8. Kapitel
A m Montagmorgen kommt endlich der Anruf von der Polizei – eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter, gerade als ich unter der Dusche war. Ob ich wohl zur Wache kommen könnte? Der Name sagt mir nichts. Deputy Inspector Ben irgendwas. Ich höre sie noch mal ab. Sind es schlechte Neuigkeiten? Gute? Ich kann es nicht erkennen. Gut, entscheide ich für mich, lass sie gut sein. Sie müssen gut sein.
Es vergeht keine Stunde, da bin ich schon auf der Wache, mein Haar noch feucht. Und dann warte ich.
Eine halbe Stunde vergeht in dem kleinen, fensterlosen Raum, in den sie mich gesteckt haben. Oder noch mehr – ich habe erst um drei auf die Uhr geschaut. Ich erhebe mich von dem Plastikstuhl und habe die Hand schon auf der Klinke, als sich die Tür öffnet und ich zurücktreten muss.
»Müssen Sie irgendwo hin, Mrs Harlow? Es tut mir leid, dass ich Sie habe warten lassen. Nehmen Sie doch bitte wieder Platz.«
Den kenne ich noch nicht: dunkle Haare, schwere Lider, was ihn verschlafen wirken lässt, ungefähr mein Alter.
»DI Ben Nicholls«, stellt er sich vor und setzt sich mir gegenüber hin. Er hält mir nicht die Hand zur Begrüßung hin.
»Kate. Bislang hatten wir immer mit Kirstie zu tun.« Er scheint sie nicht zu kennen. Ich werde nervös, fahre fort: »Kirstie Waller? Kurze blonde Locken? Vor ein paar Monaten hat sie mir gesagt, dass sie in Elternzeit geht und alles an Kollegen abgibt.«
Keiner von uns beiden hatte an dem Schein gekratzt, dass die Ermittlungen zu einem Ende kommen könnten. Deshalb war ich ihr dankbar.
»Keiner der Beamten, mit denen ich Kontakt hatte, scheint noch da zu sein«, erkläre ich jetzt. »Alle sind im Ruhestand oder im Urlaub.«
Ohne ein Lächeln nickt er.
»Ich bin auf dem Laufenden, was den Fall angeht, ich habe die Akte schon gelesen.«
»Okay.«
Der Small Talk ist wohl schon vorbei.
»Wenn ich das richtig verstehe, wünschen Sie, dass wir Aufzeichnungen der Telefonate von der Hilfsorganisation besorgen, bei der Sie arbeiten …«
»Ja, das müssen Sie«, werfe ich ein. »Meine Tochter hat mich angerufen, sie wird vermisst, seit Jahren schon, sie hat mich angerufen, und ich muss einfach wissen, wo sie ist, ich muss mit ihr sprechen …«
»Mrs Harlow, darf ich Sie unterbrechen?«
Ich lehne mich wieder zurück.
»Ich möchte nicht, dass Sie zu viel erwarten«, erklärt er. »So eine Hotline hat gute Gründe für diese Privatsphäre-Regelungen. Und wir können die nicht so einfach umgehen, um einen Anruf zurückzuverfolgen, auch nicht, wenn Sie sich Sorgen um Ihre Tochter machen.«
»Aber warum nicht?«
»Auch Polizisten müssen sich an Regeln halten. Es bedürfte sehr guter Gründe, um diese Regelungen auszuhebeln. Die Hotline hat die Verpflichtung, die Anonymität ihrer Klienten zu sichern …«
»Aber ich bin ihre Mutter!«
»Und genau deshalb könnte es sein, dass sie nicht möchte, dass wir den Anruf verfolgen, nicht wahr? Falls es sich um Ihre Tochter gehandelt hat.«
Ich zucke zusammen.
»Sie hätte bei Ihnen zu Hause anrufen können. Aber sie hat bei der Hotline angerufen, um, wie Sie sagen, Ihnen mitzuteilen, dass Sie keine weitere Kontaktaufnahme erwarten sollten.«
Es ist ungewohnt, dass Polizisten so direkt sind. Also ist er doch nicht verschlafen.
»Aber ich weiß es einfach. Irgendwas stimmt da nicht.«
Ich muss ihn dazu bringen, die Sache ernst zu nehmen. Aber ich erwische mich selbst: Natürlich stimmt da etwas nicht, wenn Ihre Tochter weggelaufen ist. Wie kann ich mich verständlich machen?
»Mrs Harlow, wenn jemand vermisst wird – ich weiß, wie schwierig das ist …«
»Nein, das wissen Sie nicht«, erwidere ich schlicht.
