11. Kapitel
I n der Nacht träume ich erneut. Ich folge Sophie durch mein Haus, wie immer, stets einen Raum hinter ihr, einen Hauch zu langsam.
Aber dieses Mal ist es anders. Ich kann sie nicht sehen, aber irgendwie weiß ich, wie es in Träumen so ist, dass es nicht meine Sophie ist, das verspielte Teenie-Mädchen, das ich jage. Es ist das Kleinkind Sophie, der Wonneproppen mit den seidigen blonden Locken. Und es ist nicht das Haus, wie ich es kenne, weiche Teppiche und geschmackvoll eingerichtet. Es hat halb gestrichene Räume mit blanken Böden, als ob wir gerade erst eingezogen wären oder kurz davorstünden, auszuziehen.
Wir spielen ein Spiel. Kreischendes Babylachen erklingt von außerhalb des Zimmers, so fröhlich wie Sonnenschein.
»Drei, zwei, eins … bereit oder nicht, jetzt komme ich!«
Damit erhebe ich mich von meinem Versteck hinter dem Sofa und stampfe zu ihr, meine Schritte dramatisch laut auf den nackten Holzdielen. Noch immer kann ich sie nicht sehen, aber ich kann sie hören – ihr Gelächter ertönt wieder, hoch und unkontrolliert.
Nur ist es zu weit weg, merke ich plötzlich. Sie ist weiter gelaufen, als sie sollte in diesem riesigen Haus.
»Bereit oder nicht, jetzt komme ich!«, rufe ich erneut, noch lauter. »Sophie? Sophie!«
Meine Stimme hallt in den leeren Räumen. Schon ist das Lachen verstummt und das Haus nur noch von meinem Echo erfüllt.
Als ich aufwache, gegen den Schlaf ankämpfe, benötige ich einen Moment, um mich daran zu erinnern, wo ich bin. Der Traum wirkte so echt, ich kann fast noch das Lachen hören.
Wieder einer – ich dachte, diese Träume hätten eigentlich aufgehört. Es muss der Anruf sein, der wieder Dinge aufwirbelt. Ein Griff in die Schublade meines Nachtschränkchens, und ich spüle die Tablette schnell mit einem Schluck Wasser herunter. Sie wird mir einen betäubten Rutsch bis in den Morgen schenken. Wenn ich nicht schlafe, kann ich die Situation nicht ertragen, und ich kann mir nicht erlauben abzurutschen.
Nachdem ich meinen letzten Termin abgesagt hatte, muss ich morgen dringend hin. Mir gehen die Tabletten aus – ich dachte, ich käme ohne sie klar. Ich drehe mich um und schüttele mein Kissen auf. Jedes Mal, wenn ich zum Arzt gehe, starrt mich das halbe Wartezimmer prüfend an und fragt sich, ob die Strapazen mich inzwischen gebrochen haben.
Vielleicht liegt es am Licht. Mein Handy habe ich nicht am Bett, denn ich habe zu viele warnende Artikel über das wach haltende elektronische Leuchten gelesen. Aber der Mond ist heute Nacht so hell, dass man in seinem Licht fast lesen könnte.
Ein Gedanke gleitet durch mein Hirn, gerade als ich mich wieder ein wenig entspanne.
Bei meinen Träumen gibt es wenigstens einen kleinen Trost. Wenn ich aufwache und mein Bewusstsein wieder das Ruder übernimmt, gibt es nicht diesen Moment des Entsetzens, wenn ich mich an meine Realität erinnere. Ich weiß nach den Träumen immer schon, dass sie fort ist.
Es ist zu früh für einen Anruf, denke ich, während ich im Bademantel die Treppe hinunterstolpere. Wer es auch ist, lässt nicht den Anrufbeantworter drangehen, sondern klingelt immer wieder neu durch.
»Hallo?«
Meine Stimme ist rau vom Schlaf.
