Varro hielt sich in Octavius’ ehemaliger Unterkunft auf und versuchte, seine Aggressionen unter Kontrolle zu bringen. Nachdem Victrix das zermürbende Gespräch beendet hatte, hatte er es nicht gewagt, zurück in den Verhörraum zu gehen aus Angst, er würde sich nicht beherrschen können – und dem Miststück den Schädel einschlagen. Oder noch schlimmer, den seiner Schwester. Er liebte Cilla über alles und er wusste, dass sie recht hatte, aber seine Aggressionen waren in letzter Zeit nur schwer zu kontrollieren und der Stresspegel mittlerweile so hoch, dass er jederzeit explodieren konnte. Er vergrub das Gesicht in den Händen und begann vor Wut zu knurren, bis er anfing, die Einrichtung zu zertrümmern. Nach einigen Minuten lehnte er sich schwer atmend gegen den Tisch und ordnete seine Gedanken.
Victrix hatte ihm im Falle eines Versagens angedroht, Varros Linie für immer aus den Chroniken zu tilgen. Außerdem hatte er verlauten lassen, dass Cilla mit ihm untergehen würde, denn ein entsprechendes Exempel schloss immer die ganze Familie mit ein. Varro konnte sich
nicht daran erinnern, jemals so wütend gewesen zu sein. Er hatte den alten Drecksack reden lassen, während seine Gedanken darum kreisten, wie er ihm am besten den Schädel spalten könnte. Irgendwann hatte ihn der monotone Signalton darauf aufmerksam gemacht, dass Victrix das Gespräch beendet hatte. Natürlich nicht, ohne ihm vorher ein Ultimatum zu setzen. Und Varro hasste es, unter Druck gesetzt zu werden. Egal von wem. Er hatte den Kontrollbunker verlassen und sich in die Unterkunft des Präfekten begeben, um sich etwas abzukühlen und seine Gedanken zu ordnen. Die verdammte Rebellin musste reden. Und zwar noch heute. Danach würde es ihm ein Vergnügen sein, sie leiden zu lassen. Immerhin hatte das Miststück seinen Bruder auf dem Gewissen und es lag an allein Varro, sich dafür zu revanchieren. Denn Cilla war nicht wie er. Nicht so kalt, nicht so skrupellos. Sie neigte nicht dazu, ihre Gefühle zu zeigen, aber erkannte sie gut genug, um sie entsprechend einschätzen zu können. Deshalb wollte er sie nicht mit etwas belasten, für das sie sich nicht eignete. Die Rebellin zu zerstören war eine Aufgabe, die ihm allein zustand. Er würde jede Minute davon genießen und sie brechen, bis sie ihn anflehen würde, ein Ende zu machen. Aber er würde ihr diesen Wunsch nicht gewähren, bis sie nur noch ein Haufen blutenden Fleischs und gebrochener Knochen sein würde. Zerstörte Biomasse, die im Dreck der Aschewüste verfaulen und um die selbst die Aasfresser einen weiten Bogen machen würden. Varro hatte Mühe, seine Gewaltfantasien nicht überhandnehmen zu lassen. Er verabreichte der Wand einen Kopfstoß, rieb sich über den dröhnenden Schädel und wollte sich auf den Weg zurück zum Verhör machen, als eine Alarmsirene zu heulen begann. Er ging zum Fenster und warf einen Blick auf den
großen Platz, der nur in wenigen zentralen Bereichen beleuchtet wurde, und verfluchte die Nachlässigkeit des Präfekten, was die Instandhaltung der Anlage betraf. Der Sturm erschwerte die Sicht zusätzlich. Varro konnte nichts Verdächtiges erkennen, bis ein Blitz die Dunkelheit vertrieb und den Platz mit gleißendem Licht flutete. Kurz darauf begann er vor Wut zu knurren: Eine Gruppe hatte sich ums Haupttor verteilt, die andere kauerte zwischen den Transportern. Die Drecksäcke wollten verschwinden! Einen Augenblick später blitzte Mündungsfeuer auf. Varro aktivierte fluchend die mobile Komm-Einheit und machte sich wutentbrannt auf den Weg nach unten.
