Nachdem sie dem Wächter an der Hintertür der Schouwburg ein paar Stuiver zugesteckt hat, damit er sie durchlässt, eilt Thea zum Malsaal. Walter, der mit dem Rücken zu ihr gerade an einer Palme arbeitet, knurrt, als sie die Tür öffnet, in unfreundlichem Ton: »Ich habe dich doch gebeten, dass du mich in Ruhe lässt.«

»Ich bin es«, sagt Thea.

Er fährt herum, jede Spur von Verärgerung ist verschwunden. »Thea?«, sagt er. »Das ist eine Überraschung – ich dachte, du kommst erst am Mittwoch.«

»Ich muss Rebeccas Kleid zurückbringen«, sagt sie. Sie wartet darauf, dass er sie nach dem Geschenk vor ihrer Haustür fragt, aber er tut es nicht. Sie schließt die Tür ab, weil sie nicht gestört werden will.

»Ach so«, sagt er. »Und wie war das Spektakel bei den Sarragons?«

Thea legt das Kleid über die Rückenlehne eines Stuhls und schlingt ihre Arme um Walters Schultern. Sie will über die Miniatur sprechen, die Figur zusammen mit ihm bewundern, ihn für seinen hübschen, originellen Einfall loben, ihm sagen, dass sie nicht wegen des Kleides hergeeilt ist, sondern um ihn zu sehen. »Der Ball war schrecklich«, sagt sie.

»Das glaube ich nicht.«

»Lauter viel zu stark parfümierte Matronen. Alte Männer mit Perücken. Überall Ananasmarmelade. Der Schweiß und die Verzweiflung von höheren Töchtern, die nach einem Mann zum Heiraten suchen.«

Walter lacht und legt seine Arme um ihre Taille. »Himmlisch. Und alle waren von dir hingerissen, oder nicht, mein Engel?«

Thea denkt daran, wie Clara Sarragon sie von oben bis unten gemustert hat. An Eleonor und Catarina, die sich hinter vorgehaltener Hand über ihr geliehenes Kleid lustig gemacht haben. Sie denkt an Jacob van Loos, der aus dem Nichts auftauchte, um ihre Tante zu retten. Sie erinnert sich daran, wie sie Tante Nella dabei ertappt hat, dass sie sie mit einer Mischung aus Bewunderung und Neid anstarrte. »Ganz bestimmt nicht«, sagt sie.

»In so einem Kleid?«

»Die waren alle so unecht

Er zieht die Augenbrauen hoch. »Unecht?«

»Nichts als Schauspielerei. Nur schlechter als das, was man hier im Theater zu sehen bekommt. Und es ist furchtbar anstrengend, wenn man sich die ganze Zeit verstellen muss.«

»Und was hast du vorgetäuscht?«

»Dass ich nirgendwo anders als auf diesem wunderbaren Fest sein wollte.«

Walter streicht über den Stoff des Kleids. »Zieh es für mich an.«

Thea spürt einen kleinen Schock. Sie hat keine Skrupel gehabt, im Kostüm der Julia zu einem Ball zu gehen, der von einer geldgierigen Aufsteigerin veranstaltet wurde, empfindet es aber jetzt als unangemessen, das Kleid hier im Theater zu tragen, wo es eigentlich hingehört. »Das geht nicht.«

»Warum denn nicht? Ich würde dich gern in diesem Kleid malen.«

Davon, dass er sie malen will, hat er noch nie geredet. »Das würdest du tun?«

»Ich hätte große Lust dazu. Aber es ist fast so, als wollte man versuchen, die Sonne zu malen.«

Was für eine Vorstellung! Was würden Catarina und Eleonor Sarragon dafür geben, in diesem goldenen Kleid von Rebecca Bosman einem Künstler wie Walter Riebeeck Modell sitzen zu dürfen! Thea erlebt in letzter Zeit Momente, von denen sie kaum glauben kann, dass sie wirklich sind. Lächelnd trägt sie das Kleid hinter eine hohe noch unbemalte Leinwand und beginnt, die Bänder ihres Mieders zu öffnen. Sie denkt wieder an die Miniatur in ihrer Tasche – sie würde so gern mit ihm darüber reden. Aber wer weiß, wie ernst es ihm mit seinem Angebot ist? Sie muss ihn beim Wort nehmen, bevor er es sich womöglich anders überlegt.

