9. Kapitel
I
n meinem Bauch tanzen Schmetterlinge, während ich auf den Parkplatz im Dorf biege. Ich merke, dass ich nervös bin. Am Morgen hatte mich überrascht, wie beschwingt ich mich fühlte, dieser Optimismus war so ungewohnt. Während der Kater um meine Beine strich, hatte ich mir sogar die Mühe gemacht, ein Rührei zu braten und zwei Tassen Milchkaffee zu trinken. Jetzt rumort das unangenehm in mir. Aber ich habe mich entschieden. Dieses Mal werde ich nicht nur herumsitzen und darauf warten, dass mir die Polizei mitteilt, was passiert.
Ich habe einen Plan.
Punkt eins meiner Liste ist ein Gespräch mit Holly Dixon – einfach nur, um zu fragen, was sie denkt, ob es einen mir unbekannten Grund gibt, warum Sophie nicht zurückkommt. Und vielleicht hat sie dann eine Idee, kennt jemanden, mit dem ich reden kann. Funktioniert das nicht so? Alles, um dieses alte Gefühl der Machtlosigkeit loszuwerden. Ich bin entschlossen, aktiv zu bleiben, diese Regung von Sinnhaftigkeit nicht aufzugeben. Mein Trauercoach (Lara mag den Begriff »Beraterin« nicht, sie sagt, wir sind Partner) wäre stolz auf mich. Wenn ich mich noch mit ihr treffen würde.
Gestern Abend habe ich eine Nachricht auf Hollys Handy hinterlassen in der Hoffnung, dass sie ihre Telefonnummer nicht gewechselt hat. Es ist lange her, dass wir geredet haben. Ich berichtete lang und ausführlich von Sophies Anruf, dass ich später alles noch genauer erklären könne, und fragte, ob wir uns treffen könnten. Innerhalb von zwanzig Minuten summte mein Handy.
Okay, schaffe 11 morgen, Kaffee?
Wir machten aus, uns im Dorf zu treffen. Aber nicht in dem süßen Café, in dem man Nippes kaufen konnte. Da kannte ich zu viele Leute. Meine Wahl war die Pizzeria, Teil einer Kette, die niemand gut fand, als sie eröffnet wurde, und deren Belegschaft aus anonymen Australiern bestand. Ich mochte sie.
Fünf Minuten zu früh, aber Holly sitzt schon an einem Ecktisch.
»Du hast dir die Haare gefärbt«, begrüße ich sie. »Blau!«
Aber immer noch so viel Make-up, fällt mir auf.
»Oh, ja«, erwidert sie und berührt eine Meerjungfrauensträhne. »Na ja, das Lila hat mich gelangweilt. Alle haben so gefärbt, hast du das nicht bemerkt?«
Mit einem Lächeln sehe ich mich um. Heute ist es recht leer, aber viel lila Haare gibt es nicht zu sehen, alles nur geschmackvolle honigfarbene Strähnen, sowohl die Schulmädchen als auch ihre Mütter.
»Es ist hübsch«, erkläre ich.
Schnell versteckt sie ein Flackern der Überraschung. Es fällt mir zu spät wieder ein.
Früher hat Holly dauernd bei uns übernachtet. Sophie und sie verschwanden oben im Zimmer, und nachts hörte man sie laut lachen, während sie weiß Gott was in Sophies Bad veranstalteten. Einmal kamen sie morgens mit rosa Haaren heraus.
»Es lässt sich auswaschen, Mum, keine Sorge!«, hatte Sophie mir versichert, während Holly mich von der Seite ansah, amüsiert darüber, wie ich versuchte, meinen Zorn zu zügeln.
Teenager suchten immer nach einer Reaktion, das wusste ich. Aber der Besuch beim Friseur, bis Sophie wieder ihr natürliches Babyblond hatte, war teuer gewesen. Und sie war sehr undankbar.
»Aber ich finde es cool, Mum. Ich
will es nicht anders färben.«
Wir bestellen Cappuccinos. Auf meine Frage nach ihrer Mutter antwortet sie, dass es ihr gut gehe.
Nachdem Sophie verschwunden war, haben wir uns immer mal wieder gesehen, aber nach den ersten Begegnungen hatten wir offenbar eine unausgesprochene Abmachung getroffen, nur zu lächeln und zu nicken. Mir war zu Ohren gekommen, dass Holly nach der Mittleren Reife die Schule verlassen hatte, aber es ging ihr wohl gut. Derzeit machte sie eine Ausbildung zur Krankenpflegerin. Ihre Lehrerin, sagt sie, »ist total b…«, sie fängt sich, »… problematisch«.
