Varro saß auf dem Stuhl vor der Kommunikationsanlage und ließ eine Verbindung aufbauen. Die Wut über sein Versagen war dabei ihn aufzufressen und er hatte Mühe, sich nicht von seinem Hass überwältigen zu lassen. Der verdammte Präfekt schien nicht den geringsten Respekt vor ihm oder dem zu haben, was er in dieser Einöde vertrat. Octavius’ Erklärungsversuche, die Regeln der Regentschaft könnten hier draußen nicht zu hundert Prozent angewendet werden, hörten sich ausnahmslos nach Entschuldigungen an. Entschuldigungen eines schwachen rückgratlosen Führers, der seine nicht weniger willensschwachen alten Männer je nach Laune gewähren ließ. Der Mann und seine Untergebenen wären in Ankhrom schon lange gehängt und ihre verfaulenden Körper als Warnung auf einem der belebten Plätze ausgestellt worden, bis die Geier ihnen das faule Fleisch vom Leib gerissen und nichts als Knochen zurückgelassen hätten. Nichtsdestotrotz hatte der Präfekt, was Varros Niederlage anging, vermutlich recht. Der Regulator würde ein Versagen dieses Ausmaßes nicht einfach hinnehmen.
Er würde ein Exempel an ihm und seiner Linie statuieren und dafür sorgen, dass der Name Torres für Jahrzehnte von niemandem mehr in den Mund genommen wurde. Varro ballte die Faust und schlug knurrend auf den Tisch. Er musste das kleine Miststück unter seine Kontrolle bringen – und zwar schnell. Der Gedanke, dass sie von einem Söldner bewacht wurde, der nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht war, bereitete ihm Schmerzen. Er konnte beim besten Willen nicht verstehen, wie der Präfekt eine Aufgabe dieser Schwere einem ehrlosen Wegelagerer hatte anvertrauen können. Vermutlich wollte er die Existenz der Gefangenen vor seinen Templern verbergen, um diese nicht auf den Plan zu rufen, ihm einen Strich durch die Rechnung zu machen. Und sie würden
gegen ihn aufbegehren, wenn sie wüssten, in welche Lage er sie gebracht hatte.
»Ja?« Cillas Stimme riss ihn zurück in die Realität. Sie schien sich in einem Fahrzeug aufzuhalten. Varro konnte die Fahrgeräusche im Hintergrund hören.
»Wo bist du?«
»Auf dem Weg. Wir wurden durch einen Aschesturm aufgehalten. Wie ist die Situation vor Ort?«
Varro brauchte ein paar Minuten, um seine kleine Schwester auf den aktuellen Stand zu bringen, ohne sich selbst allzu schlecht dabei aussehen zu lassen.
»Mach dir keine Sorgen. Sobald ich den Außenposten erreicht habe, werden diese Amateure bekommen, was sie verdienen. Wo ist Lucius?«
»Ich … kann ihn nicht erreichen. Die Sorge um ihn macht mich wahnsinnig.«
»Ich hatte dich gewarnt, Var, erinnerst du dich? Eine Schwäche dieser Art wird jedem Inquisitor irgendwann das Genick brechen. Konzentrier dich auf dich selbst und
sorg dafür, dass unser Name nicht in den Dreck gezogen wird. Ich bin zu weit gekommen, um mich durch deine Verfehlungen in den Abgrund reißen zu lassen.«
»Ich würde dir niemals schaden!«, erwiderte er aufgebracht und änderte das Thema. »Gibt es Neuigkeiten unseres Bruders?«
»Sein Zustand ist unverändert. Die Ärzte werden das künstliche Koma nicht ewig aufrechterhalten. Du solltest dich darauf einstellen, ihn gehen zu lassen. Was gedenkst du deswegen zu unternehmen?«
»Sie wird brennen!« Er atmete lautstark aus. »Aber zuerst wird sie reden. Hast du besorgt, um was ich dich gebeten habe?«
»Hab ich.«
»Gut. Sie wird diese letzten Stunden niemals vergessen. Ich werde dafür sorgen, dass der Schmerz ihr ständiger Begleiter wird. Bis sie so weit ist und mich anfleht, sie dem reinigenden Feuer zu übergeben.«
»Ich höre dich, Bruder.« Cilla schien mit jemandem im Hintergrund zu reden. »Wir werden Smallridge in vier Stunden passieren. Danach machen wir uns aus den Weg zu deiner Position. Unsere Vorhut sollte dich früher erreichen. Vale, Varro.«
»Vale …«
Er lehnte sich zufrieden zurück und rieb sich über die müden Augen. Die Stimme seiner Schwester hatte ihn etwas beruhigt und ihn von der Wut befreit, die seine Sinne vernebelt hatte. Blieb noch ein weiteres Gespräch, das geführt werden musste. Er legte seine Hand auf die Scanfläche der Kommunikationsanlage und legitimierte sich im geschützten System der Regentschaft. Der aufflammende Schimmer unter seiner Hand bestätigte die Legitimation und räumte ihm die Rechte ein, die er
benötigte, um seinen Vorgesetzten kontaktieren zu können. Victrix ließ ihn geschlagene zwanzig Minuten warten, bis er den Kontaktversuch entgegennahm.
»Inquisitor …«
»Salve, Regulator.«
»Berichtet.«
Varro versuchte, seinem Vorgesetzten die Lage so nüchtern wie möglich zu präsentieren, hatte aber das Gefühl, am Ende der Ausführungen als eindeutiger Verlierer dazustehen.
