Teil 1
1. Kapitel
Zwei Jahre später
I
ch bin eine schlechte Mutter. Das soll man nicht sagen. Alle waren sehr darauf bedacht, dass ich mir nicht selbst die Schuld gebe. Zu Beginn jedenfalls.
Und sie hatten recht, es gab viele Dinge, die wir – die ich – richtig machten. Gutenachtgeschichten, ausgewogene Mahlzeiten, ein schönes, elegantes Zuhause. Urlaub im Ausland, Tennis- und Klavierstunden, ein Nachhilfelehrer für Mathe, als Sophie in der Grundschule leichte Probleme hatte. Wir haben sogar einen mutigen Versuch mit der Geige gestartet, als Sophie sieben Jahre alt war, auch wenn sie so großartig schief klang, das Geräusch so schmerzhaft, dass Mark und ich einmal lautlos lachend vor der Wohnzimmertür standen. Unsere kleine Tochter hat das natürlich nicht mitbekommen. Aber auch wenn Sophie kein besonderes Ohr für Musik hatte, so hatte sie doch alles andere. Wir hatten sogar einen Hund – natürlich hatten wir einen –, einen schwarzen Labrador namens King, so lieb wie gierig. Mark hatte den Namen ausgesucht. Er war mit Hunden wie King aufgewachsen und wollte, dass Sophie auch einen hatte. Ich vermisse King.
Aber vielleicht schätze ich das alles falsch ein, sogar jetzt noch. Vielleicht lag es nicht an mir oder Mark, dass es uns so leicht erschien, dass unsere kleine Familienblase geradezu durchs Leben zu schweben schien – sondern an unserer Tochter, immer lachend und lieb, darauf bedacht, zu gefallen.
»Dein kleiner Schatten«, nannte Mark sie. Immer war sie da, lief hinter mir her, freudig an allem teilhabend, was ich tat. Sie hatte ein Talent dafür, glücklich zu sein. Als sie in die Teenager-Phase kam, gab es natürlich ein paar Ausreißer, aber das war normal. Es würde alles gut enden.
Ich irrte mich.
Aber ich suche nach Entschuldigungen. Denn alles, was ich getan habe, die Autofahrten, die geputzten Nasen, die Küsse, die Jahre der Liebe und Sorge, nichts davon zählt jetzt noch. Am Ende gibt es nur eine Erkenntnis: Ich habe versagt.
Morgens ist es am schlimmsten. Einfach nur in den Tag starten, entscheiden, dass es doch einen Grund gibt, aufzustehen.
»Ich weiß nicht, wie du es schaffst weiterzumachen«, sagten mir manche Leute. Ich weiß nicht, woher sie zu wissen glaubten, dass ich das tat. Lange Zeit empfand ich mich im Stillstand.
Darüber bin ich hinaus. Ich arbeite nicht mehr in einem Büro, aber ich beschäftige mich, auf meine Art. Es gibt so viel zu tun: Telefonanrufe, E-Mails, Briefe. Artikel, die ich lesen muss, Foren, die ich verfolgen muss.
Manchmal ist es überwältigend. Die Leute denken, ich verstecke mich und tue nichts, aber sie verstehen nicht, wie viel ich immer noch leiste. Wenn ich ehrlich bin, schaffe ich es allerdings nicht immer aus dem Bett, bevor die Katze anfängt, mich vor Hunger rauszutreiben.
Meiner Meinung nach liegt der Trick darin, nicht allzu viel darüber nachzudenken. Heute half mir ein Streifen warmen Sonnenlichts quer über meinem Kopfkissen, zu hell für meine Augen. Der Himmel war bereits ein erschreckender blauer Streifen zwischen der Jalousie, die ich nicht ganz geschlossen hatte. Also zwang ich mich, beide Füße auf den Boden zu stellen, und saß dann einen Moment lang auf der Bettkante, der Kopf noch leicht vom Schlaf, und dachte über den kommenden Tag nach.