Außerdem gibt es noch diese andere Sache, die sie mit ihm besprechen muss. »Walter«, sagt sie, »nächsten Mittwoch werde ich dich nicht sehen können. Meine Tante gibt ein Essen bei uns zu Hause. Ich wünschte, du könntest kommen, aber …« Sie bricht ab, weil sie nicht weiß, wie sie den Satz beenden soll.

Ein kurzes Schweigen tritt ein. »Was für ein Essen?«, fragt er schließlich.

Thea schlüpft in das Kleid und schiebt ihre Arme in die schön gebügelten Ärmel. Sie stellt sich vor, dass durch den Stoff etwas von Julias unerschütterlicher Seelenruhe auf sie übergegangen ist. »Sie hat einen Mann eingeladen, den sie auf dem Ball kennengelernt hat.«

»Einen Mann?«

»Ja. Ein Jacob Soundso.«

»Jacob Soundso?«, fragt Walter. »Ach so, ja, ich glaube, die Soundsos kenne ich. Sehr feine Leute. Die Familie besitzt etliche Schiffe.«

Thea lacht. »Ich kenne ihn nicht. Er ist Advokat.«

»Wohlhabend?«

»Ich will das nicht, Walter –«

»Aber es ist an der Zeit, dass du dir einen Ehemann angelst?«

Seine Bitterkeit schockiert sie. Wie kann er so etwas denken! Was kann sie tun, damit Walter ihr glaubt, dass sie ihm gehört und immer gehören wird? Thea tritt hinter dem Paravent hervor, die Bänder am Rücken des geliehenen Kleids noch offen. »Ich will keinen alten Mann heiraten«, sagt sie, »ob er Advokat ist oder nicht.«

Walter tritt einen Schritt zurück, begutachtet, wie das Licht auf die goldene Seide fällt. Thea kommt mit ausgestreckten Armen auf ihn zu und fasst seine beiden Hände. »Hörst du? Der Einzige, den ich will, bist du.«

Er sieht ihr in die Augen. »Wie kann ich mir da sicher sein? Du gehst auf diese Bälle –«

»Ich war auf einem Ball! Und auch das nur, weil ich musste.«

Er seufzt. »Ich nehme an, deine Familie will nur dein Bestes.«

»Du bist das Beste für mich. Meine Familie weiß gar nicht, wer ich wirklich bin.«

Walter macht sich los von ihr und geht zu dem Tisch, auf dem seine Pinsel ordentlich nebeneinander aufgereiht liegen. »Jacob und Thea Soundso. Ein Leben in großem Stil. Ich sehe es vor mir.« Er hält inne und nimmt einen Pinsel. »Ich sehe, wie du mich verlässt.«

Thea spürt eine wachsende Verzweiflung. Sie hätte dieses Abendessen nie erwähnen dürfen. Aber jetzt hat sie ihn beunruhigt, den einen Menschen, dessen Glück ihr alles bedeutet. Sie schließt die Augen, und da sieht sie jemanden, aber es ist nicht Walter und schon gar nicht Jacob, sondern ihre Tante Nella. Sie ist voller Erwartung und Zuversicht, dass Thea Brandt tun wird, was man ihr sagt.

Sie schlägt die Augen auf. »Walter«, sagt sie, »wenn es doch so ist, dass ich dich liebe und du mich – was hindert uns, zu heiraten?«

Walters Hand mit dem Pinsel schwebt in der Luft. Sag etwas, denkt Thea. Sie wünscht sich, dass er diesen seltsamen Zauber bricht mit Worten, die sie aus diesem Raum in die Welt hinaus führen.