Louis schlich mit Baldwin und fünf Freiwilligen zum Wartungsschacht. Die Böen des Sturms zerrten an ihren Einsatzanzügen, peitschten die verdammte Asche gegen die Visiere ihrer Masken und brachten sie aus dem Gleichgewicht. Wenn die gleißenden Blitze die Dunkelheit für einen Augenblick vertrieben, machten sie sich klein und hofften, nicht entdeckt zu werden. Danach folgten schwere Donnerschläge, die das Areal erzittern ließen und Louis bis ins Mark fuhren. Er hasste die verdammte Aschewüste. Aber damit würde bald Schluss sein. Er wollte den Rest seiner Tage nicht in dieser Einöde verbringen und betrachtete seinen einstigen Schwur auf den Codex Imperialis mittlerweile als null und nichtig. Damals hatte er dem Kaiser Treue geschworen. Einem korrekten und aufrichtigen Mann, der hart aber nicht ungerecht, vorausschauend aber nicht impulsiv gewesen war. Nicht wie sein Nachfolger, Usurpator Brutus Maximus. Dessen
Interimsregierung, die ursprünglich nur vorübergehend eingesetzt werden sollte, hatte das Reich mit Hass, Angst und Tod überzogen und Hunderttausende in den Abgrund gerissen. Louis wollte das blutige Wirken dieses Bastards keine Minute länger unterstützen. Nicht in diesem Leben. Er schalt sich dafür, dass er erst Gabbys Widerstand brauchte, um klarsehen zu können. All die verschwendeten Jahre, die seine Frau krank gemacht hatten. Und das alles für diesen verfluchten Drecksack und seine Speichellecker in Ankhrom!
Schweres Maschinengewehrfeuer riss ihn kurz darauf aus seinen Gedanken und ließ ihn das Tempo trotz seines nachgebenden Beins erhöhen. Die andere Gruppe stand bereits unter Feuer. Sie zählten auf ihn und er hatte nicht vor, sie zu enttäuschen. Nicht dieses Mal.
Louis führte die Gruppe zum Einstieg im Boden, den er zusammen mit Baldwin schon einmal benutzt hatte, um in den Kontrollbunker zu gelangen. Seine Männer entfernten die Stahlplatte und stiegen einer nach dem anderen in den engen Wartungsschacht. Louis folgte ihnen einen Augenblick später. Gabrielles improvisierter Verband war bereits blutdurchtränkt. Dank der Drogen hatte er allerdings keine echten Schmerzen und fühlte sich erstaunlich gut, obwohl er wusste, dass ihn die Wunde umbringen würde, wenn sie nicht demnächst behandelt wurde. Aber dafür würde später noch genug Zeit sein.
Die Gruppe drang in den Technikraum unter dem Kontrollbunker ein, schlich die Treppe nach oben und postierte sich hinter der schmalen Luke. Einer der Männer riskierte einen Blick und hielt anschließend für alle sichtbar vier Finger hoch. Vier Elitekämpfer, die es auszuschalten galt, ohne die Konsolen zu beschädigen. Louis
bildete eine Faust und deutete auffordernd auf die Luke. Der Mann nickte, hob die Waffe und stürmte zusammen mit den anderen in den Raum. Kurz darauf erklangen Schüsse. Als Louis die Schwelle übertrat, war das Gefecht bereits vorbei. Einer der Elitekämpfer saß noch auf dem Sessel, wo ihm eine Salve die Brust aufgerissen und ihn halb enthauptet hatte. Sein Kopf hing in einem unnatürlichen Winkel zur Seite, während seine Fratze Louis anzugrinsen schien. Die anderen lagen regungslos in ihrem eigenen Blut. Louis hatte nur den Mann verloren, der die Spitze gebildet und als erster in den Raum gestürmt war. Nichtsdestotrotz fühlte er sich schlecht und bedachte die Leiche mit einem traurigen Blick.
