, die dank der verdammten Templer um ihr Leben fürchten musste. Ein Dilemma, dessen Lösung nicht einfach werden würde.
Dex trennte die Verbindung und ließ die Sendeeinheit auf den Toten fallen. Fürs Erste gab er sich mit dem Kompromiss zufrieden, weil seine Priorität darauf lag, den Celron loszuwerden. Danach würde er weitersehen und die Lage beurteilen, sobald es neue Informationen gab.
Die Sonne stand bereits im Zenit. Wenn er Smallridge vor der Dunkelheit erreichen wollte, musste er sich beeilen. Er riss einem der Toten den Staubmantel vom Leib, zog Mallus’ Klinge aus dem Körper der Leiche und steckte sie in die Scheide auf seinem Rücken. Danach nahm er die Kredkarten der Templer an sich, schleifte die Leichen vom Purgatorium weg, um sie unter einem Felsvorsprung zu verscharren, und versteckte die erbeuteten Waffen bei den anderen. Er verstaute eine Maschinenpistole im Fußraum des Beifahrers und machte sich daran, den Motorblock zu säubern, bis sich der Wagen wieder starten ließ. Zu guter Letzt stellte er den Radpanzer neben dem LKW in der Halle des Purgatoriums ab und schloss das Tor. Bevor er das Areal verließ, deaktivierte er die Kontrolleinheit des Transporters.
Mittlerweile war es Nachmittag. Dex folgte einer ausgefahrenen Straße in Richtung Nordwesten, bis die beiden Ruinen am Horizont erschienen. Kurz darauf blieb er stehen, kletterte aufs Dach und zog den Feldstecher aus der Koppel, um sich umzusehen. Smallridge zog Plünderer, Schmuggler und Scragger an, die gerne Händler und Reisende überfielen, bevor sie in den Schutz der Wolkenkratzer gelangen konnten. Nach einigen Minuten steckte er das elektronische Fernglas zurück und ließ sich auf den Boden fallen. Er streifte den Staubmantel über, überprüfte die Shotgun und setzte sich wieder hinters Steuer, um den Motor zu starten und sich den Stahlbetongerippen langsam zu nähern.
Nach zwanzig Minuten fuhr er in den Schatten des ersten ein. Die Ruine war gute vierzig Meter hoch. Die jeweiligen Besatzer hatten über die Jahrzehnte Stahlplatten angebracht, das Bauwerk mit Balkonen und Stegen erweitert und ihm ein wehrhaftes klobiges Aussehen verliehen, das die Banden auf Abstand halten sollte. Templer waren nicht gern gesehen und auch sonst konnten die Bewohner nicht viel mit der Regentschaft anfangen, deren Regeln und Gesetze hier draußen so viel wert waren wie ein toter Scragger.
Vor Dex hatte sich eine kleine Schlange von Fahrzeugen gebildet. Vorwiegend alte, im Grunde ausgediente Vehikel, die immer wieder auf Vordermann gebracht worden waren und aus allen möglichen Teilen verschiedenster Modelle bestanden. Buggys, Transporter, Motorräder und hin und wieder auch alte militärische Fahrzeuge, die einst dem Fuhrpark der Regentschaft angehört hatten. Nach dem Krieg waren viele dieser Radpanzer, Jeeps und Aufklärer von der Bildfläche verschwunden, um später ohne die Symbole und Seriennummern der Legion wieder aufzutauchen und an den meistbietenden verkauft zu werden. Ein lukratives Geschäft, mit dem sich viele Ex-Militärs eine goldene Nase verdient hatten.
Das unmittelbare Gebiet um die Ruinen war mit Zelten übersät. Hier lebten Menschen, die sich den Aufenthalt in den Riesen aus Stahlbeton nicht leisten konnten. Trotzdem bot die Nähe zu Smallridge die ein oder andere Chance, um an Kredite zu kommen sowie Tauschgeschäfte abzuschließen. Getauscht wurden vornehmlich von Verbünden geerntete Nahrungsmittel gegen Ausrüstung, Waffen oder Fahrzeuge. Die Herren von Smallridge waren stets gut ausgestattet, um die Menschen in den Randgebieten mit dem nötigen Dingen zu versorgen – im Gegenzug für Nahrung, Kreds oder fragwürdige Dienstleistungen.
Dex wartete, bis er an der Reihe war und vor einer Panzersperre zum Stehen kam, die von zehn schwer bewaffneten Männern bewacht wurde. Ein großer Kerl verließ seinen Posten und klopfte mit dem Lauf seines Sturmgewehrs ans Fenster. Er trug einen Einsatzanzug, Kevlarplatten und eine Sturmhaube. Auf der Brustplatte prangte das Zeichen der Grauen Kojoten, einer Vereinigung von Ex-Militärs, die die Wolkenkratzer nach dem Krieg in beschlag genommen und diese zu ihrem persönlichen Reich ausgebaut hatten. Dex ließ die Scheibe herunter und zückte eine der Kredkarten, die er den Toten abgenommen hatte.
»Die Gebühr, Smallridge betreten zu dürfen, beträgt fünfzig Kreds pro Tag. Wenn du Ärger machst, erledigen wir dich. Was ist dein Anliegen?«
»Bulla erwartet mich.«
»Dein Name?«
»Dex Ateius.«
Der Kerl ging zurück zu den anderen, um Bericht zu erstatten. Einer aktivierte ein Komm-Gerät und hielt Rücksprache, bevor der Mann wieder zum Transporter kam, Dex bezahlen ließ und ihn durchwinkte. Auf dem Weg zur Einfahrt entdeckte er Scharfschützen, Maschinengewehrnester und mit Raketenwerfern bewaffnete Söldner, die zwischen den Stahlplatten lauerten und im Ernstfall eingreifen und jeden Aggressor sofort pulverisieren würden. Dex fuhr den Weg entlang, bis er von einer weiteren Gruppe in eine dunkle Abfahrt geleitet wurde. Danach drang er in den Wolkenkratzer ein. Er folgte der planierten Straße in ein Untergeschoss und bekam einen Platz auf einer riesigen Fläche zugewiesen, die notdürftig mit kalten Neonröhren beleuchtet wurde. Sonst parkte niemand hier. Danach wurde ihm aufgetragen, den Motor abzustellen, die Hände gut sichtbar aufs Lenkrad zu legen und sitzen zu bleiben. Nach einigen Minuten öffnete sich ein Schott in seiner Nähe und vier vermummte Gestalten betraten das Areal, die den Transporter mit vorgehaltenen Waffen umzingelten und auf Dex anlegten.