»Mrs Harlow? DI Nicholls. Dieser Anruf von Sophie, an die Hotline …«
»Morgen. Und wie geht es Ihnen?«
»Gut. Also, hat jemand den Anruf mitgehört?«
»Das habe ich Ihnen schon gesagt.« Ich richte mich auf, sehe auf die Uhr: Es ist nach neun. Doch nicht so früh. Das war wohl die Tablette. »Nun, Alma hatte mit mir Nachtschicht. Sie war unterwegs. Aber sobald sie ins Büro zurückkam, habe ich ihr davon erzählt.«
»Wie lange hat der Anruf gedauert, Ihrer Meinung nach?«
»Ich weiß es nicht. Es fühlte sich sehr lang an, aber …« Ich weiß, wie die Zeit einen hereinlegen kann. »Eine Minute? Zwei?«
Er zögert.
»Was denken Sie, wie viele Mitarbeiter die Hotline hat?«
»Keine Ahnung. Sollten Sie das nicht die Organisation fragen?«
»Raten Sie«, bittet er. »Grob.«
Ich verziehe den Mund.
»Fünfzig?«
Vielleicht mehr. Nicht alle halten das aus, es werden immer neue Ehrenamtliche gesucht. Und natürlich arbeiten wir nicht in Vollzeit.
»Wie viele sind Ihrer Erfahrung nach für gewöhnlich im Dienst?«
»Ich weiß nicht genau … drei?«
Ich mag die Samstagnächte, wenn es nur Alma und mich gibt: Das ist genug sozialer Kontakt für mich.
»Und wie oft arbeiten Sie?«
Jetzt verstehe ich, worauf er hinauswill.
»Wissen Sie, daran habe ich auch schon gedacht. Es war so ein Glück. Denken Sie nur … wenn ich den Anruf verpasst hätte. Aber … ich glaube, es hätte jeder sein können.«
»Ja. Ein ziemlich großer Zufall«, stellt er fest. »Und ist es immer so ruhig, nur Sie allein?«
»Nein«, erwidere ich. »Ganz und gar nicht, aber samstagnachts reichen zwei von uns. Die Hotline ist keine große Sache. Es gibt auch eine Warteschleife für Anrufe.«
Normalerweise müssen wir das gar nicht nutzen.
»Das hat mir die Hilfsorganisation auch bestätigt.«
Also hat er sich erkundigt. Nach mir?
»Konnten Sie den Anruf ermitteln?«
»Daran arbeiten wir noch.«
»Mir ist da nämlich ein Gedanke gekommen …«
Ich berichte ihm vom Schwangerschaftstest, der von Sophie war, und dass ihre Freundin Holly mir das erzählt hat.
»Und Sie denken, dass so eine ungewollte Schwangerschaft … was? Sie von zu Hause weglaufen ließ?«
»Wenn man es so sagt, klingt es dämlich«, stelle ich fest. Ich spüre, wie mein Gesicht warm wird. »Nein, denke ich nicht. Ich wollte … es Sie nur wissen lassen. Falls es wichtig sein könnte.«
»Ah, nun, selbstverständlich. Das ist gut zu wissen«, erwidert er mit neutraler Stimme. »Aber ich würde Sie bitten, keine Ermittlungen auf eigene Faust anzustellen. Das ist selten … nützlich.«
»Ja, nun, es war nur eine Plauderei, ich …«
»Danke, Mrs Harlow.«
Damit legt er auf.
Als ich mich auf den Weg mache, bin ich immer noch verärgert – der Anruf hat mich abgelenkt, und dann habe ich gemerkt, dass ich mich beeilen muss. Aber die Praxis meines Hausarztes ist nicht weit weg, nur auf der anderen Seite von Vale Dean, in Amberton. In letzter Zeit sollte ich nicht allzu viel Zeit zwischen den Untersuchungen verstreichen lassen.
Der vielleicht größte Schock war die Erkenntnis, dass das Leben nicht einfach anhält. Dass man weitermachen muss, und das nicht nur auf die Halt-die-Ohren-steif- Art, wie ich sie mir vage vorgestellt habe: ein Lächeln zustande bringen, wenn Menschen einem Anteilnahme zeigen. Sondern eben so, dass man sich mit all dem Geröll eines Lebens herumschlagen muss: Rechnungen, Versicherungen, für Essen in den Schränken sorgen, Ärzte, Zahnärzte und der ganze Rest.
