4. Kapitel
E s ist schon zu spät, um Dad aufzuwecken, rede ich mir ein, während ich vor dem Haus parke. Ich ertappe mich bei einem Seufzen. Nach Hause zu kommen hebt schon lange nicht mehr mein Gemüt. Das Haus ist zu groß für mich, aber ich kann auch nicht weg. Was, wenn sie wiederkommt und wir alle fort sind?
In der Einfahrt kommt mir eine kleine Gestalt entgegen, und ich bücke mich, um Tom zu streicheln – einen roten Kater. Als wir uns trennten, nahm Mark den Hund mit. Es ist verrückt, wie sehr ich ihn vermisse, erzählte ich meiner Schwester. King, nicht Mark. Sie lachte nicht.
Zumindest bedeutete das, dass ich Tom aufnehmen konnte. Meine Nachbarin Lily hatte im Supermarkt einen Aushang gesehen, der »ein kostenlose Kätzchen« anbot, und ich rief die Nummer an; eine Frau kam angehetzt, einen Karton in den Händen, aus dem es wild fauchte. Sofort erkannte ich, dass der Kater schon halb ausgewachsen war, und fand später heraus, dass er nicht stubenrein war. Lily hatte sich über all das sehr aufgeregt.
Vielleicht war die Geschichte ein Hinweis: Sie war impulsiv, nicht ihr übliches, vernünftiges Selbst. Wenigstens verlangt der Kater nicht viel von mir. Mit einem Mal bin ich erschöpft, als das Adrenalin, das mich durch den Abend getragen hat, aus mir verschwindet wie Blubberblasen aus Limonade.
Als ich das Licht unten ausmache, höre ich im Halbdunkel die Geräusche des Hauses um mich herum: leises Knarzen und Summen, das sich setzt, während die Wärme des Tages entschwindet. Auf dem Weg die Treppe hoch erinnere ich mich daran, dass ich die Jalousien-Firma anrufen muss. In einem seltenen Ausbruch von Aktivität habe ich die alten Vorhänge des Fensters an der Treppe abgenommen. Mehr habe ich nicht geschafft, und jedes Mal, wenn ich daran vorbeikomme, fällt es mir ein.
Draußen in der Dunkelheit kann ich den Umriss des Nachbargebäudes sehen, Parklands, die Türme von Gerüsten umgeben, fremdartige Formen vor dem Nachthimmel. Natürlich ist kein Licht an. Die Kurve der Straße sorgt dafür, dass wir an der anderen Seite nicht mal Nachbarn haben, zumindest nicht richtig.
Ein Schmerz des Verlangens zuckt durch meinen Leib, nach unserer schicken Wohnung in London – viel zu klein für uns, haben wir gedacht, mit Teenager und Hund.
Die längste Zeit war der Gedanke an einen Umzug hierher genau das gewesen – ein »Was wäre wenn?«, über das man bei einem Glas Wein nach dem Abendessen mit Freunden schwadronieren konnte, sozusagen die Flucht aus dem Dunst der Großstadt planen. Dann bekam Mark das Angebot, das Büro in Manchester zu erweitern. Als Sohn einer Royal-Airforce-Familie war er heiter unbesorgt über einen Neuanfang.
»Alle kommen vorbei und besuchen uns. Es ist nur die M6 hoch, dann noch ein Knick. Hast du dir angesehen, wie viel Platz wir dort haben könnten?«
Und wir wären viel näher bei meiner Familie. Charlotte war in der Umgebung von Macclesfield geblieben, wo wir aufgewachsen waren. Sie, Phil und die Jungs lebten gerade mal zehn Minuten von Dad entfernt, während Marks Eltern ohnehin das halbe Jahr in Frankreich verbrachten.
Über einige Dinge redeten wir nicht: die Distanz zwischen uns.
Wir hatten uns in einer Bar in der Innenstadt kennengelernt, eine kleine Geburtstagsfeier, zu der mich eine Freundin mitgenommen hatte – er im Zentrum einer Gruppe lachender Menschen, wie so oft. Er war ein Golden Retriever in Menschenform, hatte Charlotte gesagt, als ich ihn ihr vorgestellt hatte, und hatte die Augen verdreht. Seit der Oberstufe war sie mit Phil zusammen, der noch vernünftiger und geerdeter war als sie, und er hatte sie während der ersten schweren Jahre ihrer Karriere als Lehrerin begleitet. Aber am Ende nahm Mark auch sie für sich ein. Als ich schwanger wurde, die Erste in unserem Freundeskreis, gab es keinen Zweifel, was zu tun war. Noch in dem Sommer hatten wir geheiratet, und ich hatte niemanden getäuscht, als ich langsam ein halbes Glas Champagner trank.
