13. Kapitel
D
ie letzten Tage habe ich gefühlt durchtelefoniert. Ich habe mehrere Nachrichten auf dem Anrufbeantworter der Hotline hinterlassen, dazu einige E-Mails; nicht an Alma, sondern an die Vorgesetzten. Aus den Tiefen meiner Schubladen hatte ich die Broschüren gesucht, die man mir zur Einführung gegeben hatte, um nach Kontakten im Hauptbüro zu suchen. Es wirkt mehr wie ein großer Konzern, als ich gedacht hätte: An den öffentlichen Nummern vorbeizukommen ist schwierig.
Mein Wunsch ist unwahrscheinlich: alle Informationen des Anrufs, den ich angenommen habe – und die Nummer, von der aus angerufen wurde. Ich weiß nicht mal, ob es Aufzeichnungen davon gibt oder wie das funktioniert. Und es verstößt gegen alle Regeln, aber ich muss einfach fragen. Was soll ich sonst tun?
Ich habe alle angerufen, deren Nummern ich hatte, sogar die Geschäftsführerin. Schlussendlich hat mir ihr persönlicher Assistent, ein junger Mann namens Jason, so höflich wie möglich gesagt, dass ich bitte aufhören soll anzurufen.
»Jemand wird sich wegen Ihrer Anfrage mit Ihnen in Verbindung setzen, Mrs Harlow. Sobald das möglich ist.«
Daraus hatte ich geschlossen, dass sie noch überlegten, was sie tun wollten.
Und ich erzählte Mark von dem Anruf. Nun, nicht persönlich. Ich wollte nicht mit ihm reden, also habe ich ihm eine E-Mail an die Arbeitsadresse geschickt, in der ich so kurz wie möglich die Details zusammengefasst hatte: dass während meiner Arbeit bei der Hotline am Samstag ein Anruf von Sophie reingekommen war, der Anruf aber in dem Moment beendet wurde, als ich erkannte, wer dran war.
Wenn man das so las, war es nicht gerade eine vielversprechende Entwicklung, ich weiß. Noch hat er nicht geantwortet, aber er wird es gelesen haben. Er arbeitet seine E-Mails im Büro immer gut ab.
Immer wenn ich meinen Anrufbeantworter abhöre, ist meine Familie drauf: Dad, der einzige Mensch, den ich kenne, der noch draufspricht, statt aufzulegen und das Handy anzurufen. Aber Charlotte hat jetzt auch damit begonnen. Vermutlich weil sie weiß, dass ich ohnehin nicht abhebe.
Heute Morgen gab es eine weitere Nachricht.
»Kate, ich muss dringend mit dir reden. Ist das Handy aus? Ich brauche ein paar Nummern für Alfies Geburtstagsparty nächsten Monat. Er hätte dich gern dabei.«
Er ist noch keine zwei Jahre alt, denke ich mir, es wird ihm wirklich nicht auffallen, solange er seinen Lieblingslöffel hat, um damit auf den Boden zu schlagen.
»Und ich hätte dich gern dabei. Sehr gern.«
Ich seufze.
»Kannst du mich bitte anrufen? Außerdem habe ich mit Dad gesprochen. Wir sollten uns unterhalten. Über diesen Anruf … was er bedeutet …« Ihr Ton verändert sich. »Kate, bist du da? Hörst du das? Heb ab, Kate …«
Wie macht sie das nur? Ich schließe die Küchentür hinter mir, verdränge ihre Stimme.
Dazu machte ich noch einen Lauf, zurück zur Werkstatt, um meinen Wagen abzuholen. Danny war nicht da. In der Werkstatt sah ich Len, aber er ignorierte mich. Ein junger Mann, den der Flausch auf seinen Wangen nicht älter wirken ließ, übergab mir das Auto.
Aber das Laufen schien irgendwas in mir befreit zu haben. Trotz meiner Sorgen um Sophie und den im Sande verlaufenden Anrufen habe ich mehr Energie als seit Ewigkeiten. Etwas treibt mich voran, trotz aller Hürden. Zum ersten Mal seit langer Zeit habe ich guten Grund für meine Hoffnung.
Bei alldem habe ich Lily nicht vergessen. Nach langer Wartezeit habe ich endlich einen Anrufbeantworter beim Gemeinderat erreicht, der mich informierte, dass die Person im Urlaub sei; aber ich könne eine Nachricht hinterlassen. Nun ja, es ist August. Ich will herausfinden, was genau passiert: Bis jetzt habe ich keine Anzeichen dafür gesehen, dass sich außer mir jemand um sie kümmert.
In der Zwischenzeit probiere ich etwas Neues aus, ab heute Nachmittag, wenn ich nach ihr sehe: Anstatt ihr zu höflich zu widersprechen, wenn sie verwirrt ist, will ich versuchen, sie ein wenig aus der Reserve zu locken. Darüber habe ich etwas gelesen, der Gedanke dahinter ist, dass es für sie weniger verwirrend ist. Wir alle können es manchmal gebrauchen, dass man unseren Träumen Nachsicht entgegenbringt.
So ganz sicher bin ich nicht, wie ich das Thema anbringen soll, während sie über ihre Lieblingssendungen plaudert – ihr Favorit Coronation Street
. Mark mochte es nie, wenn ich sie geschaut habe, und sein Jammern wurde so nervig, dass ich immer umgeschaltet habe. Seit er weg ist, habe ich bewusst weitergeschaut. Und ich rede mit ihr über die Hilfsorganisation, über Alma und ihren Hund, über die anderen Ehrenamtlichen, die manchmal dabei waren. Sonst habe ich nicht viel zu erzählen.
