7. Kapitel
I
n der Sicherheit meines Zuhauses fülle ich eine Tasse mit Wasser aus dem Hahn und trinke sie leer – zweimal. Mir ist heiß, ich bin aufgeregt – und versinke wieder im Morast. Ich muss mich an meine Abläufe halten, mich nicht von Veränderungen aus dem Konzept bringen lassen. Deshalb ist die verdammte Ellen Fraser mir unter die Haut gekrochen. In mir steigt die bekannte Unruhe auf, das elektrische Summen der Angst. Ich will es ruhiger stellen. Ich weiß, wie das geht. Aber dieser Tage muss ich vorsichtig sein.
Stattdessen muss ich einfach das Spielchen weiterspielen und mich ablenken: Ich werde Lily besuchen.
Draußen ist selbst die Nachmittagssonne noch stark genug, um meine bleiche Haut rosa zu färben. Während ich mich durch die verwilderten Büsche zwischen unseren Häusern zwänge, den flachen Hügel hoch, neige ich den Kopf, um Parkland durch die Blätter über mir zu bewundern. Selbst für den Standard von Park Road ist es eine Schönheit unter den wehenden Plastikplanen und den zugenagelten Fenstern – es besteht nur aus sich dem Himmel entgegenreckenden Schornsteinen und verziertem Mauerwerk, diese überbordende Detailfreude, die man im Viktorianischen Zeitalter liebte.
Das kleine Cottage aus roten Ziegeln, in dem Lily lebt, liegt an der Seite der Zufahrt, die zu dem großen Haus führt, ein ganzes Stück weg von der Straße und mit eigenem Garten.
Früher war es das Haus der Verwalter von Parkland, erklärte sie mir einst; man hatte die Zimmer einzeln vermietet. Mein Eindruck ist, dass die Bewohner immer nachlässiger geworden sind. Sie blieb mit ihrem inzwischen verstorbenen Ehemann, selbst nachdem man die anderen Wohnungen als Vorbereitung einer Sanierung nicht mehr neu vermietet hatte. Zumindest konnte ihre Miete nicht sehr hoch sein.
Inzwischen habe ich meinen eigenen Schlüssel, damit sie nicht aufstehen muss. Jedenfalls habe ich es so begründet. Ich mache mir Sorgen, dass ihr was passieren könnte, wenn ich fälschlicherweise davon ausgehe, dass sie nicht zur Tür kommt, weil sie schläft oder beim Kaffeekränzchen ist.
Als ich eintrete, schlägt mir der Geruch nach Lebkuchen entgegen. Ich schnuppere. Er hat eine rauchige Note.
»Lily? Ich bin’s.«
Erst in ihrem hellen Wohnzimmer finde ich sie, in ihrem Sessel. Ihre Augen sind geschlossen.
»Lily«, wiederhole ich lauter.
Sie hebt den Kopf und sucht nach ihrer Lesebrille. Einen Moment lang ist sie verwirrt, dann erkennt sie mich.
»Oh, hallo, Schatz, du sieht reizend aus.«
Ich kann das Lachen nicht unterdrücken – sie sagt jedes Mal, dass ich reizend aussehe.
»Lily, hast du mal wieder gebacken?«
»Wie bitte? Du nuschelst.«
Ihr Gehör ist nicht mehr so gut wie früher, aber ich glaube nicht, dass sie das zugeben würde.
Ich wiederhole mich und füge hinzu: »Ich gehe fix runter und mache uns eine schöne Tasse Tee.«
»Oh, gern, Schatz, und bring was zum Knabbern mit«, ruft sie hinter mir her.
»Klingt gut.«
Ihre kleine Küche ist die Treppe hinunter, halb unter die Erde gebaut. Ich öffne die kleinen, weit oben gelegenen Fenster, so weit es geht, und sehe in den Ofen, wedle dabei den Rauch weg. Die Lebkuchenmänner sind schwarz und ans Backblech geschweißt. Man kann sie nicht mehr retten. Später, wenn das Blech abgekühlt ist, werde ich sie entsorgen.
Aus der Dose Kekse, die ich ihr geschenkt habe, arrangiere ich eine Handvoll auf einem Teller. Lily wird ohnehin nur an einem knabbern, selbst jetzt noch sorgt sie sich um ihre »Figur«.