Und selbst wenn ich mich manchmal im Stillen fragte, wie viel wir wirklich gemeinsam hatten, wenn ich hin und wieder überrascht war, mich mit einem Ehemann, einem Haus, einem Säugling, ja sogar einem Hund wiederzufinden, kann ich doch nicht behaupten, dass es mich allzu sehr beunruhigt hätte. Selbst als uns bewusst wurde, dass es nach Sophie keine Kinder mehr geben würde – nachdem wir erkannt hatten, dass beide es nicht mehr versuchen wollten –, ging es uns gut. Glaube ich.
Also trafen wir die Entscheidung. Wir würden gehen. Es gab Tränen von Sophie, eine ganze Menge – sie wollte ihre Freunde nicht verlieren –, aber es wäre sicher auch gut für sie. In London werden sie so schnell erwachsen.
Dass wir so rasch das Haus gefunden hatten, hatte uns gefreut: im waldigen Cheshire, nah genug an der Stadt, dass Mark zur Arbeit pendeln konnte, aber dennoch, für Londoner zumindest, so unglaublich grün und ruhig. Hier draußen, wo das Dorf ins Umland übergeht, stehen die Häuser weit auseinander, die meisten davon prächtige viktorianische Anwesen hinter niedrigen Steinmauern, erbaut von Baumwollhändlern. Wenn man die Park Road weiterfährt, weg vom Dorf, kommt man an den Eingang des Wildparks, einst der Landsitz, der Vale Dean seinen Namen gab.
Ich hatte eine freiwillige Auszeit genommen. Meinen Job – Spenden für ein Kunstinstitut sammeln – hatte ich geliebt, aber das Gehalt war nicht so hoch wie das von Mark als Anwalt, und die ständigen Kürzungen in den Kulturetats störten mich sehr. Für eine Weile müsse ich mich nicht ums Arbeiten sorgen, hatte Mark gesagt, sondern könne mich auf das Haus konzentrieren. Den Gedanken, dass er gar nicht wollte, dass ich arbeite, hatte ich unterdrückt.
Während ich aus dem Fenster auf den Schatten von Parkland sehe, kann ich fast seine Stimme hören: »Das ist ein Schandfleck, ein so schönes Haus so verfallen zu lassen. Wolltest du nicht den Stadtrat anrufen?«
Ich unterdrücke ein Frösteln. Genug der Vergangenheit. Ich weiß, wohin ich heute Nacht gehen muss.
Auf der Schwelle halte ich inne und berühre das rosafarbene Herz, das von der Klinke hängt. Sie hatte gerade angefangen, ihr Zimmer ein wenig einzurichten, hatte Interesse entwickelt, alles erwachsener zu gestalten, und ich hatte es ihr erlaubt. Insgeheim hatte ich über ihren Geschmack gelächelt: blumige Kissen in hellem Blau und Violett, die Wände »apfelweiß« gestrichen. Mein kleines Mädchen war noch da, dachte ich, auch wenn sie stundenlang in ihrem Zimmer verschwand oder aus dem Haus stürmte – »weg« war die einzige Antwort, die mir entgegengeschleudert wurde, während ich ihr nachsah.
»Sie ist ein Teenager, Kate«, sagte Mark, von den Gesprächen darüber gelangweilt. »So sind die nun mal.«
Die Tür ist nie ganz geschlossen, steht immer einen Spalt offen. Ich drücke sie auf. Ein Hauch von Möbelpolitur liegt in der Luft – Silvia, unsere Putzfrau, war gut darin, und hat einfach weitergemacht, als wäre Sophie nicht fort, bis ich ihr sagte, sie bräuchte nicht mehr zu kommen. Es war einfach nicht mehr nötig.
Im Bett rolle ich mich am schmiedeeisernen Kopfende zusammen – sie hatte die Hälfte selbst bezahlt und versprochen, sich nicht zu beschweren, sollte es ungemütlich sein –, und mir entfährt ein tiefer Atemzug, von dem ich gar nicht gemerkt hatte, dass ich ihn angehalten hatte.
