6. Kapitel
B
is ich aus dem Supermarkt komme, reiße ich mich zusammen. Ich weiß nicht mehr, was ich Ellen genau gesagt habe, um sie zum Schweigen zu bringen – »Mach dir keine Sorgen, alles ist gut. Bis dann.« Dann habe ich den Einkaufskorb weggestellt, bin direkt wieder zum Eingang und hinaus auf den Parkplatz.
Irgendwie hatte ich angenommen, dass es mit der Zeit einfach verblassen würde. Aber jetzt ist er da, zieht von seiner Mietwohnung in der Stadt zurück in ein Haus mit Familie. Die meiste Zeit sind Lindseys Kinder bei ihr, aber er hat das Familienleben immer genossen. Mit einem Mal merke ich, dass mein Gesicht nass ist.
Das passiert, wenn man versucht, normal zu sein. Die Vergangenheit erwischt einen.
Es ist schwierig, sich an diese ersten Tage zu erinnern. Es gelang mir, Fragen zu beantworten und Tee für die Polizisten und Dad und Charlotte zu kochen, die immer da zu sein schienen, um zu helfen. Dann spülte eine weitere Flutwelle der Panik über mich hinweg, hinterließ mich mit Schrecken: Wo war sie?
Polizisten sprachen mit Lehrern und Schülern an ihrer Schule. Am Freitag hatte sich Sophie als anwesend eingetragen, das stand fest. Aber so kurz vor den Prüfungen war der Stundenplan kaum noch gültig, und es wurde erwartet, dass die Schüler die meiste Zeit lernend in der Bibliothek verbrachten.
Dann hatte Jennifer Silver gesagt, sie habe Sophie auf dem Weg zu den Umkleiden gesehen, direkt nachdem sie sich eingetragen hatte, mit ihrer großen Tasche auf dem Rücken. Mir hatte Sophie lachend erzählt, dass Jennifer Silver eine Wichtigtuerin sei. An diesen kleinen Informationen hielt ich mich fest. Sophie waren sie so wichtig.
Im Umkleideraum fand man Sophies marineblauen Rock und den Pullover, sorgfältig an einen Haken gehängt. Sie war einfach in ihrer Straßenkleidung durch die Vordertür hinausgegangen, wie es den älteren Schülern erlaubt war. In einem Rundbrief an die Eltern hatte der peinlich berührte Rektor versprochen, die Regeln zu überarbeiten.
Am Ende kam es aufs Gleiche raus: Sie war schon am Freitagmorgen verschwunden.
Lange benötigte die Polizei nicht, um Videoaufnahmen zu finden. Der Busbahnhof in Amberton war voller Menschen gewesen, aber sie hatten ein Bild angehalten, als sie sich in Richtung der Kamera gedreht hatte, das Ganze vergrößert, eine körnige, weiß-schwarze Gestalt auf dem Bildschirm.
»Mrs Harlow …?«, hatte der Beamte gefragt. »Ist das Ihre Tochter?«
Ich musste mich erst räuspern.
»Ja.«
Noch immer konnte ich nicht glauben, dass sie es wirklich getan hatte. Aber da war sie, in Jeans und mit ihrer Winterjacke für die Temperaturen zu warm angezogen – immerhin wird sie nicht frieren, hatte ich gedacht –, wie sie in einen Bus stieg. Obwohl ich ihre Miene nicht lesen konnte, versuchte ich dennoch, sie aus den Punkten auf dem Bildschirm zu entziffern.
Der Bus fuhr eine von diesen endlosen Routen nach Süden, die wegen ihrer niedrigen Preise von Studenten geliebt wurden. Man hatte den Fahrer ausfindig gemacht; er meinte, er könne sich daran erinnern, dass sie eine Fahrkarte nach London gelöst hatte, aber sicher waren weder er noch die Polizei. Sie waren nicht mal sicher, wo sie ausgestiegen war.
»Es ist einfacher, in einer Großstadt unterzutauchen«, hatte Kirstie gesagt, die Beamtin, die uns als Familienliaison zugeteilt worden war, um uns in der furchtbarsten Zeit das Händchen zu halten. Sie war Schottin, Mitte dreißig, vermutete ich, und sie hatte keine Angst, uns die Wahrheit zu sagen, auch wenn sie dabei immer freundlich blieb. Aber am Ende gab es einfach nicht so viel zu berichten.
Sie durchsuchten ihr Handy, ihr Facebook-Konto – nichts Ungewöhnliches. Aber ihre Suchen im Internet, auf dem Laptop, den sie für ihre Hausaufgaben und zum Ansehen von Filmen nutzte, sprachen eine andere Sprache.
»Gelegenheitsarbeit«
»Barbezahlung«
»Nebenjobs«
»Studentenjobs«
Seiten um Seiten, die fast ihre gesamten Gedanken aufzeigten.
»Wenn sie ins Ausland gegangen wäre, wüsste man das, oder?«, frage ich voll aufsteigender Panik. »Sie hat ihren Reisepass mitgenommen, aber das wird doch alles elektronisch gespeichert, das kann man doch rausfinden, oder?«
»Die Aufzeichnungen sind sehr umfassend«, erwiderte Kirstie. »Vor allem bei Flügen.«
»Natürlich ist keine Grenzüberwachung unfehlbar«, warf der Beamte ein, der sie an diesem Tag begleitete, ein jüngerer Mann. »Es ist nicht ausgeschlossen.«
Manchmal kochte meine Frustration über: Ich wollte, dass sie mehr anstieß.