Der Kalender ist im Moment nicht gerade voll. Nicht wie diese Wochenenden, an denen wir freitags und samstags unterwegs waren, auf Dinnerpartys und Events von der Arbeit und großen Geburtstagen – es gab immer was zu feiern. Mark war so sozial, und ich war immer glücklich damit, in seinem Fahrwasser mitgezogen zu werden.
Aber für heute Abend habe ich Pläne, das ist ja schon mal was. Und jetzt bin ich schon geduscht und habe mir einen starken Kaffee gebraut, um den Kopf zu klären, denn ich habe mir selbst eine Aufgabe für heute gestellt.
Das erste Fotoalbum ist von einer Schicht Staub bedeckt, die mich niesen lässt, als ich es aus dem Regal im Wohnzimmer ziehe. Es fiel mir immer leicht, sie aktuell zu halten und dafür zu sorgen, unsere digitalen Schnappschüsse in glänzende Ausdrucke zu verwandeln, die ich in die Seiten einfügen konnte. Ich lebe nicht in der Vergangenheit, egal, was manche Leute denken. Ich sehe sie mir selten an.
Aber heute muss ich, denn ich habe entschieden, dass das Bild, das ich online und in den Briefen und E-Mails geteilt habe – Sophies letztes Schulfoto –, in die Irre führen könnte. Diesen Sommer wäre sie schon nicht mehr in der Schule, sondern hätte die Oberstufe beendet. Deshalb sorge ich mich, dass es einen falschen Eindruck erzeugen könnte – dass es sogar ungünstig sein könnte, so deutlich eine Schülerin zu zeigen: Sophies weiße Bluse im Kontrast zu ihrem dunkelblauen Pullover, ihr glänzendes blondes Haar zu einem ordentlicheren Pferdeschwanz zusammengebunden als sonst. Das Haar hat sie von mir, auch wenn meins schon lange die Hilfe eines Friseurs benötigt, um blond zu sein. Das Lächeln ist allerdings nur ihres – sonnig, mit einem Hauch von Schalk, der ihr rundes, süßes Gesicht erhellt.
Heute will ich ein gutes, klar erkennbares Bild von ihr ohne Schuluniform finden. Ich wische meine vom Staub grauen Fingerspitzen an den Shorts ab und nehme das Album mit zum Wohnzimmertisch, wo ich es vorsichtig öffne. Sofort wird mir flau im Magen. Ich dachte, ich hätte die Alben damals chronologisch ins Regal geräumt, aber das ist nicht das, was ich gesucht habe. Dieses Album ist eines der ersten, die Fotos sehen schon auf diese ganz bestimmte Art veraltet aus. Wieso ist das so? Es kann nicht nur unsere Kleidung sein – es sind T-Shirts und Flip-Flops, unvergängliche Sommermode.
Und doch gehört diese erste Aufnahme in eine andere Zeit. Sie zeigt Mark, Sophie und mich auf irgendeiner Parkbank sitzend, alle mit einer Waffel Eis in der Hand. Mark ist dünner als jetzt, und ich sehe runder aus, rosiger, aber nicht das lässt unsere Fotoabbilder wie Fremde auf mich wirken. Vielleicht ist es irgendwas in unseren Blicken: Wir sind beide so sorglos, so bereit für eine Zukunft, die ganz sicher nur mehr Gutes bringen würde. Und natürlich ist da Sophie, eine mollige Zweijährige mit einem Büschel heller Haare, mit Beinen, die aus ihren Latzhosen ragen, zu kurz, um die Kante ihres Sitzplatzes zu erreichen.
Ich blättere um.