Aber es gefällt ihr.
Was sie mir nicht zu sagen braucht, ist der Grund, warum ich ihr bislang aus dem Weg gegangen bin. Die Wunde, die Sophie in ihr Leben gerissen hat, verheilt. Sie lebt ihr Leben, wie Sophie es nicht tut. Ich frage weiter, will plötzlich mehr Details wissen, auch wenn es schmerzt. Aber dann entsteht eine unvermeidliche Pause.
»Also, warum wolltest du dich treffen?«, fragt Holly.
Ich hole tief Luft. »Ganz offensichtlich wart Sophie und du euch sehr nahe.« Hastig erzähle ich ihr von dem Anruf, die knöchernen Details ihrer Worte an der Hotline. »Ich habe so ein Gefühl … dass sie nach Hause zurückkommen möchte.«
Schon als ich es ausspreche, klingt es nicht nach viel, aber Holly nickt mit ernster Miene.
»Ich auch«, erklärt sie. »Ich wusste, dass sie eines Tages wiederkommen würde.«
Noch eine Erinnerung: Holly liebte Horoskope und all diesen Kram – sie hatte sogar ein altes, abgenutztes Set Tarotkarten, was Sophie tief beeindruckt hatte. Ich hatte sie gemeinsam über die Karten gebeugt gesehen, in Sophies Zimmer, die Köpfe zusammengesteckt, Sophies helles Blond, Holly eine gebleichte Kopie davon, beide kichernd.
»Ich muss nur einige Sachen für mich sortieren«, erläutere ich ihr nun. »Warum sie weggelaufen ist. Falls sie wieder anruft, muss ich einfach … ich muss es einfach wissen. Sollte etwas sie abhalten, selbst jetzt noch?«
»Nun, es stand doch damals alles in den Zeitungen«, erwiderte Holly rundheraus.
Als ich mich daran erinnere, wie entblößt ich mich damals fühlte, zucke ich zusammen. Ich hatte alles mitgemacht, Aufrufe in den Medien, Artikel in der Abendzeitung, eine Videobotschaft für die Sechs-Uhr-Nachrichten gemeinsam mit Mark, in der wir Sophie baten: »Komm bitte nach Hause zurück. Wir sind nicht böse, wir wollen nur wissen, dass es dir gut geht.«
Dann waren wir in den nationalen Nachrichten gelandet. Es gab einige Artikel, die längeren erwähnten Marks Job in der Kanzlei und machten viel Gewese um Sophies bevorstehende Prüfungen. Ihre Schule, diese kleine Provinzschule, wurde als »akademisches Treibhaus« bezeichnet. Es gab die Einlassung eines »Nachbarn«, der beschrieb, dass wir neu aus London hergezogen waren, »nur die eine Tochter, hohe Erwartungen«. Den Artikel musste ich mehrfach lesen.
»Sie behaupten, Sophie hätte zu viel Druck verspürt«, sagte ich Mark an dem Morgen. »Das deuten sie an. Druck von uns.«
»Nun, es ist sinnlos, sich darüber Sorgen zu machen, was geschrieben wird«, erwiderte Mark kurz angebunden. Da fing es an, dass er nicht mehr gern darüber sprach.
»Hohe Erwartungen«, las ich, wie es da schwarz auf weiß stand.
»Das ist Unsinn«, stellte Mark laut fest, der über meine Schulter gebeugt mitlas. »Das ist nur der Preis, den wir bezahlt haben, als wir das Haus gekauft haben. Jetzt ist es viel mehr wert. Siehst du, die schreiben nur Unsinn.«
Beinahe hätte ich ihn geschlagen.
Aber bald verschwanden die Artikel ohnehin. Ein Pärchen von Internatsschülern benutzte die Kreditkarten ihrer Eltern, um nach Antigua zu fliegen, und sie weigerten sich, nach Hause zu kommen, was Sophies allzu gewöhnliche Geschichte von den Titelseiten verschwinden ließ. Das war sogar noch, bevor die Ermittlungen versandeten.