Schließlich kommt sie auf ihn zu sprechen, während wir auf ihrem geblümten Sofa sitzen und Tee trinken. Es ist so weich, dass man tief hineinsinkt, die Knie fast höher als der Kopf.
»Der kleine Junge«, erkundigt sie sich. »Wo ist er hin?«
Ich weiß es nicht.
»Erzähl mir von ihm, Lily. Wie ist er so?«
Ihre Augen leuchten auf.
»Oh, er ist so ein lieber kleiner Junge. Immer am Basteln. Und diese blonden Locken!«
»Blonde Locken?«
»O ja«, antwortet sie selbstbewusst. »Genau wie ich, als ich noch ein kleines Mädchen war.«
»Lily«, sage ich vorsichtig. »Mir war nicht bewusst, dass du und Bob Kinder hattet.«
Ich weiß, dass sie keine hatten. Auch wenn ihr Ehemann Bob schon lange verstorben ist, hat er doch ein kunstvoll gerahmtes Foto am Ehrenplatz auf dem Tisch im Flur. Als wir uns kennenlernten, hat sie sehr diskrete Andeutungen über die »familiären Enttäuschungen« gemacht. Bevor sie Bob traf, hatte sie ein Schuhgeschäft in Leeds, und die beiden haben sich ein gutes Leben geschaffen, wie sie mir sagte.
Sie antwortet nicht.
»Wie ist sein Name, Lily?«
»Ich weiß nicht … das habe ich wohl vergessen. Kennst du ihn?«
»Nein. Aber ich würde ihn gern kennenlernen«, füge ich hinzu.
»Nun …« Lily blickt an mir vorbei und entscheidet sich dann: »Ich weiß nicht, wann er das nächste Mal hier sein wird.«
Das beruhigt mich. Falls Lily sich einen kleinen Jungen einbildet, der ihr Gesellschaft leistet – das Kind, das sie niemals hatte? –, dann zeigt ihre Zurückhaltung, dass sie tief in sich doch weiß, dass ich ihn nicht treffen kann.
»Und was ist mit dir, Schatz?«, fragt sie jetzt. »Hast du von deiner Nancy gehört?«
Ich hätte nicht gedacht, dass sie sich erinnert. Damals, als ich ihr erzählt hatte, dass meine Tochter weggelaufen war und ich nicht wusste, wo sie war, hatte das Lily verstört. Am Ende hatte ich ihr gesagt, dass Sophie auf einer langen Reise war.
Ich räuspere mich.
»Sie hat mich angerufen, ja. Neulich. Aber sie heißt Sophie, nicht Nancy.«
Sie nickt.
»Nancy war dann wohl die andere. Oh, sie hat nur Ärger gemacht!« Lily sieht niedergeschlagen aus. »Ich bin dieser Tage ein wenig durcheinander, was?«
Wenn sie merkt, was mit ihr geschieht, ist das sehr schwierig.
»Nur ein wenig, Lily, aber das ist okay. Und jetzt fängt Corrie’s
an, glaube ich.«
Mit einem Mal bin ich wach. Ich liege auf dem Rücken, das Bettzeug klamm, das dunkle Zimmer stickig.
Der Lauf hat genau so gewirkt, wie ich gehofft hatte. Ich schlief schnell ein, ohne Gedanken, die mich bedrängten. Nicht nachdenken, nicht nachdenken, nicht nachdenken. Das ist mein Mantra, bis der Schlaf kommt.
Aber jetzt, mitten in der Nacht, liege ich wach. Wieder einmal.
Und dann spüre ich es. Weniger eine Gänsehaut als vielmehr irgendein älterer Sinn, eine stille, elektrische Wahrnehmung. Die Präsenz im Zimmer. Langsam, unaufhaltsam wende ich ihr den Kopf zu.
Die Gestalt in der Tür bewegt sich nicht.
Ich schließe die Augen, öffne sie wieder. Und immer noch steht sie da.
Langsam geht er auf mich zu …
Und dann wache ich wieder auf, diesmal wirklich, und suche nach dem Lichtschalter.
Natürlich ist niemand da. Aber mein Herz donnert immer noch, mein ganzer Leib ist voller Adrenalin. Ein weiterer bekannter Traum. Recht üblich nach einem traumatischen Erlebnis, hatte meine Trauerbegleiterin Lisa mir einmal erklärt. Eine physische Manifestation der wahrgenommenen Bedrohung meiner Welt – in meinem Gehirn, das zu verstehen versucht.
Trotzdem macht es mir Angst.
Ein Griff nach den Tabletten in meiner Schublade. Diesmal nehme ich zwei, um sicherzugehen. Sie werden ihre Wirkung entfalten, wie immer, und ich lehne mich zurück, lese ein Buch, halte den Kopf beschäftigt, bis ich müde werde.
Während ich in den Schlaf gleite, tanzen Fragmente meines Tages vor mir. Das Gesicht von Len, rot und wütend. Der Collie, jaulend und verängstigt. Der schwarze Schemen aus dem Busch. Und Lily: »Nancy war dann wohl die andere.«
Gerade als ich wegdrifte, taucht eine Frage auf und bleibt für eine Sekunde in meinem Geist hängen: Wer ist Nancy?