Dex spürte, wie sich die verdammten Drogen in seinen Adern ausbreiteten und sein Rückgrat in eine Säule aus Gummi verwandelten. Er saß am Boden eines Quartiers des Außenpostens, konnte sich kaum aufrecht halten und hielt seinen Blick stur auf Ilvy gerichtet. Die Anführerin der Templer – Cilla – hatte die kleine Wölfin auf den Untersuchungsstuhl des Lazaretts schnallen lassen und einen Lösungsemitter an ihrer Ellbogenbeuge angebracht. Ilvy stemmte sich mit aller Macht gegen die Männer, konnte aber dank ihres entkräfteten Körpers keinen Widerstand leisten, weshalb sie leichtes Spiel mit ihr hatten. Cilla öffnete einen schwarzen Behälter, nahm eine Kartusche mit grünlich schimmerndem Inhalt heraus und setzte sie in den Lösungsemitter. Danach aktivierte sie das Gerät und lächelte Ilvy diabolisch an.
»Wir wollen doch nicht, das du das Beste verpasst, nicht wahr?«
Danach ging sie zu Dex, der ihren Bewegungen nur noch schwer folgen konnte. Sie zog bereits ein Echo hinter sich her, das von Sekunde zu Sekunde länger zu werden
schien, während sich die Drogen in ihm ausbreiteten und ihn zu einem wehrlosen Opfer degradierten. Gleichzeitig kreisten seine Gedanken um den Fakt, dass Ilvy tatsächlich eine Rebellin war. Sie hatte im Radpanzer den Renegaten-Spruch vollendet. Damit stand außer Zweifel, dass sie im Krieg auf derselben Seite gekämpft hatten – gegen die Regentschaft und deren verfluchte Schergen.
Der Krieg ist lange vorbei,
protestierte eine Stimme in seinem Kopf. Du hättest dich nicht selbst aufgeben dürfen. Nicht für eine Todgeweihte!
Dex verdrängte den Gedanken und biss knurrend die Zähne zusammen. Allein aufgrund des Fakts, eine Rebellin zu sein, war er verpflichtet, ihr zu helfen. Denn was würde von ihm übrigbleiben, wenn er die Vergangenheit verleugnen und sich nur noch um sich selbst kümmern würde? Nichts, das wert wäre, gerettet zu werden!
Die Drogen machten es ihm schwer, über all das nachzudenken, weshalb er versuchte, sich auf die Eindrücke der vorangegangen Ereignisse zu konzentrieren, um wenigstens etwas zur Ruhe zu kommen.
Nachdem die Kolonne in den Außenposten eingefahren war, hatte Cilla ihn und Ilvy von ihren Templern aus dem Radpanzer zerren lassen. Sie hatten sie vor dem Kontrollbunker auf die Knie gezwungen, bis Varro erschienen war und seine Schwester begrüßt hatte, während die Mitglieder der Eliteeinheit die Gefangenen keine Sekunde aus den Augen ließen. Am Horizont, den die kalte Sonne bereits zur Hälfte hinter sich gelassen hatte, zog derweilen ein weiterer Aschesturm auf. Dex schätzte, dass dieser in wenigen Stunden über die Basis herfallen würde, was sein Zeitfenster für eine etwaige Flucht erheblich verkürzte. Von Louis oder seinen Männer war nichts zu sehen. Varro schien die Basis übernommen
zu haben und Dex’ Zweifel, ob er wirklich die richtige Entscheidung getroffen hatte, wurden mit jeder Minute größer. Beim Aussteigen hatte er einen Toten im Dreck liegen sehen. Ob es sich dabei um Louis gehandelt hatte, wusste er nicht. Aber allein die Tatsache, dass es anscheinend Tote gegeben hatte, ließ seine Eingeweide verkrampfen. Bestätigte sie doch die Befürchtungen, die er von Anfang an wegen des verdammten Inquisitors hatte.
Ilvy kniete neben ihm und zitterte wie Espenlaub. Sie wagte es nicht, Varro anzusehen, und starrte ängstlich in den Dreck, bis er zu ihr ging, die Finger unter ihr Kinn schob und sie zwang, den Kopf zu heben.
»Ich freue mich darauf, unser Gespräch fortführen zu können, Miststück. Und ich verspreche dir, dass du keine Sekunde davon vergessen wirst.«
Danach warf er einen missmutigen Blick auf Dex. »Wer ist das?«
»Octavius’ Söldner«, erwiderte Cilla.
»Warum hast du ihn nicht erledigt? Er wird uns nur belasten.«
Sie holte Mallus’ Klinge aus dem Radpanzer und gab sie ihrem Bruder. »Deswegen. Er hatte sie bei sich. Und ich dachte, du hättest vielleicht die ein oder andere Frage bezüglich Mallus’ Verbleib an ihn.« Sie bedachte Varro mit einem tadelnden Blick. »Außerdem bist du nicht verpflichtet, ihn durchzufüttern.«
Als Varro die Initialen auf dem Knauf erkannte, verwandelte sich sein Gesicht in eine hasserfüllte Fratze.
»Wo hast du das Schwert her?«
Bevor Dex antworten konnte, trat ihm der riesige Mann vor die Brust. Die Wucht des Tritts schleuderte ihn gegen einen Reifen des Radpanzers, wo er nach Atem röchelnd sitzen blieb
.
»Woher?«
»Ge… gefunden«, log Dex hustend.
»Lügner!«
Varro trat nach seinem Gesicht, verfehlte es nur knapp, und erwischte stattdessen die Radkappe.