Louis schickte zwei seiner Templer nach unten, um böse Überraschungen zu vermeiden, und verschloss die Luke. Baldwin setzte sich derweilen an eine Konsole, die sich gegenüber des Haupteingangs befand und machte sich an die Arbeit. Einige Minuten später hielt Louis sein Auge vor den Scanner und bestätigte den Befehl, das System des Haupttors zu überbrücken und die kleine Luke zu öffnen.
»Was jetzt?«
»Es wird einen Moment dauern«, erwiderte Baldwin. »Ihr solltet zu den anderen gehen, Präfekt. Wir halten die Stellung, bis der Prozess abgeschlossen ist und folgen Euch.«
Louis starrte unentschlossen zur Luke, aus der sie erst vor Kurzem den Raum gestürmt hatten. Der Gedanke, zu verschwinden und seine Männer zurückzulassen, wollte ihm nicht gefallen. Auf der anderen Seite musste er sich um Gabrielle kümmern. Sie war bestimmt schon wahnsinnig vor Sorge um ihn und ihr Gesundheitszustand vertrug keinen zusätzlichen Stress
.
»Geht, solange Ihr noch könnt«, drängte Baldwin. »Ihr schuldet uns nichts.«
Louis zögerte.
»Ohne Euch wär unser Leben schon lange vorbei, Legat. Deshalb sind wir Euch – so weit es mich angeht – zu ewigem Dank verpflichtet.« Die anderen nickten zustimmend. »Also verschwindet endlich!«
Louis legte ihm die Hand auf die Schulter, wandte sich schweren Herzens um und ging zur Treppe, die ihn in den Technikraum führte. Er verabschiedete sich von den beiden Veteranen und kroch durch den Wartungsschacht zurück zum Ausstieg.
Plötzlich erklangen knackende Geräusche aus den Lautsprechern seiner Maske.
»Wo bist du?« Gabby hörte sich besorgt an.
»Auf dem Weg zurück.«
»Bitte sei vorsichtig.«
»Mach dir keine Sorgen, Liebes. Ich bin gleich bei dir.«
Louis wechselte zum offenen Kanal. »Wie ist die Lage?«
»Wir stehen unter Beschuss!«, brüllte Dex, während im Hintergrund die Schüsse unzähliger Waffen zu hören waren. »Wie lange noch?«
»Der Prozess wird bald abgeschlossen sein. Wir sehen uns am Haupttor.«
»Verstanden! Beeil dich!«
Louis hielt den Kanal offen und schlich im Schutz der Dunkelheit geduckt an der Wand zurück, als ein gewaltiger Blitz die Umgebung erhellte und fünf Gestalten offenbarte, die sich nicht weit von ihm entfernt aufhielten. Varro und vier seiner Krieger! Louis riss die Waffe hoch und schoss dem Erstbesten in den Kopf. Der Mann brach wie ein nasser Sack zusammen. Kurz darauf wurden seine Kameraden auf Louis aufmerksam. Als er Varro erledigen
wollte, warf sich einer der Templer in den Weg und fing den Schuss mit seinem Körper ab. Er wurde zurückgerissen und prallte gegen den Inquisitor, der überrascht den Abzug drückte und Louis’ Waffe zerstörte. Die Shotgun wurde ihm buchstäblich aus der Hand gerissen. Er zog die Klinge eines der Toten und trieb sie dem nächsten Templer in den Hals, als sich ein Schuss aus dessen Maschinenpistole löste. Louis ignorierte den Stich in seiner Magengegend, benutzte den aufgespießten Mann als Schutzschild, und schleuderte ihn mit einem Tritt vor die Brust auf den verbleibenden Templer, der sein Schwert zog und sich auf ihn stürzte. Louis parierte den Hieb und zog dem Kerl die Klinge über den Unterleib, worauf die Eingeweide des Mannes auf den Boden klatschten und er röchelnd in die Knie ging. Louis enthauptete ihn mit einem schnell geführten Streich und wandte sich um. Varro hatte den Lauf seiner vollautomatischen Shotgun auf ihn gerichtet.