»Euer Bericht betrübt mich«, begann dieser unzufrieden. »Ihr wusstet, wie enorm wichtig dieser Auftrag war und doch habt Ihr ihn nicht mit entsprechender Sorgfalt behandelt. Was ein Scheitern für Eure Zukunft bedeutet, muss ich Euch sicher nicht erörtern.«
»Die Gegebenheiten waren nicht auf unserer Seite.«
»Die Gegebenheiten?«
Victrix schnaubte verächtlich. »Ihr hört Euch an wie der lausige Präfekt, der es gewagt hat, mich zu erpressen! Vergesst nicht, wer Ihr seid und wo Eure Wurzeln liegen!«
Varro hielt vorsichtshalber den Mund, bis der Alte fortfuhr.
»Sobald die Verstärkungen eingetroffen sind, will ich Ergebnisse haben, verstanden? Ich will wissen, was sie
weiß und ich will, dass jeder verschwindet, der ihr zu nahe gekommen ist oder auch nur Wind von der Sache bekommen hat.« Er schien zu fluchen. »Ihr werdet dafür sorgen, dass die Körper aller Mitwisser in der Wüste vermodern und nichts von dem Vorfall nach außen dringt. Zu niemandem!«
»Ich werde mich darum kümmern, Regulator.«
»Das hoffe ich für Euch und Eure verfluchte Familie!«
Victrix kappte die Verbindung und ließ Varro alleine
im Bunker zurück. Die Stille und das verdammte Nichtstun machten ihn wahnsinnig, während seine Gedanken enge Kreise zogen und sich ständig zu wiederholen schienen. Er holte eine Einweginjektion aus einer Tasche seiner Koppel und injizierte sich die grünlich schimmernde Lösung, die seine Wut zurückfahren und ihn wieder zur Räson bringen würde – zumindest für den Moment. Danach zog er sein Kampfmesser und begann zu überlegen, wem er die Klinge zuerst in den Schädel rammen würde.
Die Beleuchtung im Raum war düster. Bulla hatte eine Kopflampe auf, deren fluoreszierender Strahl eine Verbindung zum System des Celrons aufbauen wollte – zum zehnten Mal. Aber das Sicherheitssystem des Folterinstruments schien unüberwindbar zu sein und Dex verlor mit jedem gescheiterten Versuch ein Stück seiner Hoffnung, Ylvi demnächst von dem Ding befreien zu können. Sie lag nach Atem ringend auf einem medizinischen Behandlungsstuhl, starrte ihn hilfesuchend an und wirkte verängstigt. Bulla hatte sie von seiner Assistentin festschnallen lassen, um den Eingriff nicht zu gefährden und sie dabei versehentlich zu töten.
Nachdem Dex von den Männern auf dem Parkplatz in Empfang genommen wurde, hatte er Ilvy aus dem Laderaum geholt. Sie hatte tief geschlafen und ängstlich nach ihm geschlagen, als er sie weckte. Danach hatte sie sich widersetzt, bis ihr die Kraft ausgegangen war und sie sich schluchzend in ihr Schicksal ergeben hatte. Die Männer hatten sie auf eine Liege mit Rollen gelegt und mit Hilfe eines Gurtsystems gesichert. Dex hatte sie selber tragen
wollen, aber er traute den Kerlen nicht über den Weg und wollte die Hände frei haben, um im Ernstfall entsprechend reagieren zu können. Denn wer wusste schon, was Louis wirklich mit Bulla vereinbart hatte. Dex war nicht bereit, dem Kerl blind zu vertrauen, weshalb er sich zurückfallen ließ und seinen stummen Begleitern in angemessenem Abstand folgte.
Der ehemalige Wolkenkratzer war von unzähligen Gängen, Korridoren und Wartungstunneln durchzogen. Es gab Durchbrüche in die Tiefe, die sich über mehrere Stockwerke hinzuziehen schienen und belebte Galerien offenbarten, auf denen sich Menschen dicht an dicht drängten. Dex sah leuchtende Werbetafeln, eng abgesteckte Stände von Händlern, die alles mögliche feilboten, und eine Menge potentieller Kunden, die sich um diese tummelten und lautstark verhandelten. Dex wusste, dass tief unter der Erde auch illegale Geschäfte abgeschlossen wurden. Drogen, Waffen, Sklaven. Ein unerträglicher Gedanke, der sein rechtschaffenes Herz zum Toben brachte. Die Tatsache, dass er nichts daran ändern konnte, war besonders schwer zu ertragen und befeuerte seinen Hass gegen den Interrex, der zu wenig unternahm, um diese Auswüchse seines Reichs zu unterbinden.
Danach passierten sie mietbare Unterkünfte, Bordelle und ein Lazarett, in dem käufliche Ärzte ihre Serviceleistungen anpreisten und neben Behandlungen, Körperverstärkungen und individuell hergestellten Drogen zur Verbesserung diverser physischer Leistungen, alles Mögliche anboten. Dex folgte den Männern in einen Aufzug, der sie tief unter die Erde brachte. Als die Türen sich öffneten, betraten sie einen düsteren Korridor, der sie zu einem verstärkten Schott führte. Einer der Kerle kündigte Dex über eine altmodische Sprechanlage an,
worauf die Stahlvorrichtung zur Seite glitt und einen unbesetzten Empfangsraum offenbarte. Sie warteten, bis sie von einer Frau mit Mundschutz abgeholt wurden, folgte ihr in eine Art Labor und legten Ilvy auf den medizinischen Behandlungsstuhl im Zentrum des mit allerlei Gerätschaften vollgestopften Raums. Danach ließen sie Dex mir ihr allein und verschwanden im Korridor, während die Assistentin sie fixierte und das Labor anschließend ebenfalls verließ. Eine Minute später erschien ein rundlicher Mann, dessen Gesicht unter einer Maske aus Stoff verborgen lag. Er trug einen sterilen Anzug, musterte Dex und warf einen Blick auf Ilvy, die sich stöhnend unter dem Celron wand. Seine Finger strichen fasziniert über dessen Oberfläche, das achteckige Kopfstück, das fest auf Ilvys Brust saß, die widerstandsfähigen Arme und die feuchten Profile aus Gummi, die die Energie ohne größeren Verlust in ihren Körper leiteten. Danach richtete er sich auf und wandte sich an Dex.
