2. Kapitel
D
as Problem mit Vermissten ist, dass sie nicht immer gefunden werden wollen. Das erklären sie allen Neuen hier, und das sage ich mir, wenn ein weiterer Samstagabend vorbeigeht, ohne dass uns wenigstens Spaßanrufe etwas aufmuntern.
In ihrer Ecke strickt Alma an einem weiteren riesigen gelben Rechteck, ein Pullover, wie sie mir erklärt, während die bösartig aussehenden Nadeln blitzschnell klappern. Ich hoffe, dass sie nicht vorhat, ihn mir zu schenken.
Man braucht uns wirklich nicht beide, aber es ist die beste Vorgehensweise, sagt die Hilfsorganisation. Verantwortungsbewusst. Es ist ihnen sehr wichtig, uns Ehrenamtlichen das Gefühl zu geben, dass man sich um uns kümmert und sorgt und wir sicher sind.
Dafür ist es ein wenig zu spät, will ich sagen, aber ich tue es nicht. Nicht alle hier kennen meine Umstände.
Neue Leute sind für gewöhnlich überrascht, wie still es hier ist. Sie denken, es gibt hier jede Menge Drama, klingelnde Telefone und Leute, die herumrennen und dringende Nachrichten aufschreiben.
Ich nicht. Ich wusste, wie selten Anrufe reinkommen würden. Es ist nicht der Samariterbund. Aber das lässt die Zeit auch nicht schneller vergehen. Heute bekomme ich vom Starren auf den Bildschirm Kopfschmerzen; ich surfe durch meine üblichen Webseiten, hinterlasse Nachrichten.
Vorsichtig reibe ich um meine Augen herum, damit ich nicht mein Make-up verschmiere, und bewege den Kopf von links nach rechts. Durch das Fenster hier im sechsten Stock sieht man einen spektakulären Sonnenuntergang über Manchester.
Seufzend legt Alma ihr Strickzeug zur Seite und schiebt sich von ihrem Schreibtisch weg.
»Zeit für meine Pause, liebe Kate. Schaffst du es allein? Ich brauche nicht lange, ich gehe nur kurz zu Marks und Sparks.«
Wie ein Uhrwerk – genau um neunzehn Uhr.
Obwohl ich denke, dass ich es gerade eben schaffen kann, lächle ich breit.
»Das wird schon. Keine Eile.«
Ich lausche ihren getragenen Schritten, die sie zu den Aufzügen unseres nicht gerade glamourösen Bürogebäudes führen. Regionale Wohlfahrtseinrichtungen haben nicht das nötige Geld für schicke Hauptquartiere. Dennoch sollte man meinen, dass sie uns ein paar Kekse kaufen könnten.
Mein Blick fällt auf die Pinnwand: Da hängt der lobende Artikel, den die Zeitung letztes Jahr Weihnachten über uns geschrieben hat. Auf dem Bild sind wir alle drauf, ein lächelndes Team. Ich stehe in der hinteren Reihe. Sie fürchten, dass wir uns hier im Norden vergessen fühlen. Der Hauptsitz ist in London, Teil einer viel größeren Organisation, in die unser Sorgentelefon vor einigen Jahren eingegliedert worden war. Aber mir ist Bestätigung egal, genauso wie Teambildung. Mir war nur nicht schnell genug eine Ausrede eingefallen, um mich zu drücken.
Seit einiger Zeit helfe ich jetzt schon aus, übernehme die späten Wochenendschichten, wenn andere Menschen mit Familie und Freunden beschäftigt sind. Ich lasse sie glauben, dass ich den Rest der Zeit arbeite. Ich will diese Blicke nicht.
Die Schicht hat um fünf angefangen, und jetzt bin ich auch hungrig. Erst werde ich mir noch eine Tasse Tee aufbrühen, und sobald Alma wieder da ist, gehe ich zu Pret, überlege ich. Alma ist streng. Sie macht nicht mal Toilettenpausen, solange kein Mitarbeiter am Telefon ist, was wohl richtig ist, wie ich vermute. Kurz überlege ich, ob ich nicht nachher eine dieser kleinen Weinflaschen für uns mitbringen soll, ein halber Plastikbecher für jede von uns im Angesicht der Nachtschicht. Aber nein, Alma und ihre Regeln, sie …
Als das Telefon klingelt, zucke ich regelrecht zusammen. Das erste Gespräch des Abends für mich. Ich hebe innerhalb der ersten drei Klingeltöne ab, wie wir es versprechen. Es gibt nicht mal Kopfhörer und Mikrofon.