Er ließ die blutige Klinge sinken, breitete die Arme aus und ergab sich in sein Schicksal. Kurz darauf steckte der Inquisitor die Waffe ins Holster und zog ein gewaltiges Schwert aus der Scheide am Rücken, um ihm die letzte Ehre zu erweisen, die ihm als Legat der ersten Legion zustand. Oder er war der Meinung, dass Louis angeschlagen genug war, und er keine Kugel an ihn verschwenden musste.
Louis nickte herausfordernd und hob die Klinge über den Kopf. Sein Einsatzanzug war mittlerweile vom Blut durchtränkt und er machte sich keinen großen Hoffnungen mehr, Gabrielle wiederzusehen. Aber vielleicht konnte er wenigstens den verdammten Inquisitor mitnehmen und seiner Frau ein wenig Leid und weitere Schmerzen ersparen. Ein letztes Aufbäumen des alten
Louis Ocatvius im Angesicht des Terrors, der sich in Form Varros brüllend auf ihn stürzte.
Dessen Hiebe waren hart und schnell. Louis blockte einen Streich zu seinem Hals und hatte das Gefühl, einen Hammerschlag aufs Handgelenk bekommen zu haben. Er ließ sich zurückfallen, parierte die folgende Attacke und wich zur Seite aus, um Kontern zu können. Die Spitze seiner Klinge kratzte über Varros Halsschutz und verfehlte dessen Halsschlagader nur knapp. Der Inquisitor griff einen Augenblick später erneut an und zog sein Schwert über Louis Oberschenkel. Er ignorierte den dumpfen Schmerz und nahm eine neue Position ein, während er nach einer schnellen Lösung suchte. Er würde Varro nicht erledigen können, bevor die Wirkung der Drogen nachließ oder einer der Templer auf ihn aufmerksam wurde. Jedenfalls nicht auf diese Art. Blieb nur eine Möglichkeit, um den Bastard angemessen auflaufen zu lassen. Louis atmete ein letztes Mal aus und wartete, bis sein Gegner eine weitere Serie startete. Nach einigen Hieben provozierte er eine Lücke in Varros Deckung, indem er einen Fehler vortäuschte und ihn aus der Reserve lockte. Danach stürzte er sich knurrend in die Klinge des überraschten Inquisitors und rammte ihm gleichzeitig das Schwert an einer ungeschützten Stelle durch den Körper.
Der Sturm tobte seit Stunden und erschwerte der kleinen Gruppe den Weg durch die Aschewüste. Der Kampf im Außenposten hatte viele Opfer unter Louis’ Männern gefordert, die sich den Mitgliedern der Eliteeinheit tapfer entgegengestellt und diese so lange es ging, auf Abstand gehalten hatten. Bis auf Dex, Gabrielle, Ilvy und Cilla
hatten nur sechs Mann überlebt. Zwei von ihnen trugen die kleine Wölfin, während Dex Varros Schwester hinter sich her schleifte und Gabby Mühe hatte, Schritt zu halten. Sie versuchte seit Stunden, Louis zu erreichen, und stolperte abwesend durch den Sturm, weshalb er sie nach einigen Kilometern mit einem Seil an seiner Koppel sicherte, um sie nicht an die verdammte Asche zu verlieren. Louis war nicht am Tor erschienen und Dex gezwungen, eine Entscheidung zu treffen, weil der Druck der Templer von Minute zu Minute größer geworden war. Gabrielle hatte sich geweigert, die Basis zu verlassen, bis Louis’ Männer sie einfach mit sich gezogen hatten. Sie waren in den Sturm gelaufen und hatten die Distanz zum Außenposten, so schnell sie konnten, vergrößert. Die Templer hatten sie mit Suchscheinwerfern verfolgt und auf sie geschossen, bis sie in den aufgewirbelten Aschewolken verschwunden waren und sich auf den Weg zum Purgatorium gemacht hatten.