»Es handelt sich um ein neues Modell.«
»Ist das gut oder schlecht?«
»Schlecht«, erwiderte Bulla knapp. »Das System ist auf dem neuesten Stand. Meine Codes sind veraltet. Ich müsste die Sicherheitsroutinen überwinden, aber ich kann nicht garantieren, dass ich erfolgreich sein werde.«
»Kann man das Ding nicht einfach von ihr runterschneiden?« Dex zeigte auf einen Arm des Celrons.
Bulla schnaubte verächtlich, legte zwei Finger um eines der flexiblen Glieder und zerrte daran. Einen Augenblick später zogen sich die Arme zusammen. Ilvy riss erschrocken die Augen auf und japste nach Luft, bis sich die synthetischen Fangarme wieder entspannten und den Ursprungszustand einnahmen, der ihrem Opfer ohnehin nicht viel Raum zum Atmen ließ
.
»Ein adaptives System«, erklärte Bulla. »Je größer der Widerstand, desto heftiger und länger die Reaktion. Sie würde einen Versuch, die Arme manuell zu entfernen, nicht überleben.«
Dex verzog den Mund und bedachte Ilvy mit einem besorgten Blick.
»Stehst du ihr nahe?«
»Was?« Dex sah Bulla verwirrt an. »Nein. Aber sie trägt den Celron wegen mir. Und das kann ich nicht akzeptieren.«
»Warst du in der Legion?«
»Was soll die Frage?«
»Du siehst nicht aus wie einer von Louis’ Templern, aber du bewegst dich wie ein Militär. Hab dich auf dem Weg hierher über die Sicherheitskameras beobachtet. Ich war in der Achten. Hab unter Gaius Cornelius gedient. Ein richtiger Wichtigtuer, der am Ende bekam, was er verdiente.«
»Ich kann mich dunkel an ihn erinnern«, erwiderte Dex und beantwortete damit Bullas Frage.
»War ein schlechter verblendeter Mann.« Er sah Dex lauernd an. »Im Gegensatz zu unserem Kaiser, richtig?«
Dex erwiderte Bullas Blick und wägte seine Optionen ab: War der Mann ein Anhänger der Alten Ordnung oder nur ein Opportunist, der ihn aufs Glatteis führen wollte? Er sah nicht aus wie ein Soldat, war übergewichtig und schien sich gehenlassen zu haben. Allerdings war der Krieg lange her. Die Körper mancher Männer mochten weich geworden sein, aber ihre Überzeugungen konnten nach wie vor die gleichen sein.
»Richtig.«
Bullas Augen verengten sich. »Bereit zum Kampf, sich zu erheben, und gegen den Feind zu stemmen …
«
»Bereit, in den Krieg zu ziehn’ – und …«, wollte Dex den Spruch vervollständigen, als das Display des Celrons aktiviert wurde und den nächsten Energiestoß ankündigte. Das Summen fuhr ihm bis ins Mark. Ilvy flehte ihn ängstlich an, aber ihm blieb nichts anderes übrig, als dabei zuzusehen, wie sich ihr Körper unter der Entladung aufbäumte und ihre Lider zu flattern begannen, bis der Spuk vorbei war. Dieses Mal schien der Energiestoß länger gedauert zu haben.
»Armes Ding.« Bulla legte ihm die Hand auf die Schulter. »Ich werd sehen, was ich tun kann, Kamerad.«
Dex nickte.
»Louis wollte, dass ich dich aushorche. Aber der verdammte Templer kann mir gestohlen bleiben. Ich bin nicht auf seine Gaben angewiesen. Genauso wenig wie auf seine Freundschaft.«
Dex atmete innerlich auf. Es tat gut, einem Kameraden von früher gegenüberzustehen. Auch wenn sie vielleicht nicht in derselben Legion gedient oder an denselben Fronten miteinander gekämpft hatten. Aber alleine der Umstand, sich mit einem Renegaten im selben Raum aufzuhalten, gab ihm die Sicherheit, nicht vollkommen isoliert und verloren zu sein.
Bulla setzte sich eine Art Kopflampe auf, deren fluoreszierender Strahl eine Kurve machte und das Zentrum des Celrons anvisierte. Er beugte sich über das Gerät, klappte eine transparente Scheibe herunter, um die darauf projizierten Daten sehen zu können, und begann eine virtuelle Tastatur zu bedienen. Einen Moment später zogen sich die Arme des aggressiv summenden Celrons zusammen, bis Ilvy vor Schmerzen stöhnte, und die Verbindung wurde unterbrochen.
