12. Kapitel
A
ls ich durch Amberton fahre, geht kein Wind, nur ein paar Wolkenfetzen hängen hoch oben still am Himmel. Ganz bestimmt wird es bald ein Gewitter geben, dieses Wetter muss einfach umschlagen. Obwohl mein Ziel nicht weit entfernt ist, fällt mir die Veränderung auf, wie die Häuser kleiner werden, weniger gepflegt, dort, wo die Innenstadt in die Vororte übergeht.
Obwohl ich schon fast zu Hause war, hatte ich mich noch anders entschieden, hatte umgedreht und war zurückgefahren.
Ich bin auf dem Weg zu Danny, Sophies Ex-Freund, und werde ihn nach dem fragen, was Holly mir erzählt hat. Seit dem, was DI Nicholls mir am Telefon gesagt hat, frage ich mich, ob ich mich seltsam verhalte. Dann wurde mir bewusst, dass ich fast den ganzen Tag nur Zeit verschwendet hatte, und ich wurde wütend auf mich. Mach es einfach.
In der Garage liegt ein Körper, halb unter einem aufgebockten Auto verborgen. Das war wohl Len, Dannys Großvater. Bevor das alles passiert war, bin ich einige Male hierhergekommen, weil ich mich erst an das große Auto gewöhnen musste und überall Kratzer und Dellen hatte, die ich vor Mark geheim hielt. Also kannte ich ihn gut genug, um ihn zu begrüßen, wenn wir uns zufällig begegneten.
Danach war ich nicht mehr hierhergekommen. Aber das hätte alles bedeuten können, vielleicht war es einfach nicht mehr nötig. Ich habe die grobe Idee, dass ich den Wagen für die jährliche Inspektion abgebe und dann schaue, ob Danny da ist. Irgendetwas sagte mir, dass er nicht so entgegenkommend sein wird wie Holly, also hatte ich entschieden, nun, gar nicht erst zu fragen, ob wir uns treffen könnten. Zur Sicherheit habe ich meine Sportsachen an, dann kann ich nach Hause joggen, wenn ich den Wagen hierlasse.
Ich parke auf dem kleinen gepflasterten Hof. Ein alter Collie liegt hinter der Garagentür und bellt zwei Mal, mehr aus Gewohnheit denn als Warnung.
Als ich auf die offenen Türen zugehe, erscheint Len schon unter dem Auto und wischt seine Hände am Overall ab. Viel älter als ich ist er wohl nicht, aber er sieht so aus. Sein Haar ist seit unserer letzten Begegnung ergraut.
»Morgen. Was kann ich für Sie tun?«
Nicht mal ein Hauch Erkennen.
»Hi, äh, ich weiß nicht, ob Sie sich erinnern, mein Name ist Kate Harlow, mein …«
»Ich weiß, wer Sie sind.«
Seine Miene bleibt leer.
»Ah, gut.« Der Collie kommt angelaufen und steckt seine Nase in meinen Schritt. Ich schiebe ihn sanft weg. »Nun, mein Wagen braucht die jährliche Inspektion.«
Er nickt in Richtung Büro.
»Treten Sie ein, und wir erledigen den Papierkram. Sollte nicht länger als ein paar Tage brauchen.«
»Der Papierkram oder die Inspektion?« Er lacht nicht, während ich ihm folge. »Ist Danny da?«
Er dreht sich zu mir um.
»Und warum interessiert Sie das?«
Ich bleibe auch stehen. Der Collie schnüffelt jetzt an meinen Füßen.
»Ich würde gern mit ihm reden, wenn das in Ordnung ist.«
Höflich – aber es ist keine Frage. Das Fell des Hunds ist staubig, aber ich streichle seinen drahtigen Rücken und weiche dabei Lens Blicken aus.
»Worüber? Haben Sie und Ihre Leute nicht genug angerichtet?«
Das lässt mich aufstehen.
»Meine
Leute? Was angerichtet?«
»Sie haben beinahe das Leben meines Jungen ruiniert, ihn weggesperrt.« Seine Stimme ist kalt, er hat die Arme vor der Brust verschränkt.