Walter macht große Augen. »Was hast du gesagt?«

»Ich sagte: Was hindert uns, zu heiraten?«

Er wirkt ganz schockiert. »Ist es das, was du willst?«

»Natürlich. Ist es nicht auch das, was du willst? Die letzten sechs Monate waren die glücklichsten in meinem ganzen Leben.«

Als er nicht antwortet, beschleicht Thea ein ungutes Gefühl. »Walter – es ist doch, was wir am Ende beide wollen, oder nicht?«

Er scheint sich zu sammeln. »Natürlich, ja. Ich war mir nur nicht sicher, ob du wirklich so empfindest.«

Thea ist erstaunt. »Ob ich wirklich so empfinde? Ist das nicht offensichtlich?«

Er runzelt die Stirn. »Man kann von Frauen nicht unbedingt erwarten, dass sie niemals schwankend werden.«

Das ist so absurd, dass sie lachen muss. »Nun, ich werde nicht schwankend, das weißt du doch. Stell dir vor, Walter, wir müssten nicht mehr so herumschleichen, wie Diebe oder als würden wir sonst etwas Schlimmes tun.«

Er sieht sich im Malsaal um. »Tja, ich nehme an, wir können uns nicht ewig hier vor der Welt verstecken.«

»Nein.«

Walter räuspert sich. »Normalerweise ist es der Mann, der diese Frage stellt«, sagt er. »Du hast mich überrumpelt. Aber dein Vater, deine Tante – sie werden es nicht gutheißen.«

»Das ist nicht so schlimm, schließlich sollen ja nicht sie dich heiraten. Und ich bin sicher, sobald sie dich kennenlernen, Walter – sobald sie uns zusammen sehen –, werden sie es verstehen. Sie werden sehen, dass wir glücklich sind, und auch glücklich sein.«

Walter scheint nachzudenken. »Eine Verlobung also? Möchtest du, dass wir uns verloben?«

Thea wird warm in der Brust. Sie kommt an den Tisch mit den Pinseln und drückt Walters Hände. »Verloben wir uns«, flüstert sie.

»Wir müssen ja nicht sofort heiraten«, sagt er. »Eine richtige Hochzeitsfeier will vorbereitet sein.«

»Je eher, desto besser ist es, Walter. Denn dann kann meine Tante ihre blödsinnigen Bemühungen einstellen, und du und ich müssen uns nicht länger verstecken.«

Er fährt sich mit der Hand durch die Haare. »Ich denke, ich sollte meinen Vertrag in der Schouwburg beenden, bevor wir heiraten. Anderswo verdiene ich mehr Geld, und das wird alle Bedenken deiner Familie zerstreuen.«

»Das ist eine gute Idee. In drei Monaten also.« Thea weiß alles über Walters Arbeit. Zwölf Wochen noch, dann ist er frei – und sie mit ihm.

»Dann kann ich arbeiten, wo ich will«, sagt er.

»London? Paris?«

»Wenn du willst.«

»Aber was von beiden?«

»Wir losen einfach«, sagt Walter grinsend.

»Und wir gehen als Mann und Frau dorthin.«

»Unbedingt«, erwidert er und legt seinen Arm um ihre Taille.

Thea drückt ihn ganz fest. Ihr Geliebter – ihr Verlobter! – riecht nach Leinöl und Seife und sauberer Baumwolle, nach dieser unverwechselbaren, undefinierbaren Walter-Mischung von Düften, die ihr den Atem stocken lässt. »Lieber Gott«, murmelt sie, ihren Mund an seiner Brust. »Ich bin so glücklich. Ich wusste gar nicht, dass es möglich ist, derart glücklich zu sein.«

»Ich weiß«, sagt er und küsst sie auf den Scheitel. Er hält sie einen Moment lang auf Abstand, ihr Gesicht zwischen seinen Händen. »Du verstehst schon, was es bedeutet, wenn wir verlobt sind: Wir haben einen Ehevertrag geschlossen.«

Sie sieht ihm in die Augen. »Ich bin zwar kein Notar oder Priester, Walter, aber ich glaube dir, dass es so ist.«

»Wir sind also in gewisser Weise bereits Mann und Frau.«

»Na ja, ich bin noch nicht als Braut vor den Altar getreten, und wir sind noch nicht getraut worden.«

»Nein, aber in den Augen Gottes sind wir verheiratet.«

»Vermutlich.«

»Wir haben einander das Jawort gegeben«, sagt er, und sie lacht vor Glück.

Walter schmiegt sich an sie. »Das heißt, es hindert uns nichts«, sagt er, »wenn du es willst, als Mann und Frau beieinanderzuliegen.«

Thea bewegt sich nicht in seiner engen Umarmung, sein Malerkittel drückt gegen ihre Wange. Es gibt hier eine Linie, denkt sie, eine Linie, unsichtbar auf die Dielen dieses Malsaals gezeichnet. Seit Thea Walter zum ersten Mal gesehen hat, hat sie sich diese Linie mehr oder weniger bewusst vorgestellt, einen verschwommenen Streifen, der eines Tages zu ihren Füßen klare Konturen annehmen würde. Sie und Walter nackt, zusammen, eins. Und jetzt fordert er sie auf, diese Linie zu überschreiten.