»Okay, vielleicht weiß ich das nicht. Und ja, es ist so, unter manchen Umständen sind andere Dinge … möglich. Aber um es unverblümt zu sagen, ich sehe hier keine unmittelbare Gefahr oder irgendwelche anderen Faktoren, die uns dazu veranlassen würden, einen Gerichtsbeschluss zu beantragen, um den besagten Anruf zurückzuverfolgen. Seit sie weggelaufen ist, hat sie sehr deutlich gemacht, dass sie das so will …«
»Ja, gut«, gebe ich zu, viel zu laut. »Ich erinnere mich.«
Über all das will ich gerade nicht nachdenken.
»Um ehrlich zu sein«, fährt er fort, »würden wir mit sehr geringen Erwartungen an die Sache herangehen und ohne den Glauben, dass es notwendig ist. Es gefällt Ihnen vermutlich nicht, Mrs Harlow, aber alles, was uns Sophies Handlungen sagen, ergibt ein konsistentes Bild: Sie ist ein Teenager, aber mit achtzehn jetzt erwachsen, und sie will nicht nach Hause kommen. Aber …«
Ich öffne den Mund, will protestieren.
»Aber was ich versprechen kann, ist, dass ich Erkundigungen einziehen werde. Als Erstes nachhorchen, ob es Möglichkeiten gibt, dass die Hilfsorganisation uns unterstützen kann.«
»Na gut«, erwidere ich, unsicher, was genau er mir zusagt. »Soll ich auch nachfragen? Wäre das hilfreich? Immerhin arbeite ich für sie.«
»Glauben Sie, dass es helfen würde?«
»Nun … nein.«
Ich spüre, wie mir die Röte ins Gesicht steigt. Mehr als irgendwer sonst weiß ich, wie viel Wert dort auf Vertraulichkeit gelegt wird und dass niemals Informationen dieser Art ohne Zustimmung an Angehörige oder Freunde weitergegeben werden. Es ist der eine Grundsatz.
»Wann, denken Sie, können Sie mir mehr sagen?«
Ich bemerke, wie mir die Situation entgleitet.
»Das kann ich nicht sagen. Aber nehmen Sie meine Karte.« Er schiebt sie mir über den Tisch. »Darauf steht auch meine Mobilnummer. Bei dringenden Mitteilungen können Sie die nutzen.«
Er steht auf, ist im Begriff zu gehen, und zum ersten Mal ist da eine Ahnung von mehr als nur forscher Professionalität.
»Mrs Harlow, darf ich vorschlagen, dass Sie sich nicht allzu viele Hoffnungen machen? Wenn Menschen so lange verschwunden sind, ist es am Ende selten … das, was wir uns wünschen würden. Menschen wollen manchmal nicht heimkehren. Je länger sie fort sind …« Er muss nicht weiterreden. »Falls Ihre Tochter Sie angerufen hat, muss Ihnen das für den Moment vielleicht genügen. Vielleicht müssen Sie akzeptieren, dass sie nicht wieder zurückkommt.«
»Vielleicht müssen Sie akzeptieren, dass sie nicht wieder zurückkommt.« Die Worte wiederholen sich auf der Fahrt nach Hause wieder und wieder in meinem Kopf, während ich mich in den Stoßverkehr aus der Stadt einfädle und mir die tief stehende Sonne in die Augen scheint.
Das ist also das, was die Polizei sagt. Es ist auch das, was Mark zum Schluss gesagt hat, was meine Familie sich jetzt nicht zu sagen traut – aber ich kann es in ihren Augen lesen, jedes Mal, wenn wir uns sehen.
Haben sie recht? Einen Augenblick lang zwinge ich mich dazu, ernsthaft über die Frage nachzudenken. Ist es endgültig an der Zeit, sie loszulassen – wenigstens für jetzt? Bei dem Gedanken, dass es für immer sein könnte, wird mir schlecht. Bis sie bereit für mehr ist. Es sieht nicht so aus, als hätte ich eine Wahl. Vermutlich wäre es das Beste.
Mit dem Gedanken kommt eine seltsame Ruhe, fast schon Leichtigkeit. Akzeptanz?
Das Gefühl trägt mich nach Hause, bleibt bei mir, als ich aufschließe und meine Schlüssel auf den Tisch im Flur werfe. Wie wäre es wohl, wenn ich es akzeptieren könnte … als ich schon die Treppe hochlaufe, bemerke ich, wohin ich, ohne nachzudenken, gehe. Weiter die Stufen hinauf, bis ganz nach oben, meine Schritte jetzt langsamer, und ich öffne die Tür zu Sophies Zimmer. Die Vorhänge sind wie immer geschlossen, und als ich das Licht anschalte, wirkt der Raum mit seinem unberührten Bett seltsam künstlich hergerichtet. Diesmal kann ich mir nicht einreden, dass Sophie nur kurz unterwegs ist.