Danach kniete er sich auf Dex’ Brustbein und hob drohend den Knauf, um ihm damit den Schädel einzuschlagen. »Wo genau?«
»In … in der Nähe … des Purgatoriums.«
»Du lügst!« Varro riss ihn am Kragen hoch und wuchtete ihn gegen die Seitenwand des Radpanzers. »Lucius hätte diese Klinge mit seinem Leben verteidigt! Wie also konnte ein Niemand wie du, in ihren Besitz gelangen?«
»Ich … hab sie gefunden«, wiederholte Dex sich. »Sie … sie lag in einer Senke.«
»Du bist ein verfluchter Lügner! Ich sollte dich auf der Stelle …«
»So gerne ich dir auch bei der Arbeit zusehe, Bruder«, mischte Cilla sich ein, »aber wir haben keine Zeit für dieses Theater. Heb ihn dir für später auf, ja? Regulator Victrix …«
»Es geht um Lucius!«, fuhr er sie an, als ob sie Gott persönlich beleidigt hätte.
Cilla trat unbeeindruckt vor und erwiderte seinen Blick. »Vergiss nicht, warum wir hier sind«, begann sie lauernd. »Regulator Victrix wird kein weiteres Versagen dulden. Ich hab dich gewarnt, aber du hast nicht auf mich gehört. Jetzt leb mit den verdammten Konsequenzen.« Kurz darauf fuhr sie mit sanfterer Stimme fort. »Meine Templer haben alles vorbereitet. Ich lass die beiden in den Verhörraum bringen und Du wirst machen, was du am besten kannst. Danach gehört er dir.« Sie hob mahnend den Zeigefinger, als Varro etwas erwidern
wollte. »Aber zuerst beschaffst du die verdammten Koordinaten.«
Er verzichtete auf einen Kommentar, verabreichte Dex vor Wut knurrend einen Kopfstoß und ließ ihn achtlos auf den Boden fallen.
»Bereite alles vor!«
Cilla nickte. Einen Augenblick später befahl sie ihren Templern, Dex und Ilvy in eine der Kasernen zu bringen.
Dex bemerkte, dass viele der Quartiere von außen verschlossen waren und vermutete Louis’ Männer in den improvisierten Zellen – oder die, die noch am Leben waren. Nur zwei der Unterkünfte wurden von jeweils einem Templer bewacht. Cilla scheuchte eine der Wachen zur Seite, öffnete die Luke und sah sich zufrieden um. Danach ließ sie Dex und Ilvy in den Raum bringen. Bevor er reagieren konnte, legte sie ihm die Hand in den Nacken und zog ihn blitzschnell zu sich. Wie eine hungrige Schlange, die nach Beute schnappte. Der Stich der Injektionsnadel ließ ihn zusammenzucken. Danach spürte er, wie die brennende Lösung in seine Halsschlagader gepumpt wurde.
Cilla sah ihn triumphierend an und wartete, bis die Drogen zu wirken begannen. Danach nickte sie dem Templer zu, der Dex vor einer Wand auf den Boden zwang und anschließend den Raum verließ. Sie ging vor ihm in die Hocke, stützte sich mit den Ellbogen auf den Oberschenkeln ab und sah ihn lauernd an.
»Ich denke nicht, dass du ein einfacher Söldner bist. Und ich bin gespannt, was Varro alles aus dir herausholen wird, wenn du an der Reihe bist.« Sie setzte ein wissendes Lächeln auf, erhob sich und ging zu Ilvy, um ihr den Lösungsemitter auf die Ellbogenbeuge zu setzen. Danach verlor Dex sie für einen Moment aus den Augen und hatte
Mühe, den Drogen nicht vollends nachzugeben. Der Kampf gegen deren Wirkung nahm den größten Teil seiner Aufmerksamkeit in Anspruch, weshalb er nur am Rande registrierte, wie Cilla die Kartusche mit der Entgiftungslösung einsetzte und den Emitter aktivierte. Während Dex’ Sichtfeld sich verringerte, schien Ilvys Blick immer klarer zu werden. Als sie sich all der ungefilterten Schmerzen bewusst wurde, begann sie panisch nach Luft zu japsen. Cilla bedachte sie einen Moment lang mit einem bedauernswerten Blick, der tatsächlich echt zu sein schien, bis sich die Luke öffnete und Varro den Raum betrat. Einen Augenblick später verhärtete sich ihr Ausdruck schlagartig und glich sich dem ihres Bruders an. Sie wich zur Seite und wies ihn auf den Kunststoffkoffer hin, in dem sich mehrere Ampullen, Spritzen und Kartuschen befanden.
Er nickte ihr zu, zog einen der winzigen transparenten Behälter aus der Halterung und ging zu Ilvy, um die Hand auf den Scanner des Celrons zu pressen. Diese leuchtete bläulich auf und gewährte ihm Zugriff aufs System des Folterinstruments, das er mit einer Reihe von Sprachbefehlen steuerte. Als sich eine kleine Klappe auf dessen Oberfläche öffnete, steckte er die Ampulle mit der gelben Lösung in die darunter verborgene Vorrichtung und legte die Finger um den Hals der kleinen Wölfin.
»Wie lauten die Koordinaten?«
»I… ich weiß … nicht.«
Varro richtete sich lächelnd auf. »Injizieren!«
Kurz darauf sackte die Ampulle zwei Fingerbreit ab und ein leises Zischen erklang. Einige Sekunden später bäumte sich Ilvy vor Schmerzen auf und versuchte, sich loszureißen. Der Celron reagierte und zog sich zusammen, bis ihre Rippen knackten und Varro die Intensität etwas
zurücknahm. Die Lösung schien ihr höllische Schmerzen zu bereiten, trieb ihr die Tränen in die Augen und ließ ihre Muskeln krampfen. Die Prozedur dauerte mehrere Minuten, bis sie schweißüberströmt zur Ruhe kam und ihr flehender Blick durch den Raum wanderte, bis sie Dex fand.