»Hallo«, beginne ich mit warmer, ruhiger Stimme. »Du hast die Flaschenpost-Hotline erreicht. Ich bin Kate.«
Ein Klicken. Das passiert manchmal, sie verlieren die Nerven, hat man uns im Training erklärt. Weniger wurde uns über die Scherzanrufe gesagt, gelangweilte Teenager und Männer, die sich nach einer fremden Stimme sehnen.
Heute war es bislang ruhig. Alma hatte die letzten paar an der Strippe und hat sich mit geübter Lockerheit um sie gekümmert: »Oh, ich weiß, meine Liebe, es ist schwer, nicht wahr, aber es ist niemals zu spät, Brücken zu bauen, weißt du. In der Zwischenzeit werden sie so glücklich sein zu erfahren, dass du in Sicherheit bist. Bist du sicher, dass du mir nicht deine Nummer geben magst, um zu sehen, dass es dir gut geht, so in ein, zwei Tagen …?«
Genau das machen wir hier: Menschen, die ihr Zuhause verlassen haben, rufen uns an, und wir reichen ihre Nachrichten an Angehörige und Nahestehende weiter.
WEGGELAUFEN?
Schick eine Nachricht, dass du in Sicherheit bist
KEINE FRAGEN
Ruf einfach an und übergib uns deine Nachricht
Wir leiten sie weiter
Schicke eine FLASCHENPOST
Das ist unsere Anzeige. Man findet sie überall, wenn man weiß, wo man nachsehen muss: in Kirchen, Gemeindezentren und Bürgerhäusern, manchmal sogar im Lokalblatt, wenn sie Geld dafür haben.
Tatsächlich ist Alma darin brillant und bekommt die Namen von Eltern heraus, halb vergessene Postleitzahlen, »Wie geht es dir gerade?«, skizziert die traurigen Details von Behandlungszentren und »kein fester Wohnort«, das Strandgut zerbrochener Leben, und dabei klingt sie wie eine einfühlsame Großtante auf einer Familienfeier. Sie mag aussehen wie die Präsidentin des Ortsverbands für Frauenrechte – genau das war sie –, aber Alma weiß, was sie tut. Brücken bauen, Kommunikationslinien offenhalten, Nachrichten an Familien liefern, die verzweifelt etwas, irgendetwas über den geliebten Vater, Cousin oder Sohn wissen wollen … oder über die geliebte Tochter.
Ich hingegen habe Schwierigkeiten, zu Anrufern eine Verbindung aufzubauen. Man sagt mir, ich kann etwas kühl wirken – laut eines Rückmeldungsformulars (das ist hier sehr wichtig, denn es gibt eine endlose Anzahl an Besprechungen und Nachbesprechungen) mangelt es mir an »Empathie«, wenn es um die Lebenssituationen von Anrufern geht. Was ich einigermaßen ironisch finde, um es nett auszudrücken.
Aber wenn ich schon nicht die Beliebteste sein kann, bin ich wenigstens verlässlich.
Wieder klingelt das Telefon, reißt mich aus meinen Gedanken, und ich hebe ab. Das Rauschen knistert in meinem Ohr, lässt mich zusammenzucken, dann wird es leiser.
»Hallo«, sage ich erneut. »Du hast die Flaschenpost-Hotline erreicht.« Ich weiß, der Name ist viel zu niedlich. »Ich bin Kate.«
Keine Antwort. Nur eine weitere Runde Knistern.
»Ist jemand am anderen Ende?«
Vielleicht hat sich jemand verwählt, oder ein automatisches System in einem Callcenter hat sich vertan, bevor sich ein Mitarbeiter aus Glasgow oder Mumbai dazuschaltet und versucht, mir etwas zu verkaufen.
»Hallo?«
Wieder ein Anschwellen des Rauschens, aber darunter kann ich gedämpfte Geräusche wahrnehmen, als würde jemand unter Wasser reden.