Oh, daran erinnere ich mich auch. Ich habe dieses Bild aufgenommen. Sophie war auf dem Sofa eingeschlafen, eine Faust noch um Teddy gewickelt, den viel zu teuren Plüschbären, auf den Mark ein Weihnachten bestanden hatte. Das sind Sammlerstücke, keine Spielzeuge für Kinder, hatte ich lachend erwidert. Aber sie hatte ihren neuen Teddy geliebt, ihn am Bein durch das ganze Haus geschleift und darauf bestanden, nachts ihr Kissen mit ihm zu teilen. Nur wenn sie eingeschlafen war, konnte ich ihn vorsichtig nehmen und mit unparfümiertem Waschmittel waschen, damit er nicht anders roch. Sogar als sie älter wurde, endete Teddy jede Nacht irgendwie unter ihrem Kopfkissen.
Ich weiß nicht, wo Teddy jetzt ist. Als wir sie noch hatten, war es nicht so wichtig, auf diese Dinge zu achten …
In der Küche klingelt schrill das Telefon, und ich zucke zusammen, denn der Ton ist im stillen Haus zu laut. Ich schleiche hinüber, wische mir die Augen am Ärmel trocken – wie üblich habe ich kein Taschentuch dabei.
»Hallo?«
»Hallo, Schatz?«
Es ist Dad, seine Stimme rauer als früher.
»Dad, wie geht es dir?«
Ich bin froh, dass ich mich so ruhig anhöre.
»Gut, gut. Weißt du, wir haben uns gefragt, deine Schwester und ich, ob du heute Nachmittag vorbeikommen und hier schlafen magst. Wir dachten, wir könnten bei diesem neuen Italiener essen gehen. Da gibt es …«, er macht eine nachdenkliche Pause, »Sushi.«
»Italienisches Sushi? Bist du sicher?«
»Oh, irgendwie so was. Vielleicht auch Tapas. Ich kann mir das alles nicht merken. Aber es wäre sehr schön. Würde dir das gefallen? Charlotte meint, du kannst in ihrem Gästezimmer bleiben.«
»Oh. Danke, aber ich kann nicht.«
»Oder du könntest bei mir übernachten, wenn du denkst, es wäre zu laut mit den Jungs. Ich kann das Sofa beziehen.« Dad hatte sich zu einem Reihenhaus verkleinert, ein Cottage eigentlich, noch näher bei meiner jüngeren Schwester Charlotte und ihrer Familie. Er deutet öfter an, dass ich es ebenso halten sollte, und erwähnt immer, dass es »so einfach ist, ein kleines Haus zu pflegen«. Ich glaube, die beiden möchten mich näher bei sich haben, dort, wo ich aufgewachsen bin.
»Danke, Dad, aber ich kann nicht. Ich gehe aus.«
»Oh!« Er klingt erfreut und fragt jovial: »Und wohin geht es an einem Samstagabend?«
»Das Sorgentelefon«, erkläre ich kurz angebunden. »Du weißt schon, meine Nachtschicht.«
»Ja, natürlich. Ich dachte nur, dass du inzwischen … meinst du, es würde ihnen was ausmachen, wenn du heute Nacht nicht gehen würdest?«
»Ich wünschte, das ginge … aber ich kann sie nicht hängen lassen. Das wäre nicht richtig.«
Ich beiße mir auf die Lippe. Tatsächlich bin ich sicher, dass es kein Problem wäre. Ich habe mehr als meinen Teil der Schichten übernommen und bin immer bereit, noch mehr zu machen, wenn herumgefragt wird, ob jemand tauschen kann. Es gibt mehr als nur ein paar Gefallen, die ich einfordern könnte.
»Das nächste Mal vielleicht.«
»Ja, das nächste Mal.«
Plötzlich kann ich ihn vor mir sehen, ordentlich in dem karierten Hemd, das er immer zur Arbeit im Garten trägt, allein in der aufgeräumten kleinen Küche, inzwischen ein wenig zusammengesunken. Es ängstigt mich, wie sehr er in diesen letzten Jahren gealtert ist. Es ist nett von ihnen, dass sie es versuchen.