»Er kann dir nicht helfen«, stellte Varro kalt fest. »Niemand kann dir helfen. Also: Wie lauten die Koordinaten?«
»Ich … ich weiß n… nicht.«
»Wie du willst. Ich hab eine Menge dieser Ampullen und ich werde dir jede einzele davon in den Körper jagen.«
Er lud den Injektionsmechanismus des Celron erneut und versenkte die Lösung in Ilvy, die sich daraufhin wand, als ob sie bei lebendigem Leib verbrennen würde.
Dex fühlte sich mit jeder Minute schlechter. Er bereute seine Entscheidung, die kleine Wölfin hierherzubringen und wünschte sich, er
würde auf dem Stuhl sitzen und die Qualen über sich ergehen lassen müssen. Immerhin hatte er dafür gesorgt, dass sie in dem Behandlungsstuhl gelandet war, womit er die volle Schuld an dem Trug, was Varro ihr antat.
Dex hatte Mühe, die Augen offenzuhalten und schämte sich dafür, fast einzuschlafen, während sich Ilvy die Seele aus dem Leib brüllte. Die Wirkung der Drogen war extrem stark. Er versuchte, sich dagegenzustemmen, aber deren betäubende Impulse legten sich über seinen Verstand und seine Sinne, bis er das Gefühl hatte, isoliert auf einer unendlich weiten Fläche zu sitzen. Er hatte sich in seinem bisherigen Leben noch nie so verloren gefühlt und versuchte krampfhaft, dieses unerträgliche Gefühl loszuwerden, bis seine Lider zu flattern begannen und ihm die Augen zufielen.
Varros Gebrüll holte ihn einen Moment später zurück
ins Jetzt. Zumindest dachte Dex, dass es sich nur um ein paar Sekunden gehandelt hatte. Allerdings hatte er den Überblick verloren und keine Ahnung, wie viel Zeit seit der ersten Injektion vergangen war.
Der Sturm hatte den Außenposten mittlerweile erreicht. Dessen Toben war deutlich zu hören, während schwere Donnerschläge die Gebäude erzittern ließen und fauchende Böen über die Anlage fegten. Ilvys Zustand war erbärmlich. Varro musste sie durchgehend gefoltert haben, während Dex weggetreten war. Sie hing panisch atmend in den Gurten, zitterte am ganzen Leib und schien sich vor Schmerzen eingenässt zu haben.
Ihr Anblick rüttelte Dex etwas auf, was zur Folge hatte, dass sein Dämmerzustand langsam nachließ. Er warf einen beiläufigen Blick auf Cilla, die müde blinzelnd in einer Ecke saß und Varro beobachtete, der dabei war, sich in Rage zu brüllen.
»Wie lauten die verdammten Koordinaten! Mach endlich dein Maul auf oder ich werde dir jeden Knochen deines Körpers brechen, wenn du dich weiterhin stur stellst! Du dreckiges verfluchtes Miststück!«
Ilvys Willen schien nicht von dieser Welt zu sein. Nach allem, was Varro ihr angetan hatte, hielt sie seinem Blick stand, sammelte etwas Atem, und brüllte ihm ihre Antwort ins Gesicht.
»Ich weiß es nicht!«
Danach sank sie hustend zurück in den medizinischen Behandlungsstuhl und rang nach Atem.
Varro schleuderte fluchend einen Sessel gegen die Wand und aktivierte den Celron, bis Ilvys Rippen hörbar knackten und sie einen Schwall Blut hustete.
»Genug!« Cilla sprang auf und stellte sich ihrem
tobenden Bruder in den Weg. »Tot nützt sie uns nichts! Was ist nur los mit dir?«
»Sie hat Elor auf dem Gewissen!«, brüllte Varro. »Sie muss dafür bezahlen!«
»Aber erst, wenn sie dir die Koordinaten genannt hat! Denk an Victrix und dem, was er uns und unserer Familie antun wird, wenn wir nicht liefern!« Sie schlug ihm wütend vor die Brust. »Reiß dich zusammen!«
Varro taumelte überrascht zurück. Er schien nicht mit dem Ausbruch seiner Schwester gerechnet zu haben. Seine Augen funkelten sie hasserfüllt an, bis er sich etwas beruhigte und den Celron in den Ursprungszustand versetzte.
»Mach das nicht noch mal«, warnte er sie. »Ich bin ein Inquisitor des Interrex. Ich habe es verdient, mit Respekt behandelt zu werden. Auch von dir.«
Sie hob beschwichtigend die Hände. »Bitte sieh mir meine Unbeherrschtheit nach, Var. Aber es steht zu viel auf dem Spiel. Denk an all die harte Arbeit und die Mühen, die wir auf uns genommen haben, um die Positionen zu erreichen, die wir im Moment innehaben. Je höher wir in der Hierarchie steigen, desto dünner wird die Luft zum Atmen. Ein Fehler kann alles verderben. Das ist alles, um was es mir geht.«
»Sie hat unseren Bruder auf dem Gewissen und sie wird dafür bezahlen.«
»Natürlich wird sie das.« Sie hielt seinem stahlharten Blick nach wie vor stand. »Aber zuerst brauchen wir die Koordinaten.«
Varro verzichtete auf eine Antwort und wollte die nächste Ampulle aus dem Behälter holen, als ein Signalton erklang. Cilla ging zur Luke und betätigte deren Komm-System.
»Was ist?
«
»Regulator Victrix verlangt den Inquisitor zu sprechen«, dröhnte eine Stimme aus dem Lautsprecher.
»Nicht jetzt«, mischte Varro sich ein. »Ich bin kurz davor, die Ketzerin zu brechen.«
»Er besteht darauf.«
Varro legte die Ampulle fluchend zurück und verließ das Quartier.
Nachdem sich die Luke geschlossen hatte, atmete Cilla erleichtert auf, streckte ihren Rücken und straffte die Schultern. Danach ging sie zu Ilvy, die zitternd auf dem medizinischen Behandlungsstuhl lag.