Mein Blick wandert durch den Raum, über den Schal der Schule, achtlos über den Drehspiegel geworfen; über die Wand, die lächelnden Gesichter der Boyband, die sich inzwischen aufgelöst hat; über die Stofftiere auf ihrer Kommode, verblassende Souvenirs einer Kindheit. Alles ist so wie immer. Ich kann es nicht ertragen – und gleichzeitig fühle ich mich ihr hier näher. Fast kann ich so tun, als sei sie nur kurz hinausgegangen, so als wäre sie mit dem Hund spazieren und könnte jeden Moment zurückkommen.
Aber heute kommt das übliche tröstliche Gefühl nicht. Ich bin nervös, sogar meine Haut kribbelt, also stehe ich wieder auf. Vielleicht liegt es daran, dass ich nicht mehr so tun kann, als wäre sie nur kurz weg – ich weiß, dass sie da draußen ist, irgendwo. Ein letzter Blick durchs Zimmer, meine Finger auf der Klinke, dann gehe ich ins Bett.
Mit einem Ruck wache ich auf, mein Herz dröhnt in meiner Brust, mein Nachthemd klebt im kalten Schweiß an mir. Mein Mund ist ausgedörrt.
Ein Blick auf den Wecker: Die grünen Zahlen verraten mir, dass es noch mitten in der Nacht ist. Verdammt. Ich hätte eine Tablette nehmen sollen. Es war ein Experiment, ob ich ohne auskomme, ob ich das kann.
Mein Traum … es ist wie ein Jucken im Hirn. Sophie …
Schlagartig erinnere ich mich. Ich lief durchs Haus, suchte nach ihr. Wieder einer von denen. Schlecht geträumt klingt so kindisch; ein Albtraum.
In den Monaten direkt danach hatte ich so viele. Fast immer waren sie sich sehr ähnlich. Ich komme nach Hause, öffne die unverschlossene Tür. »Sophie«, rufe ich. »Ich bin da.« Drinnen wirkt es, als sei sie gerade erst weg. Ein hingeworfener Ranzen mit herausrutschenden Büchern, ihr Mantel über das Geländer geworfen; Hockey- und Tennisschläger auf dem Boden, all die Überbleibsel ihres Schullebens. In der Küche findet sich eine halb getrunkene Tasse Tee, die Schränke sind offen, Schubladen halb herausgezogen, als habe sie nach irgendwas gesucht. Ich gehe die Treppe hoch, wobei ich weiß, wie das in Träumen so ist, dass ich nur einen Schritt hinter ihr bin – dass ich sie finden werde, wenn ich nur schnell genug bin.
Und so entfaltet es sich, wie von einem Uhrwerk angetrieben: Ich gehe in das blaue Schlafzimmer, entdecke den Schrank weit geöffnet, unsere Wintermäntel aufs Bett geschleudert und die Schuhe überall verteilt, als wäre ein Wirbelsturm hier durchgewütet. Im nächsten Schlafzimmer genau der gleiche Anblick, Bettlaken und Bezüge in einem Haufen auf dem Boden. Im Badezimmer hängen die Handtücher am Badewannenrand, während Wasserhähne laufen.
Aber immer noch weiß ich, dass alles gut sein wird, wenn ich sie nur einhole. Und so gehe ich weiter, jetzt durch unser Schlafzimmer, in dem Federn durch die Luft schweben, die Matratze auf dem Boden liegt, die Kissen aufgeschlitzt sind, der Spiegel eingeschlagen. Ich suche weiter. Und dann nehme ich den letzten Treppenabsatz, gehe zu ihrem Zimmer, dessen Tür immer noch offen steht. Als ich langsam eintrete, packt mich endlich die Angst …
Dann wache ich auf, wie immer, und erinnere mich: Sie ist weg. Wirklich weg. Ich habe sie nicht gefunden, sage ich mir, während ich die Schublade meines Nachttischchens öffne und nach der kleinen Packung suche, die mir Linderung verspricht. Es hat mich verrückt gemacht: ihre Unordnung. Immer bin ich hinter ihr her, habe aufgeräumt und geplaudert. Aber jetzt werde ich sie niemals mehr einholen.