Sie denkt in diesem Moment nicht an Walter und auch nicht an sich selbst, sondern an Cornelia, wie sie behutsam die Ärmel des goldenen Kleides gebügelt hat, die Walter jetzt mit seinen Fäusten zerknittert. Was würde Cornelia sagen, wenn sie Walter hören könnte?

Cornelia würde nicht zulassen, dass Thea mit einem Mann verheiratet wird, den sie nicht liebt. Cornelia würde verstehen, dass Thea verzweifelt versucht, Walter zu einer festen Zusage zu bewegen.

Was ihren Vater und ihre Tante betrifft, so schiebt sie jeden Gedanken an sie weit weg und streift das goldene Kleid ab, in dem Walter sie malen will. Sie lehnt sich in seiner Umarmung nach hinten und sieht ihm in die Augen. »In den Augen Gottes bin ich deine Frau«, sagt sie.

Langsam lässt Walter sie auf den Boden sinken. »Willst du wieder das mit mir machen, was du gestern gemacht hast?«, fragt Thea.

Walter grinst. »Und was habe ich gestern gemacht?«

Thea klopft ihm leicht auf die Schulter. »Das weißt du ganz genau, Walter Riebeeck.«

Er küsst sie. »Du bist vollkommen, Thea Brandt«, flüstert er. »Du bist mehr als nur eine Frau Soundso.«

Die Liebenden liegen auf Walters mit Farbe bespritzten Abdecktüchern, umgeben von Wäldern und Stränden und gemalten Burgruinen hoch über ihren Köpfen. Manchmal tut es Thea weh, dann hält Walter inne, damit sie sich entspannen und es abklingen lassen kann, hält sie, streichelt sie, beruhigt sie. Und wenn sie sich dann wieder zurücklegt, schließt Thea die Augen vor den unzähligen Welten um sie herum und versucht, sich nur auf ihn zu konzentrieren, auf seinen Körper, der den ihren liebt, der sie will, auf diesen Mann, dem sie sich für den Rest ihres Lebens versprochen hat. Denn die Augen zu öffnen und Walter zu sehen, wäre vielleicht fast zu viel für sie. Sie will dieses erste Mal nie vergessen, aber es gibt Momente, wenn Walter sich über ihr bewegt, in denen Thea das Gefühl hat, dass alles nur Einbildung ist, als wäre sie heute gar nicht ins Theater gekommen, als hätte sie seine Puppe nie gefunden und sich nie mit ihm hier eingeschlossen.

Walter zieht sich mit einem seltsamen, keuchenden Schrei, einer Mischung aus Angst und Lust zurück und ergießt sich über Rebeccas Kleid, und bevor Thea etwas dazu sagen kann – dass sie Wasser holen müssen, um es auszuwaschen, was, wenn Rebecca es sieht! –, beginnt Walter sie zwischen ihren Beinen zu küssen, immer und immer wieder. Bald vergisst Thea den Fleck auf dem Kleid, und die Empfindungen von dem, was er tut, steigern sich in ihr, bis auch sie aufschreit, ein Schrei des Erstaunens, dass dies wieder geschehen konnte, und sogar besser, dass ein Wunder sich mehr als einmal ereignen kann.

Danach liegen sie auf den Abdecktüchern und starren hinauf zu der hohen Decke.

»Tun Eheleute das jeden Tag?«, fragt sie.

Walter lacht und zieht sich die Hose hoch. Sie könnte ihr ganzes Leben damit verbringen, sich immer wieder etwas Neues auszudenken, um ihn zum Lachen zu bringen: ein witziges Mädchen, nicht aus einem Ei geboren, sondern aus einem Geheimnis, tief in dieser Stadt des Geldes verborgen. »Na klar«, sagt er. Er greift nach einem nassen Lappen und fängt an, Rebeccas Kleid abzutupfen.