»Warum machst du es dir so schwer, Liebes?« Sie strich mehrere verklebte Strähnen aus Ilvys Stirn. »Du zögerst es nur unnötig hinaus. Dein Widerstand wird an deinem Schicksal nichts ändern. Varro wird dich brennen lassen, wenn er mit dir fertig ist.« Sie seufzte. »Sag mir, was er wissen will, und ich sorge dafür, dass du von den Flammen nichts spüren wirst.« Sie hielt demonstrativ die Injektionspistole hoch. »Wenn du dich allerdings weiterhin stur stellen solltest, werde ich dir deine letzte Reinigung so unangenehm wie möglich machen. Also?«
»Ich … kenne … die Koordinaten … nicht.« Ihre Stimme war nur noch ein Hauch. Wie das Flüstern eines Geists, der im Begriff war, sich aufzulösen.
»Das ist bedauerlich, denn es zerbricht mir das Herz, dich leiden zu sehen.«
Dex’ Gefühl kehrte langsam in seinen Körper zurück. Seine Finger begannen bereits zu kribbeln. Es würde nicht mehr lange dauern, bis er sich einigermaßen würde bewegen können. Nur noch ein paar Minuten. Er ließ seinen Blick über die Umgebung schweifen und hielt nach etwas Ausschau, das er gegen Varros Schwester einsetzen konnte. Nicht weit von ihm entfernt lag ein Metallrohr auf
dem Boden, das zum Rahmen der Pritsche gehörte, die Cillas Templer entsorgt hatten. Er verlagerte sein Gewicht, kippte nach links und stützte sich im letzten Moment ab. Danach rutschte er Zentimeter für Zentimeter über den Boden, den Fokus auf das Rohr gerichtet, das sich nur noch einen halben Meter von ihm entfernt befand. Als er seine tauben Finger danach ausstrecken wollte, spürte er etwas Warmes an seinem Hals. Cillas Atem! Er war so auf das verdammte Rohr fixiert gewesen, dass sie sich ihm unbemerkt hatte nähern können.
»Willst du mir das Ding über den Schädel ziehen?« Sie klang belustigt. »Komm, ich helf dir.« Sie zog das Metallrohr zu sich und legte es ihm in die Hand. »Das ist deine große Chance. Wenn du es schaffst, mich damit auszuschalten, bevor ich dir die nächste Injektion verpasse«, sie legte eine schwarze Ampulle in die Injektionspistole, »bist du frei.« Sie kicherte und setzte die Nadel an seinen Hals, während er krampfhaft versuchte, das Rohr anzuheben. Aber seine Muskeln wollten ihm nicht gehorchen, weshalb es ihm aus der Hand fiel und wegrollte.
Cilla schnaubte derweilen verächtlich. »Allein die Tatsache, dass du mich damit verletzen wolltest, macht mich wütend.« Sie entsicherte die Pistole. »Zeit zu schlafen, du Held. Und falls du nach dieser Lösung wieder aufwachst«, sie hielt die Injektionspistole vor seine blinzelnden Augen, »wird deine kleine Freundin schon lange verbrannt sein.«
Dex versuchte verzweifelt, die Hand zu heben. Er knurrte vor Wut und wollte sich ihr entziehen, aber sie legte die Finger um seinen Nacken und zog ihn amüsiert zu sich, um ihm die brennende Lösung in die Halsschlagader zu jagen.
Louis saß zerknirscht auf dem Boden der Zelle. Sein Bein bereitete ihm massive Schmerzen. Gabrielle hatte die Blutung gestillt und ihm einen Verband angelegt, allerdings hatte Varro ihm keine Schmerzmittel zugestanden. Vermutlich eine Sicherheitsmaßnahme, um ihn zu beschäftigen und seinen Bewegungsradius einzuschränken. Das verdammte Pochen machte Louis langsam wahnsinnig, aber das war im Moment nicht sein größtes Problem. Gabrielle kauerte im Eck gegenüber und fror. Sie hatte die Beine angezogen und die Arme um ihre Knie geschlungen. Er hatte ihr seine Jacke angeboten, aber sie hatte abgelehnt und sie ihm vor die Stiefel geworfen. Wie ein trotziges Kind, das drohte, an einer Lungenentzündung zu sterben, aber aus falschem Stolz keine Hilfe annehmen wollte. Sie musste ständig husten und Louis begann sich ernste Sorgen zu machen. Die Kälte, der Staub und der Schimmel würden ihrer ohnehin angeschlagenen Gesundheit den Rest geben. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Wirkung von Varros Lösung aufhören würde und Louis wagte es nicht, sich vorzustellen, was Gabby dann bevorstand.
Er verfluchte sich selbst. Wie hatte er nur auf die Idee kommen können, sich mit der Regentschaft anzulegen? Vermutlich hatte ihn sein verletzter Stolz dazu getrieben. Sein dummes Ego, das nicht hatte ertragen können, dass sie ihn seiner Position und Privilegien enthoben und in die Einöde verbannt hatten. Ohne triftigen Grund oder etwas, das er sich hatte zuschulden kommen lassen. Nur weil er zur falschen Zeit in der Zitadelle Ankhroms angetroffen und als ein Bauernopfer ausgewählt worden war. Nur weil er dem alten Kaiser stets treu gedient hatte und seine
Loyalität diesem gegenüber keinen einzigen Kratzer aufwies. Nur weil er seine Arbeit gutgemacht und nie vom vorgegebenen Weg abgewichen war. Aber damit war jetzt Schluss. Falls sich die Chance bieten würde, wäre er bereit, alles zu tun, um Gabby zu retten. Auch wenn er seinen Ruf dadurch endgültig zerstören würde.