»Soll das ein Witz sein? Es war eine polizeiliche Ermittlung
…«
»Und wer hat die Bullen gleich zu ihm geschickt, mit dem Finger auf ihn gezeigt und sie glauben lassen, er habe was damit zu tun?« Jetzt wird er lauter. »Ich kenne Leute wie Sie. Sie denken, Sie und Ihre Tochter seien zu gut für ihn …«
»Halt, halt.« Ich hebe die Hände. »Das habe ich niemals gesagt. Ich habe nie gesagt, dass sie zu gut war. Sie haben uns nur gefragt, mit wem sie unterwegs war, das ist alles, und …«
Als er einen Schritt auf mich zumacht, springt der Hund um uns herum und bellt aufgeregt.
»Wissen Sie, dass die Leute sich immer noch das Maul zerreißen? Ich habe ihm gesagt, er soll sich nicht mit der albernen, verzogenen …«, ich kann sehen, wie er nach dem sucht, was er mir als Nächstes entgegenschleudern will, »… Tussi …«
Er spuckt das Wort geradezu aus. Meine Hände sind noch erhoben, wehren ihn ab.
»Großvater!« Eine hochgewachsene Gestalt kommt um die Ecke, als der besorgte Collie jammernd gegen mich stößt. »Was ist los?«
Er wird langsamer, erkennt mich.
»Mrs Harlow.«
»Hallo, Danny«, sage ich und drücke den hechelnden Hund von mir weg. »Können wir kurz reden?«
»Sie sind hier nicht willkommen.«
Len schreit nicht mehr, aber sein Gesicht ist noch immer rot.
»Das ist mir egal«, erkläre ich, die Tünche des Anstands ist weg. »Ich muss mit ihm reden, es ist wichtig.«
»Großvater, es ist okay«, wirft Danny ein. »Ich kümmere mich darum.«
Offensichtlich ist Len unentschlossen, sein Mund steht halb offen.
»Kümmer dich um Billie, der dreht ja durch.«
Darauf packt Len den Hund am Halsband und streichelt ihn gedankenverloren. Die Berührung beruhigt ihn.
»Na gut. Ich bin hier, falls was ist.«
Jetzt sieht er kleiner aus, sein Zorn verflogen und durch Bestürzung ersetzt.
Während ich Danny in das kleine Büro folge, zittere ich. Danny schiebt mir einen Stuhl hin. Nachdem die Gefühle durch mich hindurchgerast sind, bin ich ruhig und entsetzt über mich selbst, wie laut ich ihm gegenüber geworden bin.
»Ich dachte, zwischen uns wäre es in Ordnung«, sage ich, plötzlich den Tränen nah.
»Es tut mir leid wegen Len«, erklärt Danny mit dieser leisen Stimme. »Er will mich nur beschützen. Es war sehr schwierig für ihn. Er wird nicht jünger. Die Polizei … egal.«
Er setzt sich, wartet, dass ich es ihm gleichtue.
»Wie geht es dir?«, frage ich, dann schelte ich mich in Gedanken. Wir sind nicht hier, um seichte Konversation zu betreiben.
»Es geht mir gut«, berichtet er mit einem Hauch von Widerstand im Ton. »Ich leite die Werkstatt mehr oder weniger. Großvater hat mir viel Verantwortung überlassen. Er arbeitet ohnehin lieber an Autos, als Bücher zu führen. Wir haben einen Lehrling eingestellt.«
»Herzlichen Glückwunsch!« Ich rutsche in den Mutter-vor-der-Schule-Modus. »Klingt, als wäre das alles sehr gut für dich.«
»Ja«, erwidert er demonstrativ. »Ist es. Besser, als alle gedacht hätten.«
Es gibt eine Flaute. Ich glaube, er ist noch größer geworden. Er ist breiter geworden, hat die Hundewelpen-Statur verloren.
»Und du bist jetzt mit Holly zusammen.«
»Und?«, fragt er feindselig.
»Ich wollte nicht …« Ich gebe die Höflichkeiten auf. »Ich weiß, dass wir seit Sophies Verschwinden nicht geredet haben. Aber ich …« Ich merke, wie ich mich von dem Klein-Klein entferne. »… ich versuche zu verstehen, warum sie weggelaufen ist, wenigstens ein bisschen. Um vielleicht zu verstehen, wann sie zurückkommen könnte. Was denkst du,
was passiert ist, Danny?«
»Sie hatte die Schnauze voll«, erwidert er. »Manchmal müssen Leute einfach weg von allem.«
Nicht du, geht es mir unerwartet durch den Kopf. Du bist geblieben, um deinem Großvater zur Seite zu stehen.