Dex kannte die Route. Er war die Patrouille zur Verbrennungsstätte in den letzten Jahren fast wöchentlich gefahren und brauchte keine satellitengestützten Daten, um sein Ziel zu finden. Nicht mal einen Kompass. Er trieb die Gruppe an, entgiftete Cilla während einer Pause, um Zeit zu sparen, und drohte ihr mit massiven Konsequenzen, wenn sie sich nicht benehmen würde. Danach kämpften sie sich stundenlang durch den tobenden Sturm, wichen den besonders energiereichen Wolkenformationen aus und erreichten das Purgatorium nach sieben Stunden. Die Filter ihrer Masken waren fast aufgebraucht und verhinderten damit eine weitere Flucht. Die Sache würde hier beendet werden und Dex hatte vor, jeden einzelnen der Bastarde am Ende dieses Tages in der giftigen Asche zu verscharren
.
Es war weit nach Mitternacht und der Sturm bereits dabei, nachzulassen. Es blieb nicht viel Zeit, um sich auf das Gefecht vorzubereiten, weshalb Dex den Templern keine Pause gönnte und letzte Vorbereitungen traf. Sie holten die erbeuteten Waffen unter der Engelsstatue hervor, brachten Ilvy und Gabrielle in den gestohlenen Radpanzer und fesselten Cilla an einen Haltegriff des Fahrzeugs. Danach schmiedeten sie einen schwer improvisierten Plan, platzierten Sprengladungen, und deponierten Munitionsvorräte an taktisch wichtigen Positionen der Verbrennungsanlage. Dex Beauftragte nach getaner Arbeit einen der Männer, das Kreuz wieder zum Laufen zu bringen, nahm das Scharfschützengewehr und eine Maschinenpistole an sich, und zog sich in den Radpanzer zurück, um nach den Frauen zu sehen.
Gabrielle hatte Ilvy in das enge Abteil gebracht, in dem die kleine Wölfin und Dex zum Außenposten transportiert worden waren. Cilla saß auf dem Boden des Fahrzeugs und beobachtete ihn lauernd, als er die Waffen in eine Ecke stellte, die Maske abnahm und zu Gabrielle ging, um sich vor ihr in die Hocke sinken zu lassen.
»Alles in Ordnung, Gabby?«
»Nein«, erwiderte sie mit glänzenden Augen. »Louis hat sich bis jetzt nicht gemeldet.«
»Das muss nichts bedeuten«, versuchte er, sie zu beruhigen. »Vielleicht wurde sein Komm-Gerät zerstört oder er hat es während der Flucht verloren. Vielleicht ist er schon auf dem Weg zu uns.«
Gabby sah ihn traurig an, als Cilla sich zu Wort meldete.
»Das glaubst doch selbst nicht. Der Alte ist keine Herausforderung für Varro. Vermutlich liegt er schon mit
dem Gesicht nach unten in der Asche und krepiert. Wie ihr es alle verdient habt!«
»Sei still!«, zischte Dex und warf ihr einen warnenden Blick zu.
»Warum sollte ich?« Sie sah ihn spöttisch an. »Ich hab keine Angst vor euch. Weder vor dir noch vor der Hure des Präfekten …«
Gabrielles Gesicht verhärtete sich.
»… mein Bruder wird kommen und euch die Konsequenzen eures Handelns spüren lassen. Er wird euch zum Winseln bringen und euch in der Wüste verrotten lassen. Ich hoffe, der Alte brennt für immer in der Hölle!«
Gabrielle zog blitzschnell die Pistole, presste deren Lauf gegen Cillas Schläfe und starrte sie wütend an, während eine Träne über ihre Wange lief.
»Halt endlich deinen verdammten Mund.«
Cillas Atmung beschleunigte. Nichtsdestotrotz hielt sie stur dagegen und erwiderte Gabrielles eisernen Blick. »Mach schon! Wenn du mich tötest, wird euch mein Bruder bis zum letzten Mann jagen und wie Ungeziefer zur Strecke bringen! Einen nach dem anderen!«
»Und wenn schon«, erwiderte Gabrielle kalt. »Ich hab nichts mehr zu verlieren und es wird mir eine Freude sein, dich mit in den Abgrund zu reißen. Vor allem dich.«
»Dann tu’s doch!«
Gabrielle spannte den Hahn.
Cilla schloss knurrend die Augen und begann panisch zu atmen, während Gabrielle wirklich darüber nachzudenken schien, sie zu töten.