»Bitte zieh die Jacke an.«
»Nein.«
»Du wirst dir den Tod holen.«
»Macht jetzt auch keinen Unterschied mehr«, erwiderte sie stur. »Du hast alles zerstört.«
»Gabby …«
»Und sag nicht, du hättest es für mich
getan.«
»Hab ich aber«, entgegnete er zerknirscht. »Ich will dich nicht verlieren.«
»Ich hab dich gebeten, Dex nicht zu verraten – aber du hast es trotzdem getan!«
»Varro hätte dich getötet! Was hätte ich denn sonst machen sollen? Ihn uns beide erschießen lassen?«
Gabrielle verzog den Mund und wich seinem Blick aus.
»Es tut mir leid, okay? Ich dachte, ich könnte gegen die Regentschaft ankommen. Ich wollte uns ein besseres Leben verschaffen. Ein Leben, das wir uns verdient haben.« Er bedachte sie mit einem trotzigen Blick. »Ich hab über drei Jahrzehnte meines Lebens für den Kaiser geopfert und das soll jetzt der Dank dafür sein?« Er machte eine ausholende Bewegung mit dem Arm. »Wir leben nur noch, weil ich damals bei den Bürgern zu beliebt war, als dass sie uns einfach hätten hinrichten können. Deshalb haben sie uns hier draußen zu einem langsamen Tod verdammt. Einem Tod ohne Ehre.« Er spürte, wie seine Augen feucht wurden. »Und das haben wir weiß Gott nicht verdient! Ich will nicht hier draußen sterben! Und
das will ich auch nicht für dich! Du bist die Frau eines Legaten! Deine Eltern waren hochrangige Beamte unter Subicus Gaius Cäsar! Meine Linie war über hundert Jahre lang ohne Makel, mein Ruf über Jahrzehnte tadellos! Er wurde nur wegen der Willkür der Usurpatoren zerstört, die die Anhänger des alten Kaisers zum Schweigen bringen wollten!«
»Ich weiß«, erwiderte sie mit sanfter Stimme. »Aber Dinge ändern sich. Was vor zehn Jahren richtig war, wird heute geächtet. Du warst immer gegen die Rebellen, weil du hofftest, die Werte der Alten Ordnung würden sich irgendwann wieder durchsetzen. Aber das ist nicht geschehen. Der Interrex hat die Bevölkerung mit Angst und Schrecken im Zaum gehalten, bis sich die neuen Werte in ihre Köpfe gebrannt haben. Und jetzt ist es zu spät, um etwas daran zu ändern.«
»Das ist nicht mehr wichtig«, sagte er niedergeschlagen. »Du dagegen schon. Ich will dich nicht hier draußen beerdigen müssen.«
Gabrielle wischte sich über die tränennassen Augen.
»Tut mir leid, Gabby. Ich hab einen Fehler gemacht.« Er senkte betreten den Kopf. »Aber ich wollte wirklich nur das Beste für dich.«
»Ist schon gut.« Sie krabbelte zu ihm und kuschelte sich an ihn. »Ich liebe dich.«
»Ich dich auch«, erwiderte er und küsste sie. »Ich wünschte, ich hätte uns nicht in diese Lage gebracht. Wenn ich könnte, würde ich alles zurücklassen, mit dir verschwinden und irgendwo ein neues Leben beginnen. Egal wo.«
»Vielleicht ist es dazu noch nicht zu spät.«
Er verzog den Mund zu einem traurigen Schmunzeln. »
Varro wird uns nicht gehen lassen. Jedenfalls nicht lebend.«
»Dann müssen wir uns unsere Freiheit eben erkämpfen«, wandte sie ein. »Wie tausende Rebellen vor uns.«
»Dazu müssten wir erst mal hier rauskommen.«
Gabrielle küsste ihn, ließ die Hand unter dem Gürtel ihres Kleids verschwinden und zog seine Magnetkarte hervor. Sie musste sie eingesteckt haben, nachdem Varro ihn angeschossen hatte.
»Dann lass uns gehen.«
Gabrielles Entschlossenheit wärmte sein Herz. »Willst du das wirklich tun?«
Sie nickte. »Die Zeit, stillzuhalten, ist vorbei. Ich will nicht als Opfer eines irren Inquisitors enden. Lieber sterbe ich im Kampf um meine Freiheit, denn ich bin die stolze Frau eines hochdekorierten Legaten und habe mich mehr als einmal im Kampf bewährt.«
Louis musste sich von ihr aufhelfen lassen. »Ich bin stolz, mit einer Frau wie dir verheiratet zu sein, Gabby. Und ich werde dich nie vergessen, was immer auch geschieht.«
»Was immer auch geschieht«, wiederholte sie und küsste ihn ein letztes Mal.
Louis wandte sich um, humpelte entschlossen zum Eingang und hielt die Karte vor den Scanner des Sicherheitsschlosses. Danach atmete er scharf aus und riss knurrend die Luke auf.
Dex saß zitternd an der Wand, während die Drogen sich wie eine Klammer über sein Gehirn legten und es zunehmend betäubten. Seine Muskeln zogen sich unkontrolliert
zusammen und er hatte das Gefühl, nicht mehr richtig atmen zu können. Sobald die Lähmung seine Zunge befallen würde, würde er jämmerlich ersticken. Cilla saß derweilen auf seinem Schoss und sorgte mit ihrem Körpergewicht dafür, dass er nicht zur Seite kippte.