»Das System ist stark«, stellte Bulla trocken fest. »Ich
konnte die erste Barriere überwinden. Aber jeder Fehlversuch wird Konsequenzen haben.« Er zeigte auf Ilvy, deren Atemzüge immer leiser wurden. »Soll ich weitermachen?«
Dex warf einen besorgten Blick auf die kleine Wölfin und nickte. Er hatte nicht vor, zu gehen, bevor Bulla das verdammte Gerät entfernt hatte – auch wenn Ilvy weiterhin geschunden wurde. Denn er wollte nicht dafür verantwortlich sein, dass sie unter dem Celron zugrunde ging. Immerhin lag es nur an ihm, seiner Schwäche und seiner Unentschlossenheit, dass die Templer ihr das Folterinstrument hatten anlegen können.
Nach dem zehnten Versuch leuchtete das Display des Geräts für einen Moment auf. Kurz darauf wurde die Verbindung erneut unterbrochen. Ilvys Körper glänzte mittlerweile im Licht des medizinischen Strahlers. Ihre Atembewegungen waren kaum noch zu sehen und Dex fühlte sich nach jedem misslungenen Anlauf schlechter. Er quälte die Frau nicht weniger als ein Inquisitor, und das nur, um sein verdammtes Gewissen zu erleichtern. Die Einsicht, selbstsüchtig zu handeln und die Rettung der Frau als Grund vorzuschieben, bescherte ihm Magenschmerzen.
Bulla winkte ab und deaktivierte den Kopfstrahler. »Es hat keinen Sinn. Das Sicherheitssystem ist zu stark.« Er zog sich die Haube samt Strahler vom Kopf. Sein Gesicht war zur Hälfte verbrannt und mit einem dichten Narbengeflecht überwuchert. »Allerdings konnte ich beim letzten Versuch Daten abgreifen. Ich werde etwas Zeit brauchen, um sie zu entschlüsseln. Meine Männer werden dich in einer unserer Unterkünfte unterbringen, bis ich Ergebnisse habe.«
»Ich lass sie nicht allein.« Dex zeigte auf Ilvy, die ihn kaum noch zu erkennen schien
.
»Das musst du nicht. Ich kann nichts für sie tun, ergo kannst du sie hinbringen, wo immer du willst.«
Dex nickte niedergeschlagen und löste die Gurte. »Ich muss noch bezahlen.«
»Das geht aufs Haus«, erwiderte Bulla lächelnd. »Für die alten Zeiten.« Er bedachte Dex mit einem funkelnden Blick. »Denn wenn sich der Schatten über Ankhrom legt und der Himmel tobt, werden wir uns alle wiedersehn.«
»So Gott will …«
»So Gott will.« Er verzog den Mund zu einem Schmunzeln. »Du hast die alten Phrasen nicht vergessen. Und sei dir sicher, dass du nicht der Einzige bist.«
Dex sah ihn fragend an.
»Gerüchte verbreiten sich. Besonders in und um die Megaplexe. Die Regulatoren versuchen, diese zu ersticken und die Strippenzieher verschwinden zu lassen. Aber der Funke des Widerstands kann nicht erstickt werden und wird das reinigende Feuer am Ende entfachen.«
Dex bedachte Bulla mit einem skeptischen Blick. Er hatte nichts dergleichen gehört. Aber vielleicht befand sich der Außenposten einfach zu weit von den Plexen entfernt und seine bewusst gewählte Einsamkeit erschwerte es ihm zusätzlich, auf dem Laufenden zu bleiben.
»Oder es sind einfach nur Gerüchte.«
»Dieses Mal nicht«, erwiderte Bulla. »Aber wir werden sehen. Ich mach mich an die Entschlüsselung der Daten. Fühl dich wie mein Gast. Du hast nichts zu befürchten und kannst dich frei bewegen. Meine Leute werden für deine Sicherheit sorgen.« Als Dex Ilvy hochheben wollte, hielt Bulla ihn zurück. »Ich glaube, wir sind uns schon einmal begegnet.
«
»Daran würde ich mich erinnern«, winkte er ab. »Du irrst dich.«
»Das denke ich nicht.« Bulla bedachte ihn mit einem lauernden Blick. »Du führst den gleichen Namen – was nichts bedeuten muss. Trotzdem bin ich mir ziemlich sicher. Aber sei’s drum. Viele von uns haben ihre Blutlinien verleugnet, nachdem wir untergegangen sind. Aber wenn
du derjenige bist, für den ich dich halte, wisse, dass deine Zeit kommen wird.«
»Du irrst dich …«
»Die Geschichten über deine Taten sind nicht vergessen. Falls es wieder so weit kommt – und das wird es – werden dir viele Anhänger der Alten Ordnung folgen.«
»Mir wird niemand folgen«, winkte er ab. »Denn ich werde niemanden führen.«
»Wir werden sehen. Die Geschichten …«
»Sind einfach nur Geschichten«, unterbrach Dex genervt, hob Ilvy hoch und verließ das Labor.
Bullas Männer führten ihn erneut durch die Gänge des Wolkenkratzers, bis sie eines der angemieteten Quartiere erreichten. Danach überließen sie ihn sich selbst.
Dex legte Ilvy vorsichtig aufs Bett und sah sich um. Der Raum war karg eingerichtet. Bis auf die Schlafmöglichkeit gab es nur einen Tisch, zwei Stühle, eine Ablage und einen Schrank. Die Sanitärkabine war winzig, Wasser und Energie kosteten extra. Wenigstens hatte er keine Sicherheitskameras entdeckt und freute sich über die Privatsphäre, die Bulla ihm offenbar gönnte.