Thea wälzt sich auf die Seite und sieht ihn an. Sie fühlt sich wie eine erwachsene Frau, die ihr Schicksal selbst in der Hand hat. »Werden wir zusammen in deiner Wohnung leben?«

Walter, immer noch mit dem Kleid beschäftigt, runzelt die Stirn. »Das geht jetzt noch nicht, das weißt du doch, oder?«

Thea denkt an ihre Familie. Wie um alles in der Welt soll sie ihr jemals sagen, dass sie alleine, ohne ihre Hilfe, einen Ehemann gefunden hat? »Natürlich weiß ich das. Ich überlege nur, wie es sein wird. Vielleicht könnten wir ja eine andere Unterkunft finden? Eine neue, für uns beide?«

Walter beugt sich vor und küsst sie sanft auf den Mund. »Was immer du willst.«

Thea setzt sich auf und zieht ihr Hemd an. »Fabritius wird sich fragen, was für ein Fleck das ist.«

»Mach dir keine Sorgen um Fabritius. Ich lasse es an meinem Feuer trocknen, und er wird gar nichts bemerken.«

»Ein Betrügerpaar«, sagt sie und grinst. Sie versucht, den Gedanken daran, wie sorgfältig Cornelia das Kleid gebügelt hat, beiseitezuschieben.

»Eine Notlüge«, sagt Walter. »Die tut niemandem weh.«

»Ich möchte dir etwas zeigen.« Thea steht auf, nimmt ihren Rock und zieht die Puppe ihres Geliebten aus der Tasche. Sie hält sie ihm hin in der Erwartung, dass er komplizenhaft grinsen wird. Du hast sie gefunden!, wird er sagen. Du hast die Botschaft verstanden und bist gekommen.

Aber Walter grinst nicht. Vielmehr starrt er die Puppe entgeistert an. »Was ist das?«, fragt er. »Soll das ich sein?«

»Natürlich. Du kannst mich nicht veralbern, Walter. Du hast sie für mich gemacht.« Walter fährt zurück, und Thea wird jetzt doch mulmig. »Oder nicht?«

»Woher hast du das?«

»Es lag heute Morgen vor unserer Haustür. In Papier eingepackt, mit meinem Namen drauf.«

»Denkst du im Ernst, ich würde so eine Figur von mir machen und dir vor die Tür legen?«

Thea zögert. »Ich – ich weiß nicht. Ich dachte, es wäre ein Geschenk von dir. Eine Botschaft, dass du dir wünschst, ich käme zu dir.«

»Ein Geschenk?« Walter wirkt wie hypnotisiert. Fast ängstlich bewegt er einen Finger auf die Puppe in Theas Hand zu. Er berührt den Arm, der die leere Palette hält. »Ich würde dir so etwas nicht schicken. Und ich hantiere ganz bestimmt nie mit einer leeren Palette. Auf meiner sind immer Farben.«

Thea versucht ihn zu besänftigen, die Stimmung zärtlicher Intimität wiederherzustellen. »Ja, natürlich. Aber es ist jedenfalls ein hübsches Figürchen, ob du es nun gemacht hast oder nicht.«

Walter starrt die Puppe wieder an. »Das gefällt mir nicht«, sagt er, und sein Blick huscht zur Tür. »Beobachtet uns jemand? Wer hat das Ding gemacht?« Er wirft die Miniatur auf das Abdecktuch und rappelt sich auf, zieht sich die Stiefel und den Kittel an. Er sieht sehr aufgeregt aus und jünger als seine fünfundzwanzig Jahre. »Thea, hast du jemandem von uns erzählt?«

»Natürlich nicht.«

»Dir ist nicht vielleicht etwas rausgerutscht? Könnte es sein, dass du irgendwem gegenüber mit deinem Schatz vom Theater geprahlt hast?«

»Nein, Walter, es kann nicht sein. Und selbst wenn ich von dir sprechen würde, warum wäre das so schlimm? Wir sind jetzt verlobt. Wir werden heiraten.«

Als Walter nicht antwortet und weil er so aufgewühlt wirkt, nimmt Thea schließlich Zuflucht zu einer Lüge. »Ich habe die Puppe gemacht«, sagt sie.

Er starrt sie ungläubig an.