»Hast du gewusst, dass die Hälfte der Probanden an dieser Lösung erstickt?« Sie beobachtete ihn aufmerksam. »Es handelt sich um einen Prototyp zur Deeskalation aggressiver Elemente.« Sie hob seine schlaffe Hand und ließ sie demonstrativ auf den Boden fallen. »Scheint zu funktionieren. Die Frage ist, ob du stark genug bist, den Prozess zu überleben.« Sie lächelte wie eine neugierige Fünfjährige, die es kaum erwarten konnte zu sehen, ob das Experiment gelang oder nicht. »Ich hätte klar auf dich gesetzt …« Sie lehnte sich etwas nach hinten und stützte sich mit den Händen am Boden ab. »… aber viellicht gibst du ja auch einfach auf und lässt los? Würdest dir damit viel Schmerzen ersparen. Wie auch immer. Ich bin gespannt, wie du dich entscheiden wirst.«
Dex konnte die Augen kaum offenhalten. Die Drogen drängten in sein Bewusstsein und legten sich über sein Ich, das sich knurrend gegen deren Wirkung stemmte und verbittert um jeden Millimeter kämpfte. Gleichzeitig hielten ihm die gedämpften Eindrücke seine wahren Überzeugungen, Einstellungen und sein sich nach Gerechtigkeit verzehrendes Wesen vor Augen, das er all die Jahre verdrängt und für eine sichere Existenz geopfert hatte. Ein unscheinbares Leben am Rand der Gesellschaft, ohne Wirkung oder der Chance, etwas zum Besseren verändern zu können. Die letzten fünf Jahre spiegelten sein wahres Ich in keiner Weise wieder und es hatte erst einer notleidenden Wölfin sowie eines gnadenlosen Inquisitors bedurft, um ihm dies klarzumachen. Mit der unumstößlichen
Einsicht, sich seiner Verantwortung entzogen zu haben, wuchs sein Widerstand. Er stemmte sich gegen die Wirkung der Drogen und konzentrierte sich auf seine Atmung, bis er sie so weit stabilisiert hatte, um nicht zu ersticken.
Cilla lächelte ihn verzückt an und legte den Kopf schief. »Ich wusste, dass du kein gewöhnlicher Söldner bist. Varro wird seinen Spaß mit dir haben.« Ihr Blick verdunkelte sich. »Jammerschade, aber nicht zu ändern.«
Das Signal des Quartiersystems zerriss die im Raum herrschende Stille und ließ sie unmerklich zusammenzucken. Dex war Cillas Reaktion nicht entgangen. Sie schien ihren Bruder ebenfalls zu fürchten und verzog den Mund zu einem traurigen Schmunzeln, als sie aufstand und zum Eingangsbereich ging. Danach öffnete sie unbedarft die Luke – und wurde einen Augenblick später, von einem Knall begleitet, zurückgerissen und gegen die Ablage geschleudert. Kurz darauf stürmten Louis und Gabrielle in den Raum. Gabby lief zu Dex, stützte ihn und legte ihm die Hand auf die Stirn.
»Er glüht …«
»Drogen! Du musst ihn entgiften!« Louis deutete auf Varros Koffer, während er den Lauf der Waffe auf Cilla gerichtet hielt, die ächzend am Boden lag. Louis’ Treffer schien durch die Panzerplatten ihres Einsatzanzugs abgeschwächt worden zu sein.
Gabrielle erhob sich und ging zu dem schwarzen kofferartigen Behälter, der nach wie vor ausreichend mit Ampullen bestückt war. Sie fischte eine Grüne heraus, legte sie in die Injektionspistole und injizierte sie Dex in die Halsschlagader. Kurz darauf begann er sich vor Schmerzen zu krümmen. Die Entgiftungslösung brach wie ein Panzer durch seinen Organismus, legte seinen
Gleichgewichtssinn flach und brannte das Gift aus seinen Adern, während er sich wie eine Schlange am Boden wand. Gabrielle sah für einen Moment besorgt zu Louis und lenkte ihn lange genug ab, um Cilla auf den Plan zu rufen. Sie stieß einen Sessel mit Hilfe ihrer Beine in Louis’ Richtung, rollte zur Seite und zog eine Pistole. Er drückte überrascht ab und zerstörte den medizinischen Strahler hinter ihr. Cilla erwiderte das Feuer und schoss ihm in die Seite.
»Nein!« Gabrielle nahm das Metallrohr und schleuderte es ihr gegen den Kopf, worauf sie zurück stolperte und blind in Gabbys Richtung schoss. Die Treffer landeten über Dex in der Wand. Gabrielle verlor keine Zeit, setzte nach und trat ihr die Waffe aus der Hand. Sie verpasste ihr einen Schlag an den Kopf und einen Tritt gegen den Körper, bis Cilla sich fing und die Attacken erwiderte. Die Frauen schlugen in blitzschnellen Folgen aufeinander ein, parierten, blockten und konterten, während sie verbissen um den einen entscheidenden Treffer rangen. Louis hielt sich die Seite und versuchte verzweifelt, auf Varros Schwester anzulegen, aber sie bewegte sich zu schnell, als dass er eine freie Schusslinie hätte bekommen können. Gabrielle würde der jüngeren Frau nicht lange standhalten. Vor allem nicht in ihrem angeschlagenen Zustand. Dex zwang sich knurrend auf die Knie, verdrängte die Schmerzen, so gut es ging, und zog sich an einer Ablage nach oben. Er musste sich einen Moment abstützen, um nicht erneut umzukippen. Der Schwindel war unglaublich stark, aber sein eiserner Wille erkämpfte sich die Hoheit über seinen Körper Stück für Stück zurück, bis er in der Lage war, sich einigermaßen zu bewegen. Als er zu den Frauen stolperte, brach Cilla durch Gabrielles Deckung und versetzte ihr einen Schlag mit dem Ellbogen, der sie ins
Wanken brachte. Dex nahm ihren Platz ein und stellte sich vor Varros Schwester, die ihn wütend anfunkelte.
»Ich hätte dich erledigen sollen, als ich die Chance dazu hatte.«
»Dein Fehler«, knurrte er lauernd und hob die Fäuste. »Jetzt wirst du für deine Nachlässigkeit bezahlen.«
»In deinen Träumen …«
Sie griff ansatzlos an und traf sein Jochbein mit einem Fausthieb. Danach wollte sie ihm das Knie in den Magen rammen. Dex blockte den Angriff schwerfällig, konterte zu ihrem Kopf und verfehlte sie um wenige Zentimeter. Die Drogen verlangsamten seine Bewegungen, aber es wurde mit jeder Sekunde besser. Er musste nur lange genug durchhalten.