Hoffentlich war es kein Scherzanruf. Natürlich haben wir Regeln, man darf nicht mal zu betrunkenen Kids unhöflich sein – »Man weiß nie, warum jemand anruft«, erklärt Alma Neulingen immer ernst. »Sogar ein Scherzanruf kann ein Hilferuf sein.«
Selbst wenn ich hin und wieder den Schweratmenden dran habe, der Obszönitäten flüstert, oder ein paar Teenager, die in den Hörer kichern – solange Alma nicht in der Nähe ist, teile ich ihnen mit ein paar klaren Ansagen meine Meinung mit und sage, dass wir Anrufe verfolgen können, bevor ich auflege. Sie müssen ja nicht wissen, dass wir das gar nicht können.
Die Leitung wird wieder leise, dann ist da jemand, plötzlich real und schnell atmend.
»Hallo, Flaschenpost hier. Du sprichst mit Kate.« Wieder Rauschen, ich nehme den Hörer ein Stück vom Ohr. »Soll ich jemanden für dich anrufen?«
Mehr Knistern.
»Die Leitung ist leider ganz furchtbar. Gibt es jemanden, dem du eine Nachricht schicken möchtest?«
Es klingt, als würde jemand sehr weit entfernt reden, aber ich kann keine Wörter verstehen. Ich kann so lange dranbleiben, wie ich meine, dass es nötig ist. Ich drehe den Bürostuhl und blicke aus dem Fenster. Das letzte Fitzelchen Sonne gleitet hinter die gezackte Skyline, ein paar Strahlen zeichnen Muster auf die Wand hinter mir, als es verschwindet.
Wieder versuche ich es, beginne, mich durch unsere Fragen zu arbeiten: »Bist du an einem sicheren Ort?«
Eine Pause, dann »… mich hören?«
Die Stimme einer Frau, ein blechernes Flüstern gegen das Rauschen.
»Ja, kann ich. Nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst.« Ich nehme einen Schluck meines kalt werdenden Tees. Natürlich will ich sie nie verscheuchen.
»Du bist da!«
Die Erleichterung in der leisen Stimme ist fast greifbar. Sie klingt jung – das sind sie oft.
»Keine Sorge, ich bleibe«, versichere ich. »Wann immer du reden willst.«
Der gelbe Zettel, den ich ans Telefon geklebt habe, erinnert mich an unsere neueste Ansage, angeordnet durch Chrissie, die gestresste Koordinatorin der Freiwilligen bei der Hotline.
»Wenn du lieber eine SMS schicken willst, kein Problem. Wir bieten jetzt …«
Sie unterbricht mich.
»Ich muss schnell sein. Sie müssen ihnen sagen, dass sie sich nicht mehr um ihre Tochter zu sorgen brauchen. Dass sie … dass es mir
gut geht …«
Wieder verlieren sich die Worte im Rauschen.
»Wem? Wem soll ich das sagen?« Mit einem Mal rast mein Herz.
Stille, dann die Stimme, winzig nun, wie sehr weit weg: »… keine Sorgen machen, wenn sie dann nicht mehr von mir hören, es schmerzt nur …«
Und wieder ist sie weg.
»Ich kann dich nicht verstehen, Süße.«
Meine Finger krallen sich um den Hörer, drücken ihn an mein Ohr, fester und fester, als könnte ich so besser hören. Die Leitung knistert und summt.
Dann wieder diese Stimme, jetzt deutlich, die ich besser kenne als jede andere: »… sind Kate und Mark Har…«
Meine Haut wird am ganzen Körper kalt.
»Sophie?«, frage ich. Erlaube mir endlich, es zu fragen: »Bist du das, Sophie?«
Wieder schwillt das Rauschen an. Es ist unmöglich zu sagen, ob sie noch redet.
»Bist du noch da?« Ich warte, während mir mein Herz in der Brust schmerzhaft laut pocht. »Bist du noch da?«
»Ja, ja, ich bin noch dran«, antwortet sie. »Ich bin noch da.«
»Ich liebe dich, So.«
Am Ende ist das alles, was ich ihr sagen will. Ich weiß nicht, was sie antworten wird, aber dann dröhnt das Freizeichen in der Leitung, viel zu laut in meinem Ohr. Ich atme aus, lege langsam auf.