»Ich gebe es zu: Ich war es.« Thea fühlt sich sehr nackt in ihrem Hemd. Sie wünscht sich, sie könnte hinter der gemalten Kulisse verschwinden und ihr Kleid anziehen. »Es war nur ein Scherz. Ein verunglückter Scherz, nichts weiter.«

»Du hast das gemacht? Ist das wahr?«

»Ich dachte, es würde dir gefallen.«

Von der Tür her ist das Geräusch von Schritten zu hören, aber sie gehen vorbei, und dann ist es wieder still. »Nun, das war ein Irrtum«, sagt er leise.

»Es tut mir leid«, antwortet Thea. Sie versteht nicht, warum es ihn so aufregt, seine heftige Reaktion hat sie erschreckt. Ihr ist kalt.

»Also gut«, sagt er, »ich glaube dir. Aber jetzt muss ich mit diesem Strand weitermachen.«

Sie gehen aufeinander zu, Auge in Auge, ein Ehemann und seine Frau, wenn auch ohne offizielle Trauung und ohne Ringe, in diesem Raum der Illusionen. Aber als sie einander küssen und umarmen, fühlt sich Thea ein wenig besser. Missverständnisse passieren eben zwischen Verliebten, denkt sie, aber sie machen die anschließende Versöhnung nur noch süßer. »Ich bin froh, dass wir es getan haben«, flüstert sie.

»Ich auch«, sagt Walter und küsst sie auf die Stirn. »Und ich sehe dich bald wieder. Viel Vergnügen bei dem Essen am Mittwoch. Und denk an mich.«

»Ich denke immer an dich.«

Walter zeigt auf die Miniatur, die noch immer auf dem Abdecktuch liegt. »Nun ja. Vielleicht kann er dir Gesellschaft leisten.«

*

Thea verlässt das Theater mit dem Gefühl, im Bann eines mächtigen Geheimnisses zu sein. Etwas in ihrem Leben hat sich verschoben, und sie möchte es festhalten, froh, dass sie Rebecca Bosman nicht begegnet ist, denn es wäre ihr peinlich gewesen, wenn sie den Fleck auf dem goldenen Kleid hätte erklären müssen. Sie nimmt einen längeren Weg, um noch eine Weile mit ihren Gedanken allein zu sein und um sich zu sammeln, damit niemand in ihrer Familie Verdacht schöpft. Die Stadt ist inzwischen hellwach: Die Geschäfte sind geöffnet, und die Händler füllen ihre Auslagen. Amsterdam ist stolz darauf, dass es überall sauber ist: Besen und Putzlappen dienen dazu, jene Reinheit herzustellen, die tadellose Moral oder doch zumindest die besten Absichten in dieser Richtung signalisiert.

Thea wandert an lauter blitzsauberen Häusern vorbei, alle Fenster blinken, nirgendwo liegt Abfall herum. Hier gibt es keine Sünde, sagen diese Häuser und Straßen. Sie bleibt vor einem Kurzwarenladen stehen, betrachtet Seiden- und Baumwollstoffe, mit Krapp oder Safran oder schwarz gefärbte Garne, die auf weiß getünchten Brettern ausgebreitet sind, damit die Farben stärker wirken. Ein Käsehändler stellt schwere Gouda-Laibe, die wie Sonnen leuchten, ins Fenster, arrangiert sie still lächelnd, als wollte er die Passanten zu einem Spiel einladen, dessen Regeln nur er kennt. Kann wirklich niemand ihr ansehen, was sie getan hat? Sehen die Leute nicht das Leuchten in ihren Augen? Der Käsehändler blickt auf und fährt zusammen, die Augen in seinem roten Gesicht weit aufgerissen. Thea fragt sich, ob er einfach nur aus seiner Konzentration aufgeschreckt wurde oder ob er tatsächlich sie anstarrt, weil er noch nie jemanden ihresgleichen gesehen hat. Was steckt hinter diesem Gesicht? Nur gutartige Neugier oder Misstrauen oder Angst?

Ich will dir keinen Käse stehlen, denkt Thea und geht schnell weiter; sie will sich nicht begaffen lassen, sie will nicht, dass das altgewohnte Ärgernis ihren Gedanken an das, was im Malsaal passiert ist, in die Quere kommt.