Cilla versetzte ihm einen Tritt gegen das Knie, der von seinem Schützer absorbiert wurde. Sie schlug zum Kopf, tauchte nach links ab und hämmerte ihm einen Haken in den Körper, der ihm die Luft aus den Lungen presste. Als sie ihm zum Anschluss einen gedrehten Kick verpassen wollte, fing er sie ab, nutzte ihren Schwung und schleuderte sie gegen die Wand. Er setzte nach, ließ eine Serie auf ihrer Deckung verpuffen und tat so, als ob ihm wieder schwindelig wurde, um sie unvorsichtig werden zu lassen. Cilla sah ihre Chance, holte aus und wollte ihn mit einem wuchtigen Schlag gegen den Hals niederstrecken. Er wich im selben Moment aus, drehte sich um die eigene Achse und verpasste ihr einen vernichtenden Tritt in die ungeschützte Flanke. Die Wucht des Treffers schleuderte sie an die Wand. Dex setzte nach und hämmerte ihr den Ellbogen gegen die Schläfe, worauf sie zusammenbrach und stöhnend liegenblieb. Er platzierte das Knie auf ihrer Körpermitte und nagelte sie mit seinem Gewicht fest, bis
Gabrielle neben ihm auftauchte, ihr die Injektionspistole an den Hals setzte und hustend abdrückte.
»Ich übernehme sie. Bitte kümmer dich um Louis.« Sie reichte ihm die Pistole und deutete auf Varros Behälter.
Dex nickte und wankte zu ihrem Mann, der sich ächzend an der Wand abstützte.
»Draußen … liegen … Templer. Du musst sie …«
»Kein Problem.« Dex lugte um die Ecke, betrat den Korridor und schleifte die beiden Toten in ein Quartier, dessen Luke offenstand. Danach lief er mit deren Waffen zurück. Er holte einen militärischen Mutmacher aus dem Behälter, legte ihn in die Injektionspistole und verabreichte Louis eine Dosis, die ihn vorübergehend aufrichten würde. Anschließend sah er sich die Verletzung an.
»Das sieht übel aus. Gabrielle sollte die Wunde behandeln.«
»Nicht jetzt«, erwiderte er ächzend. »Wir müssen weg. Es wird … nicht lange dauern, bis jemand merkt, dass etwas nicht stimmt. Du musst … die anderen befreien.«
»Was ist, wenn sie sich gegen mich stellen?«
»Werden sie nicht«, erwiderte Louis. »Varro hat Ben grundlos vor ihren Augen getötet. Ben war beliebt.«
»Und danach? Wo sollen wir hin? Nur Varro ist in der Lage, den Celron zu entfernen.« Er zeigte auf Ilvy, die nach wie vor auf dem Behandlungsstuhl festgeschnallt war und zu fiebern schien. »Sie darf nicht sterben.«
»Wir müssen einen Transporter kapern und verschwinden. Er wird uns verfolgen, aber der Sturm wird uns genug Zeit lassen, um uns auf ihn vorzubereiten.«
»Ein Gefecht?«
Louis nickte. »Es ist nicht zu umgehen.«
»Du hast recht und ich kenne einen Ort, der sich
perfekt dazu eignen würde.« Dex legte ihm die Hand auf die Schulter. »Sind meine Sachen noch da?«
»Das sind sie«, erwiderte Louis hustend. »Und es ist an der Zeit, dass du sie wieder trägst.«
Dex nickte und ging zum Behandlungsstuhl, während Gabrielle ihrem Mann einen improvisierten Verband anlegte. Dex löste Ilvys Gurte, riss einen aus der Halterung und fesselte Cillas Handgelenke. Danach befreite er die anderen Templer. Louis setzte sie ins Bild und bot jedem an, sein Glück auf eigene Faust zu versuchen, aber die ausgemusterten Veteranen, die ohne Louis keine Existenzberechtigung mehr gehabt hätten, stellten sich geschlossen hinter ihn und Gabrielle. Sie verteilten die wenigen erbeuteten Waffen unter sich und schmiedeten einen Plan, der aus ihrer Not herausgeboren wurde und erhebliche Risiken beinhaltete. Aber die Zeit für Besonnenheit und Zurückhaltung war vorbei und es würde nur an ihnen und ihrer Einsatzbereitschaft liegen, ob sie lebend aus der Misere herauskamen – oder eben nicht. Während die Männer den Eingang zur Kaserne blockierten, lief Dex zum Verbindungstunnel, durchquerte diesen und öffnete ein paar Sekunden später die Luke zum gesperrten Quartier, das er jahrelang als Versteck für seine Habseligkeiten benutzt hatte. Die Sachen lagen ausgebreitet auf dem Boden. Er verlor keine Zeit und wechselte den alten Overall gegen den widerstandsfähigen schwarzen Einsatzanzug. Danach befestigte er die leichten Panzerplatten an Schultern, Knie- und Ellbogen, Unterarmen und Schienbeinen und ließ sie in die Halterungen einrasten. Er legte Holster und Scheide an, steckte die blutrot schimmernden Ampullen in die Tasche neben das alte Kommunikationsgerät und stieg in die Stiefel. Der Kampfpanzer saß wie angegossen und es fühlte sich verdammt gut an, ihn wieder
zu tragen. Die Schulterpanzer trugen nach wie vor die Symbole seiner Einheit, die noch unter dem alten Kaiser gedient hatte, bis er von den Verrätern überworfen worden war. Rang und Name der Zenturie würden für jeden zu sehen sein und Dex hoffte, dass ihm keiner von Louis’ Templern in den Rücken fallen würde. Er atmete leise aus, verließ das Quartier und lief zurück zu den anderen, die sich größtenteils im Korridor aufhielten und ihm den Weg versperrten. Als sie Dex in dem Offizierspanzer entdecken, blieben sie erstaunt stehen und versuchten, einen Blick auf seine Rangabzeichen zu erhaschen. Er stoppte vorsichtshalber und senkte lauernd den Kopf. Eine Sekunde später erinnerte er sich Louis’ Worte, gab sich einen Ruck und schritt langsam durch die abgehalfterten Männer, die ihm anerkennend zunickten und den Weg freimachten.