Jeder Faser in mir kennt diese Stimme.
Meine Tochter. Sophie.
Als Alma zurückkommt, bin ich ruhiger, zumindest nach außen hin. Darin bin ich gut. Du bist so gefasst,
sagen mir die Leute immer. Und dann: Ich kann nicht glauben, wie ruhig
du bist. Es ist kein Kompliment.
Aber ich stelle fest, dass ich nicht wirklich ruhig sitzen bleiben kann. In meinem Kopf werden diese paar Wörter wieder und wieder abgespielt: »Kate und Mark Har…« Sie war im Begriff gewesen, Harlow zu sagen, da bin ich sicher. »Kate und Mark Harlow.«
Sofort erzähle ich Alma, was geschehen ist, dass mein Anruf endlich kam, der, den ich immer erwartet hatte. Der Grund für mein Ehrenamt, wie sie jetzt weiß, ohne dass ich es ihr erklären muss.
»Nun, ich bin so glücklich, meine Liebe«, sagt sie nach einer Pause. »Ich weiß, dass du lange warten musstest.«
Ich erwidere ihre Umarmung, damit sie nicht sieht, wie sich meine Augen mit Tränen füllen. Ihr weicher Cardigan riecht nach ihrem Parfüm – Rose und Vanille.
Dann gibt sie mir den Rest der Schicht frei: Sie denkt, es ist am besten, wenn ich nach Hause gehe. Das hier schafft sie schon allein. Für Alma, die Veteranin des Sorgentelefons, sind Brüche und Zusammenschlüsse von Familien alltägliches Geschäft, so wie Einkaufen im Supermarkt und Spaziergänge mit ihrem Dackel.
Ich stelle fest, dass ich zittere, trotz der zwei Löffel Zucker in dem Tee, den Alma mir gemacht hat (»gegen den Schock, meine Liebe«). Ich will hier raus, will was tun. Und dann ist da noch was am Rande meines Denkens, wenn ich es nur zu fassen bekommen würde …
Ich schüttle den Kopf. Sei vernünftig. Zuerst hinterlasse ich eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter der zuständigen Polizeibeamtin. Falls es noch nicht zu spät ist, fahre ich vielleicht zu Dad. Ihm will ich es persönlich, von Angesicht zu Angesicht sagen. Und dann muss wohl ich Mark informieren. Es ist das Richtige. Als Vater von Sophie muss mein Ex Bescheid wissen.
Sobald sie aufgelegt hatte, hatte ich versucht, die Anruferkennung zu bekommen, obwohl ich die Antwort schon kannte. »Der gewünschte Dienst ist nicht verfügbar.«
Selbst wenn wir wollten, können wir unsere Anrufer nicht identifizieren – es ist eine der Grundregeln, und das System ist so eingerichtet, dass es unmöglich ist.
Aber diese Stimme würde ich immer und überall erkennen. Vielleicht war sie leise, und die Verbindung war schlecht, aber sie war es. Sie möchte eine Nachricht an Kate und Mark schicken: an mich und ihren Dad. Dass wir uns keine Sorgen machen sollen – und uns keine Sorgen machen sollen, wenn wir nichts mehr von ihr hören. Was bedeutet das?
In mir wird das Verlangen unerträglich, roh und schmerzhaft. Wenn ich doch nur länger mit ihr hätte reden können. Dann hätte ich sie überreden können, nach Hause zurückzukehren. Ich weiß es. Komm nach Hause, Sophie,
bitte ich mit Nachdruck, als könne ich sie allein durch die Intensität meiner Gefühle überzeugen. Komm nach Hause.
Erst als ich schon fast am Auto bin, erkenne ich es. Mitten auf dem Parkplatz halte ich inne, mit einem Mal steif. Jetzt verstehe ich, was mich plagt.
An diesen Anruf habe ich schon oft gedacht, ihn mir so häufig vorgestellt, auf jede Art. Wie sie sein könnte. Entfernt. Wütend. Aufgebracht.
Aber niemals zuvor habe ich mir vorgestellt, dass sie so klingen würde, so … verängstigt.