»Tu’s nicht«, mischte Dex sich ein. »So bist du nicht.«
Sie schnaubte verächtlich. »Du weißt wirklich nichts über mich. Siehst auch nur die abgehalfterte kranke Frau,
die sich hustend durch den Rest ihres Lebens schleift und darauf wartet, von der Asche getötet zu werden.«
»Das stimmt nicht«, entgegnete er und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Und das weißt du auch. Ihr Tod wird Louis nicht zurückbringen.«
Gabrielle konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten und erhöhte den Druck auf Cillas Kopf. »Aber ich kann ihn damit rächen und dieses Miststück zur Hölle schicken.«
»Das wird deinen Schmerz nicht lindern.« Dex streckte vorsichtig die Hand aus, drückte ihre Waffenhand nach unten und nahm sie in den Arm, bis sie nachgab und zu weinen begann. Ihr Körper bebte. Kurz darauf bekam sie einen Hustenanfall, der sie in die Knie zwang. Dex versuchte, sie zu beruhigen. Aber seine Bemühungen gingen ins Leere, bis er ihr ein Beruhigungsmittel verabreichte und sie auf eine der ausklappbaren Pritschen legte. Er deckte sie zu, strich ihr eine Strähne aus der Stirn und sicherte ihre Waffe. Danach wandte er sich an Cilla, die ihn nach wie vor hasserfüllt beobachtete.
»Zeit für ein kleines Spiel.«
Er öffnete Varros Behälter und nahm eine der schwarzen Ampullen heraus, die er einen Augenblick später in die Führung der Injektionspistole legte und mit Hilfe eines kleinen Hebels einspannte. Danach hielt er die Pistole demonstrativ hoch.
»Erinnerst du dich? Ich denke, es ist an der Zeit herauszufinden, ob du
stark genug bist.«
Sie riss überrascht die Augen auf.
»Mir ist übrigens egal, wie du dich entscheidest.« Er aktivierte die Injektionspistole und jagte ihr die Lösung in die Halsschlagader. »Hauptsache, du hältst für die nächsten Stunden deinen verdammten Mund.
«
Er wartete, bis sie stöhnend zusammensank und zu zittern begann. Danach ging er in das abgetrennte Abteil zu Ilvy. Sie lag zusammengekauert auf einem improvisierten Lager, das Gabrielle ihr bereitet hatte. Die kleine Wölfin sah vollkommen erschöpft aus und ihr Teint schien sich langsam ins Bläuliche zu verfärben. Der Celron saß nach wie vor auf ihrer Brust und hatte sich anscheinend über die vergangenen Stunden enger zusammengezogen, um ihr auch noch den letzten Rest Atem streitig zu machen. Varro hatte im Verhörraum dessen Display aktiviert, auf dem nach wie vor der Countdown der Exitusschleife angezeigt wurde: Sechs Stunden waren alles, was Ilvy noch blieb.
Dex musste sich von den im Sekundentakt abnehmenden digitalen Zahlen losreißen, um sich wieder auf die geschundene Frau konzentrieren zu können. Ihre Haut war um die Druckpunkte des Celron gerötet. Sie war schweißnass und schien zu frieren.
»Dex …« Ihre Stimme war kaum noch zu hören. »W… Wasser … bitte.«
Dex nahm die Feldflasche vom Gürtel und führte sie an ihre brüchigen Lippen. Nachdem sie etwas getrunken hatte, musste sie husten.
»Hast du Hunger?«
Sie schüttelte verneinend den Kopf.
»Es wird bald vorbei sein. Du musst nur noch ein paar Stunden durchhalten, hörst du?«
Sie nickte, während er über ihre glänzende Haut strich und das darin verwebte transparente Muster mit dem Druck seiner Fingerspitzen zum Schimmern brachte.
»Ruh dich aus, bis es so weit ist.«
Als er gehen wollte, streckte sie die Hand nach ihm aus. »Bitte … bl… bleib.
«
Er holte eine zweite Decke aus einem Behälter, breitete sie über ihr aus und wollte sich zu ihr legen, als ihm Bullas Worte einfielen.