Dex hatte keine Ahnung, wie er weiterverfahren sollte. Anscheinend war der Techniker nicht in der Lage, den Celron zu entfernen. Blieb nur Louis, dem Dex aufgrund seiner persönlichen Misere nicht über den Weg traute. Wenn erst die Verstärkungen des Inquisitors eintrafen,
würde sich alles ändern. Er würde Louis die Pistole auf die Brust setzen – oder deren Lauf an Gabrielles Schläfe halten – und ihn zwingen, Dex aufzugeben. Danach würde die Jagd beginnen.
Er setzte sich aufs Bett, atmete tief ein und legte sich neben die kleine Wölfin, die blinzelnd die Augen öffnete und ihn ausdruckslos anstarrte. Nach einigen Minuten verlor er sich in ihrem glänzenden Blick und fiel in einen unruhigen Schlaf, während sein Gedankenkarussell weiterhin auf Hochtouren lief, und ihm die Ausweglosigkeit seiner Situation buchstäblich ins Unterbewusstsein hämmerte.
Louis schreckte aus einem Albtraum hoch. Varro hatte ihn ans Kreuz der Verbrennungsstätte gekettet und Feuer geben lassen, bis ihm das verbrannte Fleisch vom Knochen gefallen war. Er hatte den imaginären Geruch seiner schwelenden Haut noch immer in der Nase und bekam aufgrund des Ekels einen Hustenanfall, der Gabrielle weckte.
»Schlecht geträumt?«
»Nein«, log er. »Wie geht es dir?«
»Besser. Varros Lösung scheint gewirkt zu haben.«
»Er hat sicher mehr davon.«
»Aber er wird uns die Ampullen nicht überlassen, Lou. Mach dir keine falschen Hoffnungen mehr.« Sie strich lächelnd über seine Wange.
»Ich werde dich nie aufgeben, Gabby.«
»Ich weiß«, erwiderte sie leise. »Und davor fürchte ich mich am meisten.«
Er umarmte sie, küsste ihre Stirn und zog sie zu sich.
Sie ließ es geschehen und schmiegte sich an ihn, als die Motoren mehrerer Motorräder und Buggys erklangen. Varros Verstärkung schien die Basis erreicht zu haben und Louis’ einziger Trumpf für etwaige Verhandlungen war das Wissen über Dex’ Verbleib. Gabrielle würde ihn dafür hassen, aber bevor sich Varro an ihr austobte, würde er dessen Wut lieber auf Dex und die Gefangene lenken. Eine Notlösung, die Louis’ und Gabbys eigenes Überleben sichern würde.
»Du solltest dich fertig machen.« Sie sah ihn auffordernd an. »Ich werde dich begleiten, falls du mir hilfst, mich hübsch zu machen.«
»Du warst und wirst immer die Schönste für mich sein«, erwiderte er schmunzelnd. »Aber ich helf dir natürlich gerne.«
Eine halbe Stunde später betraten sie den Platz der Anlage. Louis hatte seine Präfektenuniform angelegt, Gabrielle ein Kleid, das sie sich sonst für Empfänge vorbehielt, von denen schon lange keiner mehr stattgefunden hatte.
Varro verteile Befehle an vielleicht zwei Dutzend Männer, die schwarze Templerkampfpanzer trugen. Die Symbole auf den Schulterschalen wiesen sie als Mitglieder der Angeli Cadici aus. Spezialeinheiten der Regentschaft, die nur aus den linientreusten Soldaten rekrutiert wurden. Hardliner, die selbst ihre Mütter verraten würden, wenn im Raum stünde, dass diese gegen den Interrex agitiert hätten. Louis’ Veteranen saßen aufgebracht in einer Ecke des Außenpostens und starrten Varro hasserfüllt an. Anscheinend hatte er die altgedienten Männer entwaffnen und unter Aufsicht stellen lassen. Vier seiner Elitekämpfer hielten sie in Schach, während sich einer am Sicherheitssystem der Mannschaftsunterkünfte zu schaffen machte
.
»Was geht hier vor?« Louis stellte sich mit verschränkten Armen vor den Inquisitor, der ihn Links ließ, bis er mit seinen Männern fertig war.
»Ich hab Eure Templer entwaffnen lassen. Sie werden unter Arrest gestellt, bis der Rest meiner Verstärkung eintrifft.«
»Aber das war nicht abgemacht«, entgegnete Louis scharf.
»Das tut nichts zur Sache«, winkte Varro ab. »Solange ich nicht bekomme, was ich will, betrachte ich Euch und Eure Templer als Risikofaktoren.«
»Wollt Ihr mich etwa auch inhaftieren?«
»Ihr werdet Euch mit Eurer Frau ein einfaches Quartier teilen. Ich beziehe Eure Unterkunft.«
»Einen Teufel werdet Ihr! Gabrielle ist krank! Sie kann nicht in einer der einfachen Zellen leben!«
»Bringt mich nicht dazu, ein Exempel an Euch zu statuieren!«, fuhr Varro auf. »Euer fehlender Respekt vor mir und den heiligen Werten der Regentschaft sollte mit fünfzig Peitschenhieben bestraft werden! Euer Führungsstil ist nachlässig! Genau wie Eure Templer! Man sollte euch alle zur Hölle schicken!«
Als Louis die Waffe ziehen wollte, traf ihn wie aus dem Nichts ein Schlag am Hinterkopf. Er ging ächzend in die Knie, während Gabrielle versuchte, ihn zu schützen, und der Angreifer seine Handfeuerwaffe an sich nahm. Ben zwängte sich an seinen Bewachern vorbei und wandte sich wütend an Varro.