»Kate«, begrüßt mich Dr. Heath, als ich mich an seinem Tisch in den Stuhl setze. »Sie sehen so müde aus.«
»Oh, danke«, erwidere ich. »Sagen Sie einer Frau niemals, dass sie müde aussieht!« Ich klinge wie eine kokette Tante auf einer Weihnachtsfeier. »Das ist nur der Code für Sie sehen furchtbar aus. «
»Nein.« Sein freundliches Gesicht ist ernst. »Das meine ich nicht.«
»Nein, natürlich nicht. Ich habe nur einen Scherz gemacht.«
Er ist niemand Besonderes, dieser Dr. Heath – groß, Brille, Haare in dieser Unfarbe, weder hell noch dunkel –, aber daran liegt es nicht. Es gefällt mir einfach nicht, einen männlichen Arzt zu haben. Nicht zum ersten Mal denke ich, dass ich zu jemandem wechseln sollte, der nicht in meinem Alter ist. Irgendjemand nah an der Pensionierung oder frisch von der Universität. Und am besten eine Frau.
Oder vielleicht ist es das gar nicht. Vielleicht weiß er einfach zu viel über mich.
»Wie geht es Ihnen?«, unterbricht er meine Gedankengänge.
»Ganz gut«, antworte ich langsam und weiche seinem Blick aus, indem ich mir das gerahmte Bild hinter ihm an der Wand ansehe: eine glitzernde nächtliche Skyline. Er hat mir mal erzählt, dass er eine Zeit lang in Sydney gelebt hat: Ich glaube, er versteht, warum mir das Dorfleben manchmal schwerfällt.
»Ich nehme immer noch die Tabletten.«
»Und helfen sie Ihnen?«
»Sie helfen auf jeden Fall. Ich hatte gerade erst einige schlechte Nächte.«
»Schlechte Nächte?«
Ich atme tief ein. »Es ist so viel los gerade. Ich hatte Ihnen doch erzählt, dass ich hin und wieder bei dieser Hotline arbeite?«
Er nickt, und ich erzähle ihm schnell von Sophies Anruf. Ich bemühe mich, nicht allzu emotional zu klingen. Ihm gegenüber muss ich vernünftig wirken.
Seine Stirn legt sich in Falten, während er mir zuhört.
»Natürlich, ich verstehe, warum Ihnen das Probleme bereitet. Das ist nachvollziehbar.« Er wirft einen Blick auf seinen Monitor. »Und Sie trinken zusätzlich zu den Medikamenten keinen Alkohol? Sind Sie da ganz sicher?«
»Nein, keinen. Alles in Ordnung.« Zur Bekräftigung schüttele ich den Kopf. Nichts lässt ein Problem so deutlich werden wie das Verleugnen.
»Okay. Nun, fürs Erste kann ich das Rezept gern erneuern, wenn Sie denken, dass Sie die Tabletten weiterhin benötigen.« Offiziell sind es Schlafstörungen und Angstzustände. Eine spaßige Kombination. »Aber bei Ihrer Dosis sollten Sie wirklich nicht mittendrin aufwachen.«
»Ich habe versucht, sie zu reduzieren, verstehen Sie?«
»Es ist gut möglich, dass Sie dieses Mittel unter dem momentanen Druck brauchen. Wie wäre es, wenn Sie sich an das Rezept halten, und wir sehen dann zu, dass wir es langsam ausschleichen.«
Vor Erleichterung sacke ich zusammen. Er hat mich immer unterstützt, selbst nach … allem.
»Was ist mit den Nebenwirkungen?«, erkundige ich mich. »Ich habe gelesen, dass ich die Tabletten nicht länger als ein paar Monate nehmen sollte und …«, ich spüre, wie mir die Röte ins Gesicht steigt, »das tue ich ja jetzt schon.«
Er schüttelt den Kopf.
»Machen Sie sich darüber keine Gedanken.« Noch ein Blick auf den Bildschirm. »Aber hier steht, dass ich Sie an eine Trauerbegleiterin überwiesen habe. Wie steht es da, sehen Sie sie noch?«
Er weiß, dass das nicht der Fall ist, ist aber zu höflich, um es selbst auszusprechen.