»Wenn du wirklich der bist, für den ich dich halte, solltest du dich bemerkbar machen. Es gibt viele Renegaten, die sich im Moment in Smallridge aufhalten und ich bin mir sicher, dass sie dir durch die Hölle folgen würden.«
Dex zog das alte Komm-Gerät aus der Koppel, aktivierte es und nahm eine Nachricht auf, die er in einer Endleisschleife in den Äther schickte. Die Botschaft würde für jeden zu vernehmen sein, der einen entsprechenden Empfänger besaß. Dex hatte, kurz nachdem er bei Louis untergekommen war, das Gerät oft aktiviert und stundenlang dem monotonen Rauschen gelauscht, in der Hoffnung, eine Nachricht von seinen Kameraden zu erhalten. Einen Aufruf, sich zu sammeln und einen neuen Angriff zu starten. Aber niemand hatte etwas Derartiges gesendet. Stattdessen blieb die Leitung tot, bis er nach Monaten aufgegeben und sein altes Leben hinter sich gelassen hatte. Dieser Moment hatte sich wie eine echte Niederlage angefühlt und er hätte niemals geglaubt, das alte Gerät noch einmal zu benutzen.
Er stellte die Komm-Einheit in eine Ablage und überzeugte sich, dass der Sturm nach wie vor tobte. Dessen Interferenzen würden das Signal vorerst blockieren, aber sobald sie nachließen, würde es gesendet werden. Dex machte sich diesbezüglich allerdings nur wenig Hoffnungen.
Er wandte sich um und kroch in voller Montur zu Ilvy unter die Decke, wo er sie in den Arm nahm und ihren Kopf auf seine Brust bettete. Danach schenkte er ihr ein warmes Lächeln, bis ihr die Augen zufielen und sie auf ihm einschlief. Dex hatte nicht vor, ewig hierzubleiben. Es gab
noch viel zu tun. Aber die vorangegangenen Strapazen hatten ihn müde gemacht. Ilvys Atemzüge wirkten so verdammt beruhigend auf ihn, dass er zu blinzeln begann und den Kampf gegen die Müdigkeit einige Minuten später verlor.
Varro saß im Radpanzer und hämmerte wütend gegen den Sitz. Der verdammte Sturm machte es ihm und seinen Männern unmöglich, die Verfolgung aufrechtzuerhalten. Die Sicht war schlecht. Das Navigationssystem konnte keine Daten der Satelliten empfangen, und weder er noch einer seine Männer kannten sich in dieser gottverlassenen Gegend aus. Die Blitze schlugen fortwährend um den Konvoi herum ein, rissen gewaltige Fontänen aus Dreck, gebundenen Chemikalien und Giftstoffen aus der Erde, um das volatile Gemisch meterhoch in den Himmel zu schleudern, wo es sich zum Teil entzündete und in den unglaublichsten Farben verging. Varro konnte dem beeindruckenden Schauspiel allerdings nichts abgewinnen. Die Bastarde hatten Cilla verschleppt! Allein die Tatsache, dass sich jemand an seiner kleinen Schwester vergriffen hatte, machte ihn fast wahnsinnig. Der verdammte Söldner würde für diese Frechheit büßen. Sobald Varro den Kerl in die Finger bekam, würde er ihm bei lebendigem Leib die Haut abziehen und ihn zwingen dabei zuzusehen, wie er die verfluchte Rebellin von seinen Männern schänden ließ, bis sie jämmerlich verbluten würde. Varro hatte sein ursprüngliches Ziel aus den Augen verloren und sich vollends den Rachegedanken hingegeben, die ihn nicht mehr loslassen wollten. Immerhin ging es um seine Schwester! Der Bastard hatte etwas Persönliches
aus der Sache gemacht und Varro hatte sich nicht mehr ausreichend unter Kontrolle, um nicht darauf anzuspringen.