»Das dürft Ihr nicht! Er ist ein Präfekt! Kein Offizier der Legion hat das Recht, einen anderen schlecht zu behandeln! Codex Imperialis, Segment 425, Absatz 1, Paragraf 2.«
Varro legte den Kopf schief, zog blitzschnell die
vollautomatische Shotgun aus dem Holster und drückte ab. Ben wurde trotz seiner Körperfülle nach hinten gerissen, wo er unter den entsetzten Blicken seiner Kameraden röchelnd im Dreck starb.
»Ben!« Gabrielle kauerte sich neben Louis auf den Boden und klammerte sich an ihn, während Varro den Lauf auf ihn richtete.
»Wo ist die Gefangene?«
»Beim Purgatorium. Mein Söldner …«
»Genug!« Varros Augen schienen aus seinen Höhlen springen zu wollen. »Zwei meiner Aufklärer sind einen Bogen gefahren und haben der Verbrennungsstätte einen Besuch abgestattet! Kein Transporter, kein Söldner! Ich kann das verdammte Signal des Senders nicht lokalisieren, weil Eure Anlage nicht richtig justiert ist! Also wo hat er sie verflucht noch mal hingebracht?«
»Woher soll ich das wissen!«, brüllte Louis und wollte aufstehen, als Varro ihm ins Bein schoss. Zuerst spürte er nur einen dumpfen Schlag und hatte das Gefühl, der Treffer hätte es ihm abgerissen. Danach kam der Schmerz und er sackte ächzend zurück in den Dreck. Gabrielle stellte sich schützend vor ihn, bis Varro sie an den Haaren packte, zu sich riss und auf die Knie zwang. Danach presste er ihr den Lauf gegen den Kopf und funkelte Louis warnend an.
»Überlegt Euch genau, welche Antwort Ihr mir als nächstes geben wollt, Präfekt. Meine Geduld mit Euch und Euren lächerlichen Forderungen ist am Ende. Ihr werdet weder zurück nach Ankhrom gelangen noch eine Therapie für Euer Weib in Anspruch nehmen, verstanden? Alles was Ihr noch tun könnt, ist Eure eigene Haut zu retten.« Er spannte den Hahn der Waffe. »Sagt mir, wo die Gefangene ist, und ich lasse Euch unbehelligt ziehen.
Bleibt weiterhin stur und ich werde nichts von Euch und Eurer Frau übriglassen, das wert wäre, beerdigt zu werden!«
»Er lügt!«, mischte sich Gabrielle ein. »Er wird uns nicht davonkommen lassen!«
Varro trat ihr in den Rücken und legte auf sie an, während Louis Atmung immer flacher wurde und das Blut aus seinem Oberschenkel den Boden besudelte. Die Umgebung begann bereits vor seinen Augen zu verschwimmen, als Gabrielle ihn anflehte, Dex nicht zu verraten. Aber die dumpfen Worte des Inquisitors drängten Gabbys Flehen in den Hintergrund und machten Louis klar, dass er sie verlieren würde, wenn er Varros Forderung nicht nachkam. Der Drecksack würde sie eiskalt vor seinen Augen hinrichten, über ihre Leiche steigen und dieselbe Frage noch einmal stellen. Aber dann würde es für Louis keinen Unterschied mehr machen, sie zu beantworten. Denn ohne Gabrielle an seiner Seite wollte er nicht weiterleben. Vor allem nicht hier draußen im Nichts, wo einem Mann wie ihm nur übrigblieb, auf den Tod zu warten.
»Tu’s bitte nicht …« Gabrielle streckte flehend die Hand nach ihm aus, bis Varro ihren Kopf mit seinem Stiefel in den Dreck drückte und sie schwer zu husten begann. Die verdammte Asche würde sie umbringen!
»Wo – ist – die – Gefangene? Ich frage nicht noch mal!«
Louis wand sich wie eine angeschossene Schlange, bis er aufgab und Varro sagte, was er hören wollte. Danach zog ihm jemand den Kolben eines Sturmgewehrs über den Schädel und er versank in einem tiefen schwarzen Loch, das ihm klarmachte, dass er auf ganzer Linie gescheitert war.
Dex wurde vom Signalton einer Komm-Anfrage geweckt. Er warf blinzelnd einen Blick aufs Display des Quartiers und stellte erstaunt fest, dass er volle zwei Stunden verschlafen hatte. Ilvy lag neben ihm. Ihre Atmung war nach wie vor kaum zu erkennen. Aber sie war noch am Leben und Dex hatte nicht vor, sie einfach gehen zu lassen. Er richtete sich vorsichtig auf, aktivierte den Lautsprecher und nahm die Anfrage entgegen.
»Die Ergebnisse werden dir nicht gefallen«, erklang Bullas Stimme. »Der Celron kann nur von einem bestimmten Inquisitor deaktiviert werden: Varro Torres. Das Sicherheitssystem wurde auf dessen DNA justiert …«
Dex fluchte.
»… aber das ist noch nicht alles. Das aktuell laufende Programm basiert auf einer Exitus-Schleife. Dir bleiben knapp fünfzehn Stunden, um den Celron loszuwerden. Die Stoßfrequenzen und die Intensität werden zunehmen, die Arme sich weiter zusammenziehen, bis die Kleine erstickt oder an Herzversagen stirbt. Sie ist verloren.« Er machte eine kurze Pause, um zu Atem zu kommen. »Da ist noch ein Problem: Meine Späher haben mir mitgeteilt, dass sich eine Gruppe verdächtiger Fahrzeuge nähert. Ein Radpanzer und vier Transporter. Vermutlich Templer. Du solltest verschwinden, bevor die Bastarde hier auftauchen.«
»Ich weiß nicht, wohin …«, erwiderte Dex niedergeschlagen, setzte sich an den Rand des Betts und vergrub das Gesicht in den Händen.