»Sie ist … ist ein Kind. Sie geht noch zur Schule!«
»Sie ist sechzehn«, sagte Kirstie einmal. »Und sie ist ein schlaues Mädchen, sagen Sie. Viele Teenager gehen mit sechzehn von zu Hause weg.«
Ich glaube, sie wollte mich beruhigen.
»Keine Mädchen wie Sophie.«
Ihre Meinung dazu las ich in ihrem schnellen Blick durch unser geräumiges Wohnzimmer. Sie wusste: Schlimme Dinge passierten auch Menschen in schönen Häusern. Aber ich wusste, was ich gemeint hatte: Ich konnte einfach nicht verstehen, warum sie weggelaufen war.
Ja, wir hatten unsere Streitereien. Sie wollte mehr Freiheiten; sie beschwerte sich über die viele Arbeit in Vorbereitung auf die Prüfungen. Sie liebte Kunst und verbrachte gern Stunden damit, sich mit dem Teil der schulischen Aufgaben zu beschäftigen, aber sie verstand nicht, warum mir Mathe und die wissenschaftlichen Fächer so wichtig waren.
»Aber das ist doch kein Grund für sie«, protestierte ich.
Kirstie musste mir nicht widersprechen: Sophies Abwesenheit tat das laut genug.
Zumindest gab es keine Anzeichen für … nun ja, sonst irgendwas. Zu leicht konnte ich mir vorstellen, wie es geschah: hohes Gras am Kanal, ein Spaziergänger mit Hund am frühen Morgen, das aufgeregte Tier: »Aus! Warte, was ist das? O mein Gott!«
Die Bilder, die mich zu überwältigen drohten, die mich vom Schlaf abhielten, während Mark leise neben mir schnarchte – ich musste sie verdrängen. Also beschäftigte ich mich. Ich fing im Kleinen an, fuhr nachts durch die Straßen, einfach nur, um zu schauen. Dann machte ich mehr, fuhr in die Stadt, parkte hinter verlassenen Lagerhallen und an den Eisenbahnbrücken, um ihnen meine Fotos zu zeigen: Sophie in ihrer Schuluniform; Sophie beim Essen zu ihrem sechzehnten Geburtstag im April; Sophie mit Regenjacke auf dem Schulausflug zum Lake District.
Mark warnte mich, dass es gefährlich sei.
»Wir müssen die Profis ihren Job erledigen lassen.«
Aber wie sie meine Fotos vorsichtig im Schein der Straßenlaternen betrachteten, wusste ich, dass mir diese erschöpften Menschen nichts tun würden.
»Ich halte Ausschau nach ihr«, versprachen sie mir. »Ich höre mich mal um.«
Meine Antwort an Mark war, dass er ja mitkommen könnte, wenn er sich solche Sorgen um mich machte. Ein wenig tat er das, später, als er wieder zur Arbeit ging, dann noch an den Wochenenden.
Auch an uns hatte die Polizei Fragen. Gab es einen Ort, an den sie gegangen sein könnte? Jemanden, mit dem sie in Kontakt stand? Irgendjemand, der uns einfiel?
Zu viert redeten Dad, Charlotte, Mark und ich endlos, durchwühlten unsere Hirne am Küchentisch bis spät in die Nacht. Zurück nach London? Seit sie zwölf war, lebte sie dort nicht mehr – alle ihre Freunde waren hier. Irgendein hübsches Städtchen an der See, wo wir mal Urlaub gemacht hatten? Wir konnten kaum glauben, dass sich Sophie noch an die Zeiten erinnerte, als wir unsere Urlaube eher in der Umgebung gemacht hatten, bevor Mark so viel verdiente. Dennoch schrieben wir all unsere Einfälle und Ideen auf und gaben sie an Kirstie weiter.
Und dann gab es noch die andere Sorte Fragen, die persönlicherer Art. Wie ging es Sophie mit ihren Abschlussvorbereitungen? Wie wichtig ist schulischer Erfolg in der Familie? Ging Sophie mit Freunden aus? Durfte sie? Könnten Sie uns bitte noch einmal erklären, einfach nur zum besseren Verständnis, worüber genau Sie zuletzt gestritten haben? Und Sie haben Ihre Mutter verloren, Mrs Harlow, wenn wir recht verstehen, auf erschütternde Art?
Ich atmete tief ein. Mir war nicht bewusst, dass Mark ihnen davon erzählt haben könnte. Der Fahrer war auf dem Nachhauseweg, morgens nach einer Hochzeit, nachdem er ein paar Stunden geschlafen hatte, um sich auszunüchtern. Außer, dass er nicht ausgenüchtert war und weit über dem Limit lag, als er seinen großen Wagen in das Auto vor sich gerammt hatte. Mum war auf dem Weg zum Gartencenter gewesen. Zumindest war es schnell vorbei.
»Das … das war ein Schlag, ja, aber ich glaube nicht, dass es in irgendeiner Weise Einfluss auf mein Verhalten Sophie gegenüber genommen hat …«
Meine Stimme wurde leiser. Vielleicht hatte es das doch, gerade in dem Alter, in dem sie mehr Freiheit nötig hatte.
Und darunter hörte ich die unausgesprochenen Fragen, die aber genauso laut klangen: Ist es Ihre Schuld? Haben Sie das getan? Haben Sie Ihre Tochter vertrieben?
Sophie, ich habe versagt. Es tut mir so leid.
Schlussendlich war es Charlotte, die mir sagte, ich solle zum Arzt gehen und mir Medikamente verschreiben lassen. Und Doktor Heath war sehr verständnisvoll, stellte mir ein Rezept aus, das mir endlich Schlaf erlaubte; noch mehr für tagsüber, »falls ich sie brauche«. Ich war ihm sehr dankbar dafür.