Vielleicht war es das, was sie mir mit dem Anruf sagen wollte, fällt mir jetzt ein. Die Chance, sich zu verabschieden, wenigstens für eine Zeit. Sie gehen zu lassen.
Mit einem Mal überkommt mich ein überwältigendes Verlangen. Ich muss gegen das Bedürfnis ankämpfen, zu ihrem Schrank zu gehen und zu versuchen, ihren Duft an ihrer Kleidung wahrzunehmen. Stattdessen gehe ich zu ihrer Kommode und lege meine Hände auf das alte Kiefernholz. Einen Herzschlag lang bin ich wie verloren – was suche ich noch mal? Natürlich, Panda. So sehr von ihr geliebt, als sie noch klein war, dass seine Ohren längst ab sind und die Füllung an den Nähten herausquillt. Nur Teddy sah noch mitgenommener aus.
Aber Panda ist oben auf dem Schrank beim Rest von Sophies Stofftieren, zwischen dem Esel und dem müde dreinblickenden Hasen.
Silvia muss ihn dorthin gelegt haben, denke ich, als sie noch zum Putzen gekommen ist, bevor nur noch ich übrig blieb. Sie wird ihn wohl aus Versehen heruntergeworfen und sich dann nicht mehr daran erinnert haben, wo er lebt. Es ist mir wichtig, dass alles gleich bleibt, also hole ich ihn vorsichtig vom Schrank und lege ihn zurück auf die Anrichte, wo er immer war.
Er fällt vornüber. Aber ich weiß, warum – Panda wird immer von seiner Decke gestützt, Sophies uralter, flauschiger rosa Decke, die noch aus Kindertagen stammt. Sie muss von der Glasoberfläche der Anrichte gerutscht sein.
Blind taste ich an der Seite zwischen Kommode und Anrichte umher. Sie ist nicht dort. Ich packe die Anrichte und ziehe das schwere Holz einige Zentimeter nach vorne, sodass ich dahinterschauen kann.
Vielleicht hat Silvia sie in die Wäsche gepackt, Stoff wird so schnell staubig. Sie war immer sehr darauf bedacht, nichts durcheinanderzubringen, aber vielleicht wusste sie einfach nicht … dennoch bin ich plötzlich innerlich zerrissen, muss mir wieder Tränen aus den Augen blinzeln.
Denn ich muss ganz an den Anfang denken, als sie mich immer wieder gefragt hatten, was Sophie mitgenommen hat. Sie wäre niemals ohne ihr Deckchen gegangen. Das wusste ich, selbst als sie sechzehn und es ihr peinlich war. Ich wusste, dass sie nicht einschlafen konnte, wenn Deckchen nicht unter ihrem Kopfkissen steckte – eine Angewohnheit aus der Kindheit, die sie noch nicht abgelegt hatte. Aber sie war natürlich ohne gegangen, hatte sie dagelassen, mit all dem Rest ihres Lebens, das sie so einfach fortgeworfen hatte. So gut kannte ich sie am Ende eben doch nicht. Und jetzt, da ich Deckchen halten will, kann ich es nicht finden.
Es ist nur eine so kleine, dumme Sache. Es sollte mir eigentlich egal sein. Aber die Leichtigkeit war längst verflogen, und das bekannte Summen der Angst schwoll an.
Nein, ich kann nicht akzeptieren, dass sie weg ist. Nichts davon hat jemals einen Sinn ergeben, egal, was sie mir gesagt haben. Tut es immer noch nicht.
»Ich liebe dich, So«, hatte ich am Telefon gesagt. Und sie hatte aufgelegt.
Das würde sie niemals tun. Es war »Ich liebe dich, So«, »Ich liebe dich, Mo«. Einfach nur eine dieser lustigen Familientraditionen aus der Kindheit. Das würde sie nie vergessen. Aber warum sollte sie mich damit bestrafen, mir das vorzuenthalten, mir diese Zärtlichkeit zu verweigern? Ist sie so wütend?
Ein Frösteln läuft über meine Haut. Lag ich so falsch, so furchtbar falsch, dass ich nicht erkannt habe, dass es gar nicht Sophie war, sondern nur eine verwirrte, notleidende Anruferin, und ich nur das gehört habe, was ich hören wollte?
Nein. Das kann nicht sein. Es war Sophie. Ich kenne meine Tochter. Ich kenne sie.
Irgendetwas stimmt nicht. Was auch immer man mir sagt. Was auch immer sie mir gesagt hat.
In diesem Moment entscheide ich mich. Jetzt bin ich sicher, mit einer seltenen Klarheit des Geists.
Ich werde mich nicht mehr darauf verlassen, dass sie Sophie finden. Es hat bislang nichts gebracht.
Dies ist meine letzte Chance. Meine letzte Chance, Sophie zu finden.