Als Letzter trat Baldwin zur Seite. »Centurio …«
Dex erwidert die Geste und betrat den Verhörraum. Gabby säuberte Ilvys Körper von all dem Schweiß, der sich während der stundenlangen Folter darauf abgelagert hatte. Louis saß neben Cilla und hielt den Lauf der Shotgun auf sie gerichtet. Er sah trotz der Wunden etwas besser aus und es machte den Eindruck, als ob die Drogen bereits wirkten. Seine Frau hatte ihm einen improvisierten Verband angelegt, der schon bald von seinem Blut durchnässt sein würde. Trotzdem schien er sich nur um das Wohlergehen seiner kranken Frau zu sorgen, die von Ilvy abließ, um Cillas Pistole zu überprüfen. Anschließend legte sie das Holster an und befestigte es mit dem Gurt an ihrem Oberschenkel.
»Wir sollten gehen«, schlug Dex vor. »Wie viele Gasmasken haben wir?«
»Mehr als wir benötigen«, sagte Louis. »Wir erschienen
Varro wohl nicht gefährlich genug.« Er schnaubte verächtlich. »Überheblicher Idiot.«
»Gut«,erwiderte Dex. »Ich setze die anderen ins Bild. Sobald wir draußen sind, teilen wir uns auf. Ich geh zum Tor, du knackst die Transporter. Kümmer dich bitte um Ilvy.« Dex zeigte auf die kleine Wölfin, die dank eines Beruhigungsmittels zu schlafen schien.
»Keine Sorge. Gabrielle wird sie nicht aus den Augen lassen.« Plötzlich verdunkelte sich Louis’ Blick. »Wir sollten uns wirklich beeilen. Wenn er uns hier drin aufbringt, sitzen wir in der Falle.«
Einige Minuten später kämpften sie sich vorsichtig durch den Sturm. Dex bildete die Spitze der Gruppe, die sich langsam an der Wand eines Walls entlang bewegte. Die Böen zerrten an ihm und den anderen, die ihm geduckt folgten und sich ständig aufmerksam umsahen. Es war dunkel. Einige Strahler des Außenpostens funktionierten aufgrund mangelnder Wartungskapazitäten bereits seit Monaten nicht mehr, weshalb viele Bereiche der Anlage im Schatten lagen. Dex nutzte diese Stellen als Deckung und arbeitete sich Schritt für Schritt zum Haupttor vor, das nur von einem einzelnen Templer bewacht wurde. Der Mann hatte sich auf dem Wall hinter einem der schweren Maschinengewehre in die Ecke zurückgezogen und schien eingeschlafen zu sein. Einer von Louis Männern kümmerte sich um den Kerl, ging wie selbstverständlich zu ihm und rammte ihm ein Kampfmesser in den Hals. Danach beachtete er den Sterbenden nicht weiter und besetzte das vollautomatische Großkaliber.
Hin und wieder erhellten Blitze die Dunkelheit und tauchten die Basis in gleißendes Licht. Dex zuckte jedes Mal zusammen und hoffte, nicht entdeckt zu werden, bis
er wieder von den Schatten verschluckt wurde und seinen Weg fortsetzte. Als er das Haupttor erreichte, bezogen Louis’ Templer um ihn herum Stellung und sicherten den Bereich ab, während er zum Sicherheitssystem ging und die Magnetkarte vor den Scanner hielt. Kurz darauf verlangte das System nach einem sechsstelligen Code. Dex gab ihn ein und wartete auf das vertraute Zischen der Hydraulik, als ein schriller Signalton die Stille zerriss.
»Was ist passiert?«, erklang Louis’ metallisch klingende Stimme aus den Lautsprechern der Gasmaske.
»Varro scheint deine Berechtigungscodes verändert zu haben! Er hat uns auflaufen lassen!«
»Dann ist es vorbei.« Louis hörte sich niedergeschlagen an.
»Was ist mit der kleinen Luke?«
»Willst du zu Fuß zum Purgatorium laufen?«
»Anscheinend bleibt uns nichts anderes übrig.«
»Durch einen Aschesturm?«
»Ich seh keine andere Möglichkeit.«
»Gott …« Louis fluchte. »Wenn er das große Tor unter Kontrolle hat, dann sicher auch die Luke.«
»Nicht unbedingt«, mischte Baldwin sich ein. »Es gibt eine Konsole im Kontrollbunker, die das System des Haupttors im Notfall umgehen kann. Ich werde versuchen, die Routine zu starten. Aber das geht nicht ohne Euch, Präfekt. Das System verlangt einen Retinascan des ranghöchsten Offiziers. Eine Sicherheitsmaßnahme.«
Louis fluchte. »Also gut. Wir gehen rein. Ich schick die anderen zu Dex’ Position. Wir schließen auf, sobald der Weg frei ist.«
»Einverstanden«, erwiderte Dex. »Pass auf dich auf.«
»Du auch.
«
Plötzlich erklang die aufgeregt klingende Stimme eines Templers. »Feindkontakt!«
Als Dex sich gewarnt umsah, entdeckte er mehrere Schatten, die sich aus den unterschiedlichsten Richtungen näherten. Kurz darauf erhellte ein Blitz die Szenerie und das Gefecht begann.