Das dumpfe Pochen seiner verletzten Seite drängte die Gedanken an Rache etwas in den Hintergrund. Der verdammte Präfekt hatte sich bewusst geopfert, um ihn aufzuspießen. Er hatte sich ihm angeboten und Varro war kopflos in die Falle gelaufen. Ohne seinen verstärkten Körper wäre er der Stichwunde bereits erlegen. Sein Hass hätte ihn fast ins Verderben gestürzt, aber er hatte den Bastard dafür büßen lassen. So, wie es sich für einen Verräter dieses Kalibers gehörte.
Der Wundschaum hatte die Wunde nur notdürftig verschlossen. Ohne ärztliche Behandlung würde sie sich demnächst entzünden. Aber das war ihm mehr als egal. Sein Fokus lag darauf, seine Schwester zurückzubekommen. Sollten die Drecksäcke ihr auch nur ein Haar gekrümmt haben, würde er die Hölle über sie hereinbrechen lassen.
Er zwang sich, seine Gedanken zu ordnen, schloss die Augen und zählte langsam bis zehn. Danach wandte er sich an den Fahrer.
»Status!«
»Zwei der Transporter stecken fest. Ein Aufklärer viel einem Blitzschlag zum Opfer. Wir sind völlig orientierungslos. Weder Scanner noch Navigationssystem funktionieren.« Er sah Varro skeptisch an. »Es macht keinen Sinn, weiterzufahren.«
Varro knurrte vor Wut und riss die Kopfstütze aus dem Sitz vor ihm, um sie einen Augenblick später durch den Innenraum zu schleudern. »Können wir zurück?«
»Wir haben die Orientierung verloren, Inquisitor. Ich weiß nicht, in welcher Richtung der Außenposten liegt.
Wir sollten uns einen geeigneten Unterschlupf suchen und warten, bis unsere Instrumente wieder funktionieren.«
Varro fluchte und überlegte, ob er dem absolut inkompetenten Mann den Kopf aus dem Rumpf reißen sollte. Als er die misstrauischen Blicke der anderen Templer bemerkte, riss er sich am Riemen, atmete scharf aus, und nickte dem Offizier zu.
»Einverstanden. Suchen sie uns ein Versteck.«
Die Männer um ihn herum atmeten unverhohlen auf, was Varros Wut nur bestärkte. Keiner von den Drecksäcken besaß genug Rückgrat, um es mit ihm aufzunehmen. Trotzdem schienen sie seine Befehle infrage zu stellen. Er verdrängte den Gedanken, presste seine Hand auf die tobende Wunde und zog eine Einweginjektion aus einer Tasche seiner Koppel. Die Lösung würde seinen Körper auf die Drogen vorbereiten, die er sich vielleicht während des Gefechts injizieren musste. Danach würde er zu einer Kampfmaschine mutieren, der seine Gegner nur wenig würden entgegensetzen können. Allein die Vorstellung erfüllte ihn mit einem Gefühl der Überlegenheit, das ihn nicht mehr loslassen wollte, während sich der Radpanzer unaufhaltsam durch die Aschewüste kämpfte.
Nach einer Stunde hielt der Offizier unter einem Überhang, den die Aufklärer einige Minuten zuvor ausgekundschaftet hatten. Das natürlich entstandene Dach gehörte zu einem hochaufragenden Felsen, dessen dunkle Silhouette sich wie ein Mahnmal über die Landschaft erhob. Die Transporter schlossen sich einer nach dem anderen an und bildeten einen Halbkreis um den Panzer. Nachdem sich alle Fahrzeuge eingefunden hatten, aktivierte der Offizier am Lenkrad die rotstichige Notbeleuchtung, stellte seinen Sitz zurück und schloss die Augen. Danach war bis auf das
Flüstern zweier Templer und das Fauchen der Böen nichts mehr zu hören.
Der Wind rüttelte hin und wieder am Fahrzeug, während Varro vergeblich versuchte, zur Ruhe zu kommen. Die Sorgen um Cilla und die drohende Gefahr, im Falle eines Scheiterns den gehobenen Status seiner Blutlinie zu verlieren, hielten ihn wach, bis er in einen unruhigen Halbschlaf fiel, der ihm weder Erholung noch Frieden brachte.