»Tatsächlich wollte ich schon längst vorbeikommen«, erkläre ich. »Neulich hatte ich eine Idee. Erinnerst du dich an den Abend, als wir im Cottage waren?«
»Hm, welcher Abend war das?«
»Der, als du dachtest, du hättest Sophie gesehen.« Darüber will er nicht mehr reden, aber irgendwas in mir will ihn drängen. »Ich weiß, du sagst immer, dass du dich nicht an das Modell des Autos erinnern kannst, dass es zu dunkel war, aber ich habe nachgedacht – ich habe einige Ausdrucke von Autobildern aus dem Internet, und ich könnte sie vorbeibringen, und dann sehen wir, ob irgendeines deinem Gedächtnis auf die Sprünge hilft. Ich glaube mich nicht zu erinnern, dass die Polizei das jemals gemacht hat, oder?«
Einige Sekunden lang schweigt er.
»Katie … es tut mir leid. Du weißt, das war nicht sehr fair von mir.«
»Was meinst du?«
»Ich hätte das nie erwähnen sollen und damit falsche Hoffnungen wecken. Mir war nicht bewusst, dass es dich noch so beschäftigt.«
»Nun, natürlich, ich suche immer nach neuen Hinweisen.«
»Weißt du, Kate, es geschieht sehr häufig, wenn jemand verschwindet, dass Freunde und Familie glauben, denjenigen irgendwo zu sehen.«
»Ich weiß das, aber …«
Zur Abwechslung unterbricht er mich mal mit fester Stimme: »Katie, bitte. Wir haben das schon so oft besprochen. Ich bin zwischendurch umgezogen. Es gibt keinen Grund, warum Sophie das wissen könnte, selbst wenn sie nach mir suchen sollte. Es war dunkel, und ich habe gesehen, was ich sehen wollte. Tatsächlich ist das nicht ungewöhnlich – es ist Teil des Trauerprozesses.«
Therapie-Sprech.
»Du warst wieder bei dieser Gruppe.«
Ich versuche, meine Stimme neutral zu halten, aber sie klingt kalt.
»Es hat deiner Schwester und mir sehr geholfen. Und ich denke, es würde auch dir helfen, wenn du es nur noch einmal probieren würdest.«
»Vielleicht. Irgendwann demnächst – oh, einen Moment. Entschuldige, es klingelt an der Tür. Ich melde mich später, Dad. Ich wünsche dir einen schönen Abend, und richte Charlotte und Phil und den Jungs liebe Grüße aus.«
»Tschüss, Katie.«
Er klingt traurig.
»Tschüss.«
Ich lege auf. Lügen war noch nie meine Stärke.
Dieses Gruppending habe ich ausprobiert, aber ich bin nur einmal hingegangen. Es war unerträglich. Die einzigen Geschichten, die ich hören wollte, mussten ein Happy End haben.
Ich wollte nicht in einer zugigen Kirche sitzen, mit einem Haufen Fremder, die versuchten, mit dem klarzukommen, was ihnen zugestoßen war. Natürlich konnten sie es nicht. Die ganze Angelegenheit war so dämlich.
Außerdem wusste ich, wie das läuft. Ich hatte die Broschüren gelesen, und einiges davon war am Ende durchaus irgendwie nützlich. »Für ein paar wenige Familien«, erklärte eine, »ist es ein Weg, mit der Intensität und alles vereinnahmenden Natur der Suche umzugehen, sie gar nicht erst aufzunehmen oder schnell wieder einzustellen.«
Das tat ich nicht. Ich konnte es nicht, nicht mal, wenn ich gewollt hätte. Aber ich nehme an, es hat mir geholfen, Mark zu verstehen, wenigstens ein kleines bisschen, nachdem Sophie fort war. Denn das war die letzte Sache, über die wir uns nicht einig werden konnten.
Wann man aufgeben sollte.