»Wir machen gerade eine kleine Pause.«
»Kate …« Er sieht mich über den Rand seiner Brille hinweg an. »Medikamente sind die eine Sache, aber es ist wichtig, dass Sie die Wurzel des Problems angehen. Falls das mit der Trauerbegleiterin nicht gepasst hat, gibt es andere, wissen Sie? Vielleicht hat die Chemie nicht gestimmt? Es gibt Wartezeiten, aber es wäre sicher gut, wenn ich Ihnen eine Überweisung ausstelle. Soll ich?«
»Nun, warum nicht?«, erkläre ich, füge aber leicht säuerlich hinzu: »Aber die Wurzel des Problems ist nun mal leider nicht zu beseitigen, nicht wahr? Sie ist nicht wieder zurückgekommen.«
»Ich kann das kaum begreifen … aber ich bin immer für Sie da.«
Vielleicht liegt es daran, dass er mir nicht nahesteht, aber in mir öffnet sich etwas.
»Ich fühle mich einfach nur in jeder Hinsicht als Versagerin. Ich bin als ihre Mutter gescheitert, bin ihr nicht gerecht geworden. Auch jetzt noch. Weil ich sie nicht gefunden habe.«
Die Tränen steigen empor, sie sind nie weit von der Oberfläche entfernt.
Er lehnt sich vor, seine blauen Augen hinter den Brillengläsern voller Sorge.
»Ich weiß.« Das habe ich ihm schon vorher gesagt. Und es hat nichts gebracht. »Ich glaube nur, wenn Sie zu einer Art … Akzeptanz der Situation – Ihrer neuen Wirklichkeit – gelangen könnten, würde es Ihnen besser gehen. Ich weiß, dass das nichts ändern wird. Aber Sie könnten eher Ihren Frieden mit allem machen, wenn man das so sagen kann. Deshalb glaube ich fest daran, dass eine Therapie helfen kann.«
Ich will es hinausschreien: Ich will nichts akzeptieren. Ich werde niemals akzeptieren, dass meine Tochter weggelaufen ist; man sollte es nicht von mir verlangen. Gerade erst habe ich es Ihnen erzählt: Sie hat mich angerufen.
»Okay«, sage ich stattdessen. Schon bereue ich meinen Ausbruch. Also rutsche ich im Stuhl hin und her und löse es auf die britische Art: Ich wechsle das Thema. »Okay. Also, was ich noch fragen wollte …« Ich atme tief ein. »Falls Sophie einen Schwangerschaftstest gemacht hätte, bevor sie weggelaufen ist, hätten Sie das in Ihren Akten?«
Er richtet sich auf.
»Und warum glauben Sie, dass sie schwanger war?«
»Oh, das tue ich nicht. Nicht wirklich. Aber eine ihrer Freundinnen hat es gesagt.«
Doch es geht mir schon den ganzen Vormittag durch den Kopf. Was wäre, wenn? Was wäre, wenn? Was wäre, wenn es mehr als nur ein Test war? Wenn das Ergebnis nicht das war, was sie Holly gesagt hat? Wie schrecklich, das alles allein durchzustehen. Ein Eingriff. Das würde tatsächlich so viel erklären …
»Nun«, hebt er an. »Das ist nicht unbedingt eine Sache, über die ihr Arzt informiert wäre.« Er zögert. »Das Patientengeheimnis ist selbstverständlich wichtig. Aber ich glaube, Sie verstehen, dass das nicht unbedingt eine Angelegenheit wäre, die sie mit ihrem Familienarzt bespricht.«
Er hebt die Augenbrauen, und ich verstehe: Sie hat ihm nichts gesagt.
»Und es gibt viele andere Möglichkeiten. Jugendfürsorge. Kliniken.«
»Natürlich.« Ich wusste, dass es nur eine vage Hoffnung war. Ich sammle meine Sachen ein, werde mir bewusst, dass meine zehn Minuten vorbei sind.
»Aber Sie haben der Polizei davon berichtet?«
»Ja, ich habe es diesem Detective erzählt. Er schien nicht zu glauben, dass es wichtig sei.«
Wieder runzelt er die Stirn.
»Ich wäre davon ausgegangen, dass alle Details wichtig sind, auch jetzt noch.«
»Glauben Sie?« Ich fühle mich bestätigt – und etwas besorgt. »Danke. Und beim nächsten Mal komme ich früher.«
»Jederzeit.«