Wie immer ist es hier wie geleckt, aber unter dem Geruch nach Bleiche – Lily glaubt fest an starke Chemiereiniger – liegt etwas Dunkleres. Feuchtigkeit. Ich merke es mir und will sehen, was man deswegen machen kann. Lily redet nur in groben Zügen von ihrer Lebenssituation und ist sehr reserviert, was Geld angeht, auf diese altmodische Art.
Während meines ersten Winters hier haben wir uns kennengelernt, als sie mit ihrem uralten Ford meinen Wagen touchierte, hinten bei der Ampel Richtung Dorf. Laut ihr hatte das Eis die Straße rutschig gemacht.
»Oje«, hatte sie gesagt, als wir an der Telefonzelle standen: Ihre Stoßstange hing an meiner fest. »Es tut mir leid. Kann ich Ihnen eine schöne Tasse Tee zum Aufwärmen anbieten, während wir uns darum kümmern?«
Ich hatte sie die Straße zurück zu unseren Einfahrten begleitet und war ihr in ihren Flur gefolgt. Ihr Gang war steif; eine Hüftverletzung, hatte sie mir später erklärt: »Nur ein wenig schmerzhaft.« Sie hatte uns beiden einen Earl Grey aufgebrüht. »Ich kann diesen Tee aus dem Supermarkt nicht trinken, Schatz, aber wer kann das schon? Oder sollen wir einen Sherry nehmen?«
Tatsächlich bin ich nicht sicher, ob es das war, was Mark gemeint hatte, als er mir vorschlug, ich solle mich um Freunde aus der Gegend bemühen und nicht die ganze Zeit zu Hause rumsitzen, während Sophie in der Schule war. Nicht zu arbeiten war schwieriger als gedacht – die Tage vergingen so schleppend.
»Warum verbringst du so viel Zeit mit dieser alten Dame?«, hatte er einmal verärgert gefragt. »Immer wenn ich anrufe, bist du bei ihr. Sollten sich nicht die Sozialdienste um sie kümmern?«
»Ich glaube, da kommt schon jemand. Ich sehe gern nach ihr. Sie ist lustig.«
Meiner Mutter ähnelte Lily gar nicht. Die hatte selten in einen Spiegel geschaut und hätte über die Vorstellung gelacht, komplettes Make-up aufzulegen und ihre Fingernägel rosa zu lackieren, um einen weiteren Tag mit, nun ja, Kaffee und Kuchen in der Kirche zu verbringen. Aber irgendwas an Lilys Art, das Leben mit Volldampf anzugehen, ihre heroische Weigerung, sich eine schöne Zeit zu machen, erinnert mich an Mum. Jedenfalls, als wir uns damals trafen.
»Lily, hast du den Lebkuchen vergessen? Er ist total verbrannt«, frage ich, als ich wieder oben ankomme. Ich stelle den Tee vor ihr ab – natürlich in einer richtigen Tasse mit Unterteller.
»Sei nicht albern.« Sie runzelt die Stirn. »Selbstverständlich habe ich das nicht vergessen. Ich habe nur kurz meine Augen ausgeruht.«
»Lily, du musst aufpassen. Der Ofen hat schon gequalmt. Hat dein Rauchmelder nicht Alarm geschlagen?«
Ich bin mir sicher, dass ich ihn erst letzte Woche überprüft hatte.
»Ach, das Ding«, erwidert sie. »Der hat nicht mit diesem grauenhaften Gepiepe aufgehört. Also habe ich ihn ausgeschaltet.«
Ich stehe noch mal auf und blicke in den Flur.
»Lily, da hängen Kabel runter. Hast du die Batterien rausgenommen?«
Ihre Augen sind im Sonnenlicht des späten Nachmittags sehr blau.
»Nein …«, widerspricht sie, fast wie ein Kind.
»Okay.«
Ich kann neue Batterien einsetzen, wenn ich das nächste Mal vorbeikomme, und die Abdeckung wieder festkleben. Trotz des Schrecks fühle ich mich schon wieder ruhiger, einfach nur durch den Besuch hier, weg von meinem Leben. Mit dem hier kann ich umgehen.
Aus der Schublade hole ich die abgenutzten Spielkarten.
»Egal. In was wirst du mich heute schlagen?«