Mägde eilen vorbei, ohne sie zu beachten. Sie sind dick eingepackt und haben Weidenkörbe dabei, denn sie sind auf dem Weg zu den Märkten, um die schönsten Seezungen und Wittlinge zu kaufen, die gerade erst aus dem eisigen Meer gefischt wurden, oder die prallsten Rüben für ihre Herrschaft, die nie zufrieden ist. Thea wandert ziellos dahin, tief in Gedanken versunken.

Sie hatte geglaubt, nach einem solchen intimen Akt vertrauensvoller Hingabe würde sie sich leicht und glücklich fühlen. Sie hat mit Walter geschlafen, sie ist keine Jungfrau mehr. Manche mögen so etwas skandalös finden, doch sie und ihr Liebster sind ja gültig verlobt. Aber dieser Morgen, der nichts als lauter Liebe versprochen hatte, der ein Wiedersehen und einen Anfang bringen sollte, hat eine befremdliche Wendung genommen, und das einzig wegen dieser Puppe. Die sonst so vertrauten Wege an den Grachten entlang nach Hause sind wie verwandelt. Das Wasser unter dem Eis scheint tiefer zu sein, die Fassaden der Häuser wirken weniger freundlich, ihre Fenster übergroß und leer. Thea spürt die Miniatur von Walter tief in ihrer Tasche, und als sie den Weg zur Herengracht einschlägt, wirft sie unwillkürlich einen Blick über ihre Schulter und sucht in den Gesichtern der Leute um sie herum nach Zeichen eines unnatürlichen, feindseligen Interesses.

Es ist schlicht unmöglich, dass jemand über sie und Walter Bescheid weiß und sie beobachtet. Einen Moment lang überlegt sie, ob sie die Miniatur aufs Eis werfen soll. Die Sache hat ihn verletzt und beleidigt, und Thea kann sich nicht erklären, wie die Figur auf die Stufe vor ihrer Haustür gekommen ist. Es muss wahr sein, dass er sie nicht gemacht hat. Es stimmt auch, wenn er sagt, dass er mit vielen Farben malt, nicht nur mit einem einzigen Pinsel, der in Rot getaucht ist.

Sie haben von einer gemeinsamen Zukunft gesprochen, sie haben einander nackt gesehen, aber jetzt ist Walter wieder bei der Arbeit und malt seine Bühnenbilder, als wäre nichts geschehen. Theas Unterleib schmerzt, und ihr ist eng ums Herz. Dass sie Walter liebt, weiß sie. Sie ist auch sicher, dass er sie liebt. Er will sie schließlich heiraten – o ja, es ist tatsächlich wahr –, und Tante Nella hat zumindest in einem Punkt recht: In Amsterdam bedeutet eine Heirat alles. Die Verlobung beweist mehr als nur, dass Walter Thea begehrt, sie beweist auch, dass er an sie glaubt und dass er ihre gemeinsame Zukunft vor aller Augen wahrmachen will. Aber Thea möchte, dass die Zeit für eine Weile stehenbleibt, möchte sich in ihr verkriechen wie ein Kaninchen in seinem Bau und über all die Dinge nachdenken, die heute Morgen passiert sind.

Sie tastet in ihrer Tasche nach ihrem Miniatur-Liebhaber. Sie spürt die Kraft, die von der kleinen Figur ausgeht, aber wer weiß, ob das nicht vielleicht nur daran liegt, dass sie den echten Mann so sehr liebt? Letztlich ist es nur ein Püppchen. Aber sie hat das Gefühl, dass sie es nicht wegwerfen darf – noch nicht, egal woher es kommt. Sie wird diesen Walter in das kleine verschließbare Kästchen legen, das sie unter ihrem Bett stehen hat und dessen Schlüssel sie immer um ihren Hals trägt. Sie wird das Figürchen vor ihrer Tante, ihrem Vater und Cornelia verstecken, bis die Zeit reif ist.

Zu Hause angekommen, atmet Thea, ehe sie eintritt, tief durch, um die berauschenden Geheimnisse dieses Tages tief in ihrem Inneren zu verbergen und jede Spur davon aus ihrem Gesicht zu tilgen. Doch als sie im Hausflur steht, quält sie immer noch ein Gedanke: Da sie diese Miniatur nicht gemacht hat und Walter auch nicht, wer in dieser Stadt voller Geheimnisse hat sie dann gemacht?