»Ja, das wurde in den Zeitungen behauptet«, stelle ich jetzt fest. »Aber was denkst du?«
»Nun«, beginnt Holly vorsichtig. »Ich weiß, dass es schwierig für sie war, dass sie gute Noten brauchte. Aber ich wusste nie so genau, was mit ihr los war. Sie war nicht immer … so offen im Gespräch.«
»Aber du warst so selbstsicher.«
»Ich war ein Teenager«, erwidert sie mit Nachdruck. Ich verberge ein Lächeln – sie kann nicht älter als neunzehn sein, aber ich weiß, was sie meint. »Das war das, was alle von mir glauben sollten. Sophie mochte mich, wenn ich wusste, was ich tat, wenn wir Spaß hatten. Aber nicht so sehr, wenn ich Mist gebaut habe.«
»Wie damals, als du dachtest, du wärst schwanger?«, platzt es aus mir heraus.
Holly hatte bei mir in der Küche gesessen, als ich an dem Abend nach Hause gekommen war, die Füße auf dem Stuhl neben ihr.
»Hallo, Kate, das ist eine schicke Tasche, warst du wieder einkaufen?«
Ich hatte ihr erlaubt, mich beim Vornamen zu nennen. Und es bereut.
Die Mädchen verschwanden mit ihrer Pizza nach oben, um sich fertig zu machen. Sie wollten ausgehen, nur um die Ecke zu Emily aus der Schule, hatten sie behauptet. Als jemand draußen hupte, rannten sie hinaus, und ich ging später in Sophies Zimmer, um die Teller einzusammeln. Als ich den überquellenden Mülleimer bemerkte, nahm ich ihn auch gleich mit.
Sie hatten ihn ganz unten versteckt, also war es eigentlich Pech, dass ich beim Auskippen in die Mülltonne draußen die Packung sah und sofort erkannte: »99% Sicherheit«.
Mark war beruflich unterwegs, in einer anderen Zeitzone, also goss ich mir ein Glas kalten Weißwein ein und setzte mich zum Nachdenken an den Küchentisch. Fünfzehn. Sophie hatte noch einige Monate bis zu ihrem Geburtstag. Sexuell vor dem Gesetz noch nicht mündig, aber vielleicht nicht ganz so überraschend.
Als die Mädchen wieder zu Hause einfielen, saß ich noch immer dort, und als sie sahen, was auf dem Tisch lag, wurden ihre Gesichter bleich.
»Das ist meiner«, sagte Holly sofort, ihre übliche Prahlerei war verschwunden. »Es tut mir leid, aber ich konnte das nicht zu Hause machen. Es ist alles gut, wirklich, ich schwöre. Ich musste nur sichergehen. Bitte sag meiner Mum nichts.«
Kleinlaut saßen sie am Tisch, während ich für Holly online einen Termin bei einer Beratungsstelle ausmachte. Danach war ich zufrieden mit mir selbst, wie verständig ich mit dieser unangenehmen Situation umgegangen war. Ich konnte das, ich konnte Sophie helfen, durch ihre Teenagerjahre zu navigieren.
»Nein, nicht das«, erwidert Holly und reißt mich zurück in die Gegenwart. »Nein, ich meine, wenn ich wütend war. Meine Mum und mein Dad … da war viel los.« Sie zieht die Schultern hoch. »Es war gut, als sie sich getrennt haben.«
»Kann ich den Damen noch was zu trinken bringen?« Der Kellner schwebt um uns herum, breit lächelnd. »Tee? Kaffee?« Er zuckt fröhlich mit den Schultern. »Prosecco?«
»Magst du? Wenn du einen nimmst, mache ich mit«, biete ich ihr an.
»Nicht für mich, danke. Ich muss noch fahren«, erklärt sie und fügt hinzu: »Mein Parkticket verfällt bald.«
Aber jetzt, da sie mir gegenübersitzt, will ich sie hier behalten, will diese Verbindung zu Sophie halten.
»Hast du noch Kontakt mit Danny? Sophies Freund?«
Sie zögert, spielt mit dem rosa Flauschball an ihrem Schlüsselbund.
»Ja. Hör mal«, sie hebt den Kopf, sieht mich fest an. »Ich habe mit ihm darüber geredet. Deshalb habe ich zugestimmt, dich zu treffen. Ich möchte nicht, dass du irgendwas hochbringst zwischen uns. Das wäre nicht fair. Es war so schon schwierig genug.«
Ich hänge hinterher.