»Warum interessiert es Sie überhaupt, was ich denke? Damals hat es das nicht.«
»Aber ich habe mit dir geredet, genau wie die Polizei«, erkläre ich stockend. »Um zu sehen, was du wusstest …«
»Was ich wusste«
, wiederholt er und öffnet den Aktenordner auf dem Tisch. »Wissen Sie eigentlich, dass die dachten, ich hätte was damit zu tun?«
»Ich habe es vermutet.«
Allen Hinweisen nachgehen, so hatten sie es genannt, bevor die erste Postkarte einen Teil der Dringlichkeit genommen hatte. Natürlich hatten sie sich den Freund vorgenommen, besonders einen Jungen wie ihn. Aber das will ich nicht laut aussprechen, so wie er da sitzt, nun ja, erwachsen.
»Sie haben mich drei Stunden lang festgehalten«, erzählt er. »Jede Menge Fragen über mich gestellt, über Sophie, darüber, was wir so getrieben haben. Und dann sind sie zu all unseren Nachbarn gegangen. Ob ich der Typ Mensch sei, der … der irgendwas tun könnte. Ihr wehtun. Es hat alles echt schwierig gemacht. Für Großvater … Kinder haben uns Sachen ans Haus geschmissen.«
»Das war mir nicht bewusst.« Dass es so schlimm war, hatte ich mir nicht vorstellen können, füge aber hinzu: »Aber selbstverständlich mussten sie allem nachgehen. Ihr wart ein, nun, ungewöhnliches Pärchen …«
In der Schule war Danny ihr eine Klasse voraus – bis er abging. Und nein, es gefiel mir nicht, als Sophie mir beiläufig erzählte, dass sie mit ihm zusammen war. Bei seinem Großvater verwildern, seine Eltern wer weiß wo. Tatsächlich waren es nur Kleinigkeiten, eine Rangelei vor dem Pub; das Mal, als ein Lehrer seine Schlüssel im Auto stecken ließ und jemand damit eine Spritztour machte. Am nächsten Tag stand es in der Einfahrt, der Lack voller Schlamm. Aber irgendwie wurde dabei immer der Name Danny Nixon erwähnt. Sogar ich hatte ihn vorher schon gehört.
Jetzt ist er über den Papierkram vor sich gebeugt. Seine Wimpern sind, wie Sophie mir in überraschend vertrauensseliger Stimmung erzählt hat, unfassbar lang – sie machen seine ansonsten so harten, kantigen Züge weich. Jetzt sehe ich, dass sie recht hatte.
»So war es nicht«, stellt er schließlich fest. »Es war … irgendwie unschuldig.«
»Ach wirklich?«
Ich will gar nicht so sarkastisch klingen, kann es aber nicht verhindern.
»Ja, wirklich.« Seine Ohren werden rot. »Wir waren nicht viel mehr als Freunde.«
»Freunde.«
»Freunde. Es gab für uns ja keine Zukunft.«
Plötzlich steigt die Erinnerung in mir auf, wie ich einmal nach Hause kam und sie alle in meiner Küche vorfand, Sophie, ihn, Holly, ihr Lachen ersterbend, als ich reinkam. Als sie zusammen waren, hat Sophie ihn nicht viel häufiger mitgebracht, aber Teenager finden schon Möglichkeiten, nicht wahr? Sophie war dauernd mit ihm unterwegs, im Kino, wie sie sagte, oder bei irgendwem zu Hause.
»Falls Sie es wirklich wissen wollen, ich glaube, sie fand es gut, dass es Sie geärgert hat«, erläutert er jetzt. »Aber sie hat mich auch ein wenig eingeschüchtert.«
Ich hebe die Brauen.
»Das stimmt. Es war die ganze Sache. Ihr Leben, ihr Zuhause.« Er blickt zur Seite. »Ihre Familie. Ich meine, ihr Dad wollte ihr ein Auto kaufen! Und er holte sie von der Schule ab und all das, es ist nicht gerade einfach …«
Seine Stimme wird leise. Dann: »Haben Sie Ihren Autoschlüssel? Wir haben noch alle Informationen hier. Sie können den Wagen morgen abholen.«
»Oh, natürlich, klar.« Ich werde entlassen. »Bitte sehr.«
»Ich muss ein paar Sachen erledigen«, erklärt er milde. »Es tut mir leid, dass das alles so aufregend für Sie war.«
Obwohl er höflich ist, weiß ich, dass unser Gespräch beendet ist. Als ich aufstehe, streiche ich automatisch über meine Jeans, um den Dreck des zerschlissenen Bürostuhls abzuwischen. Ich bemerke, wie er mich dabei beobachtet, und höre verlegen auf.