»Du hast nur zwei Möglichkeiten: Gib sie auf und rette dich selbst – oder geh mit ihr zusammen unter.«
»Ich kann nicht mehr wegsehen.«
»Dann ist deine Entscheidung gefallen«, stellte Bulla
nüchtern fest. »Die Entscheidung eines Kriegers. Folge dem Alten Weg und er wird dich ins Licht führen.«
»Durch die Asche ins Feuer …« Dex schnaubte verächtlich. Der Alte Weg
würde ihm nicht bei seinem Problem helfen. Er musste den Inquisitor dazu bringen, Ilvy den Celron abzunehmen und sie gehen zu lassen. Aber er hatte keine Ahnung, wie er das anstellen sollte, ohne dem blutigen Pfad zu folgen, den er nie wieder hatte beschreiten wollen. Und selbst wenn: Er hatte niemanden auf seiner Seite, der ihm dabei helfen würde.
»Du solltest wirklich gehen«, fuhr Bulla fort. »Die Herren von Smallridge werden sich nicht mit den Templern anlegen wollen und dich lieber ausliefern, als eine Konfrontation mit der Regentschaft zu riskieren.« Er schien zu überlegen, welche Worte er als nächstes wählen sollte. »Wenn du wirklich der bist, für den ich dich halte, solltest du dich bemerkbar machen. Es gibt viele Renegaten in Smallridge und ich bin mir sicher, dass sie dir durch die Hölle folgen würden.«
»Ich danke dir für deine Hilfe, Bulla«, erwiderte Dex. »Aber diesen Weg muss ich alleine gehen und ich will nicht, dass mir jemand in den Abgrund folgt.«
»Wie du willst«, bemerkte er knapp. »Ich hoffe für dich, dass du die richtigen Entscheidungen treffen wirst. Valve, Dex Ateius, Lichtbringer.«
»Valve …«
Dex trennte die Verbindung und stierte abwesend auf den abgenutzten Boden, als ihm auffiel, dass Ilvy wach war. Die kleine Wölfin starrte ihn traurig an. Anscheinend hatte sie das Gespräch mitverfolgt. Bulla hatte ihren baldigen Tod prophezeit und Dex würde nichts dagegen tun können. Er hatte die Verantwortung über sie aus einer Bauchentscheidung
heraus übernommen und die Kontrolle verloren. Was hatte er sich nur dabei gedacht? Der einzige verbleibende Weg, sie vielleicht retten zu können, war der, sie zum Inquisitor zu bringen – was gleichzeitig ihren sicheren Tod bedeutete. Eine Lösung, die sich im Grunde selbst ausschloss. Dex spürte, dass seine Augen feucht wurden, und wischte sich beiläufig übers Gesicht, als Ilvy die Hand auf die seine legte.
»Ist … ist schon gut. D… danke.«
Dex strich über ihre Wange, stand auf und half ihr hoch. »Wir müssen los.«
Vor der Unterkunft wurden sie von Bullas Männern erwartet, die sie zum Parkdeck begleiteten. Auf dem Weg durch die Anlage fielen Dex mehrere Vermummte auf, die sie zu beobachten schienen. Die Kerle wandten sich ab, sobald sie ihre dunklen Aufenthaltsorte passierten, und begannen in mobile Komm-Geräte zu flüstern, wenn sie außer Hörweite waren. Anscheinend hatten die Templer Spitzel in Smallridge platziert, die Dex seit seiner Ankunft beobachteten und ihre Auftraggeber auf dem laufenden hielten – oder Louis hatte ihn an Varro verraten. Dex verdrängte diesen besonders schmerzvollen Gedanken und folgte Bullas Männern, bis sie den breiten Korridor erreichten, der sie zum Transporter führte. Er schnallte Ilvy auf dem Beifahrersitz fest, überprüfte die Maschinenpistole im Fußraum und hängte sich diese um den Hals. Danach stieg er ein und startete den Motor.
Als die Wolkenkratzer im Rückspiegel immer kleiner wurden, fiel ihm auf, dass er unbewusst den Weg zum Außenposten eingeschlagen hatte, obwohl er sich im Klaren war, dass der ihn direkt in die Hölle führen würde. Auf der anderen Seite wusste er nicht, wo er Ilvy sonst hinbringen sollte. Sie war so oder so verloren. Dex konnte sie auf ihrem letzten Weg begleiten – oder sie wie ein
Feigling zurücklassen. Allerdings fühlte sich die zweite Option mittlerweile unerträglich falsch an, weshalb er sie kurzerhand über Bord warf und sich dafür schämte, sie überhaupt in Erwägung gezogen zu haben.
Nachdem er einen Hügel umfahren hatte, entdeckte er mehrere Fahrzeuge, die den ausgefahrenen Weg blockierten. Dex identifizierte vier Transporter. Von dem Radpanzer, den Bulla erwähnte, war nichts zu sehen. Er hielt an und sah sich die Straßensperre mit Hilfe des Feldstechers an. Mehrere bewaffnete Gestalten hatten sich um die Wagen herum in Deckung gelegt. Hin und wieder blitzte die Reflexion eines Visiers auf, das die kalten Strahlen der Abendsonne reflektierte und das Versteck des jeweiligen Templers verriet. Vor der Blockade zweigte ein schmaler Pfad in nordöstlicher Richtung ab. Wenn Dex diesen unbeschadet erreichen würde, hätte er eine Chance, seinen Verfolgern zu entkommen.