»Hochbringen … seid ihr zusammen?«
»Ja«, sagt sie ernst. »Es ist kein Geheimnis. Wir haben es nur nicht … offensiv vor uns hergetragen.«
»Seit wann?« Und dann sprudeln die Worte aus mir heraus, bevor ich sie aufhalten kann: »Was denkst du, wie es Sophie damit gehen würde?«
Mit einem Mal werde ich wütend, die beste Freundin meiner Tochter, ihr Freund. Dieses alte Klischee.
»Ich weiß nicht, wie es ihr damit gehen würde.« Ihr Kinn reckt sich mir entgegen, ihr Hals ist rot gefleckt. »Sie ist jetzt lange weg. Wenn es ihr wichtig wäre …«
»Es tut mir leid«, erkläre ich, der hochkochende Zorn verebbt so schnell, wie er gekommen war. »Das geht mich nichts an.«
»… wenn ich ihr wichtig wäre, oder er«, fährt sie gnadenlos fort. »Wenn irgendjemand von uns ihr wichtig wäre, dann wäre sie wiedergekommen.« Dann fährt sie sanfter fort: »Ich habe sie sehr vermisst. Er auch. Wir haben mehr Zeit miteinander verbracht. Und dann, na ja …«
»Schon gut, ich verstehe. Es tut mir leid, dass ich das gefragt habe.« Ich will nur noch nach Hause und die Tür hinter mir zumachen. Sophie ist aus ihren Leben verschwunden. Wie ein Stein, den man in einen Teich wirft. Und jetzt verschwinden sogar die Wellenringe. Ich winke nach der Rechnung, aber der Kellner nimmt sich Zeit – es ist wohl offensichtlich, dass die Stimmung umgeschlagen ist. Da fällt es mir ein.
»Du warst Sophie wichtig«, versichere ich Holly. Aus irgendeinem Grund möchte ich, dass sie das versteht. »Als ich die Packung im Müll gefunden habe – deinen Schwangerschaftstest –, da gefiel mir das nicht. Ganz und gar nicht. Und sie ist für dich in die Bresche gesprungen.«
Bei ihrer Verteidigung von Holly war Sophie so ernst gewesen: »Du darfst ihrer Mum nichts sagen, du verstehst das nicht. Sie ist ein gutes Mädchen.«
Es ist schwierig, sich an Zeiten zu erinnern, da eine ungewollte Schwangerschaft das Schlimmste zu sein schien, was einer Familie passieren konnte.
»Sie hat sich wirklich für dich eingesetzt«, bekräftige ich.
»Nun, das war ja wohl das Mindeste«, erwidert Holly, während sie sich umsieht und nach dem Kellner schaut, um ihn zur Eile zu bewegen. »Immerhin war es ihr Test.«
»Es war ihr Test? Was … wie?«
Sie zuckt mit den Schultern, wirkt ungeduldig.
»Sie war mit Danny zusammen. Wir waren Teenager. Es war keine große Sache.«
Jetzt bin ich an der Reihe zu spüren, wie mir Röte ins Gesicht steigt. Fast kann ich Sophie hören: »Gott, Mum, du bist so neugierig. Ich brauche meine Ruhe!«
Ihre Zimmertür schlug zu.
»Ich … mir war nicht bewusst, dass es so … ernst war.«
Hollys Mundwinkel zucken.
»Na ja, das ist nichts, worüber er und ich reden. Aber offensichtlich.«
»Warum hast du gelogen?«
»Weil du ausgeflippt wärst. Das wäre ziemlich lange das Aus für Sophie und Ausgehen gewesen, oder nicht?«
Dagegen kann ich nichts sagen.
»Ist das noch wichtig?«, fragt sie. »Das ist alles lange vorbei.« Sie schiebt ihre leere Tasse weg. »Es gefällt dir vielleicht nicht, aber wir reden nicht mehr über die Zeit – über Sophie. Wir denken an die Zukunft.« Sie nimmt ihre Tasche, steht auf. »Ich weiß, dass es schwierig ist. Aber ich weiß nicht, warum sie nicht zurückgekommen ist.«
»Okay«, sage ich langsam nickend. »Ich verstehe. Ich übernehme das. Tschüss, Holly.«
Sie geht schon.
»Tschüss, Kate.«
Es klingt noch immer seltsam in meinen Ohren.