»Okay, vielen Dank.«
Len ist mit dem Hund irgendwohin verschwunden, also ist mein Weg Richtung Straße frei. Aber ein Impuls lässt mich im Türrahmen innehalten und mich umdrehen.
»Sophie hing an ihrem Dad. Aber er hat sie nicht abgeholt«, füge ich hinzu. Es ist kleinlich, aber ich kann nicht anders. »Ich war das, wenn sie später fertig war. Mark war immer auf der Arbeit.«
Er zuckt mit den Achseln.
»Tschüss, Danny.«
Ich hätte mir ein Taxi rufen sollen. ich bereue das Laufen, während mir der Bürgersteig die Hitze des Tages entgegenschleudert. Meine Muskeln sind steif. Zu viel Zeit vor dem Computer. Aber schon bald werde ich ruhiger, wie immer, sobald ich tatsächlich vorankomme, die Straßen entlang, die mich von den Reihenhäusern ins Umland bringen. Warum mache ich das nicht mehr? Ich nehme an, ich habe mich in den letzten Monaten einfach daran gewöhnt, drinnen zu sein. Oder im letzten Jahr. Spätestens als Mark den Hund mitgenommen hat, schien es immer weniger Gründe zu geben, mich aufzuraffen.
Mein Plan ist es, außen am Dorf vorbeizulaufen. Das ist ohnehin der schönere Weg, am Rand der Felder und unter den Bäumen. Ich biege vom Asphalt ab auf den Weg, den ich nehmen will. Sofort wird es kühler, denn die Blätter spenden mir Schatten.
Meine Gedanken beginnen umherzuwandern, spulen sie ab wie ein Faden.
Holly hat behauptet, der Schwangerschaftstest sei von Sophie gewesen. Danny behauptet hingegen, er und Sophie hätten nicht miteinander geschlafen. Jemand liegt falsch. Oder lügt. Und falls das so ist, wer?
Vielleicht wollte Danny nicht mal jetzt mir gegenüber, der missliebigen Mum von Sophie, zugeben, dass sie nicht mehr mein kleines Mädchen war, nicht so, wie ich dachte. Ich nehme an, dass es aus Respekt geschah, irgendwie.
Und dennoch. Ich hätte schwören können, dass er mir die Wahrheit sagt.
Bedeutet es überhaupt was?
Beinahe stolpere ich, fange mich gerade noch ab. Mein Schnürsenkel ist offen. Ich halte an, knie mich hin, um ihn zuzubinden.
Mir kommt ein Gedanke: Was wäre, wenn der Test nicht negativ war? Wäre das schlimm genug gewesen, damit meine vernünftige, liebe Tochter von zu Hause wegläuft?
Tatsächlich schüttle ich den Kopf und murmle vor mich hin, während ich weiterlaufe. Das kann ich nicht glauben. Ich hätte Sophie doch unterstützt. Natürlich wären Mark und ich nicht glücklich gewesen, aber es wäre nicht das Ende der Welt geworden. Wir wollten nur ihr Bestes. Mit Sicherheit war das nicht genug, um sie dazu zu bringen, wegzulaufen.
Aber ich weiß auch, was so viele Familien behaupten. Ich habe die Forschungen dazu gelesen, die trockenen Kommentare von Fallstudien. »Wir können uns keinen Grund vorstellen, warum er verschwinden sollte.« »Sie hat uns keinerlei Hinweise gegeben, es kam komplett überraschend.«
Mit einem Mal sehe ich wieder Len vor mir, das Gesicht rot vor Zorn. Es hatte mich schockiert. Danny wirkte immer so ruhig, so leise. Aber was, wenn er das Temperament seines Großvaters geerbt hatte? Der Pfad öffnet sich zu den Feldern, weite Flächen aufgerissener, dunkler Erde unter dem gewaltigen Himmel.
Ein schwarzer Schemen birst aus der Hecke vor mir, lässt die Zweige wackeln. Ich halte an, mein Herz rast, obwohl ich erkenne, dass es nur ein Vogel ist – ein großer, eine Krähe oder ein Rabe vielleicht. Ich habe ihn wohl aufgeschreckt. Während ich ihm hinterherblicke, wie er über das Feld davonfliegt, tief und schnell, fällt mir wieder auf, wie still es hier ist. Keine Menschenseele weit und breit.
Als ich weiterlaufe, beschleunige ich meine Schritte.