Oder du überlässt sie ihnen einfach und hoffst darauf, dass sie dich ziehen lassen!
Dex schüttelte den Gedanken ab, steckte das Fernglas weg und legte die Hände unschlüssig aufs Lenkrad. Flucht oder Konfrontation? Aber wohin flüchten? Hier draußen gab es nichts. Außerdem blieben ihm nur fünfzehn lächerliche Stunden. Da Ilvy ihm nicht mitteilen konnte, was sie
wollte, würde er für sie entscheiden müssen. Und er würde es nicht übers Herz bringen, sie in irgendeiner Absteige zu verstecken und darauf zu warten, dass der Celron sie tötete. Denn sein Kampfgeist war zurück und so lange es eine Chance gab, sie zu retten, würde er diese ergreifen – auch wenn er ihre Situation dadurch verschlimmerte.
Nach einigen Minuten der Unentschlossenheit traf er eine Entscheidung, startete den Motor und fuhr im Schritttempo zur Blockade. Er rechnete jeden Augenblick
damit, erschossen zu werden, und atmete erst auf, als er den Wagen stoppte und ausstieg. Er legte Maschinenpistole und Shotgun auf die Motorhaube, platzierte die Hände hinter dem Kopf und kniete sich in die Asche.
Einige Sekunden später preschte der Radpanzer aus dem schmalen Pfad und hielt mit heulendem Motor auf ihn zu. Das Fahrzeug bremste hinter ihm ab. Kurz darauf öffnete sich dessen Heckklappe und mehrere Templer in dunklen Kampfpanzern stürmten mit erhobenen Waffen heraus. Sie umzingelten ihn und warteten auf ihre Anführerin. Die Frau hatte zu Dreadlocks geflochtene schwarze Haare, die bis über ihren Rücken herabhingen. Ihr Gesicht war mit Asche beschmutzt, die ihre dunklen Augenpartien verstärkten und zu ihren schwarz geschminkten Lippen passten. Ihre dunkeln Augen wirkten hart, ihre Bewegungen entschlossen. Sie näherte sich ihm von hinten und zog sein Schwert aus der Scheide. Danach trat sie vor ihn und tippte mit finsterem Blick auf zwei Initialen im Knauf der Waffe, die Dex bisher nicht aufgefallen waren. L.M. – Lucius Mallus.
»Das wird Varro nicht gefallen.« Sie nickte jemandem hinter Dex zu, der ihm einen Augenblick später den Kolben einer Waffe gegen den Schädel hämmerte.
Er fiel benommen nach vorne in den Dreck und registrierte aus den Augenwinkeln, wie die Templer Ilvy aus dem Transporter zwangen und zum Radpanzer schleiften. Sie versuchte, sich zu wehren, aber die Drogen und der Celron hatten sie fast gebrochen, weshalb die Männer leichtes Spiel hatten.
»Ich würde dich lieber auf der Stelle hinrichten«, fuhr die Frau fort. »Denn einen potentiellen Gegner am Leben zu lassen, widerspricht meinen Instinkten. Aber mein Bruder wird wissen wollen, wie du an die Waffe seines
abgängigen Partners gekommen bist.« Sie verzog den Mund zu einem wissenden Schmunzeln. »Auch wenn die Antwort auf diese Frage auf der Hand liegt, richtig?«
Dex sagte nichts und wartete, bis die Frau ihren Untergebenen befahl, ihn zu fesseln und in den Radpanzer zu bringen. Sie zwangen seine Hände auf den Rücken, legten ihm Handschellen an und verpassten ihm vorsichtshalber einen weiteren Schlag gegen den Schädel. Danach rissen sie ihn auf die Beine und schleiften ihn zu dem gepanzerten Fahrzeug. Sie stießen ihn ins Innere und brachten ihn zum Heck, wo sie ihn zusammen mit Ilvy in ein winziges Abteil sperrten. Danach setzte sich der Radpanzer in Bewegung.
Dex lag auf der Seite und starrte die kleine Wölfin stumm an, während sie seinen verlorenen Blick erwiderte. Sein Kopf pochte vor Schmerzen. Er spürte jede Erschütterung des Fahrwerks, jedes Loch, jedes Hindernis und jedes Abbremsen oder Gasgeben. Trotzdem fühlte er sich wie erschlagen und drohte, in einen Dämmerzustand abzudriften, der sein Bewusstsein vor den kräftezehrenden Gedanken abschirmen würde, die ihn unentwegt plagten.
Hast du wirklich das Richtige getan?
Er wird euch beide töten!
Du hättest sie zurücklassen sollen!
Warum hast du dich ihnen kampflos ergeben?
Du hast ihr Schicksal besiegelt!
Sie war ohnehin verloren!
Warum hast du dich für sie geopfert?
Er wird ihr wehtun – und das ist allein deine Schuld!
Dex versuchte, sich auf irgendetwas zu konzentrieren, um sich zu beruhigen und wieder einen klaren Gedanken fassen zu können. Bis ihm der alte Spruch der Renegaten einfiel, der sich bereits vor Jahren tief in sein Gedächtnis
gebrannt hatte, und ihn auch für den Rest seines Lebens nicht mehr loslassen würde. Ein Zeichen des Widerstands gegen die Regentschaft, der von tausenden abgetauchter Renegaten geteilt wurde.
»Bereit zum Kampf, sich zu erheben, und gegen den Feind zu stemmen. Bereit, für die Verlorenen in den Krieg zu ziehn’ …«
»… und für immer im Licht zu brennen.«