16. Kapitel
Ü
ber das Wochenende wurde es noch heißer. Montagmittag ist der Himmel ein grandioses, wolkenloses Blau, und die Temperatur erreicht mit 30°C einen neuen Höchststand. In der Küche ist das Licht grün-golden vom Schatten der Bäume im Garten, und ich sitze vor meinem Salat, den ich mir zu Mittag gemacht habe.
Im Radio reden sie darüber, wie andere die Hitze überstehen – das ist kein Tag, um im Büro zu versauern, scherzen sie, weshalb Arbeitgeber mit Rekordzahlen bei Krankmeldungen rechnen sollten. Da ich keinen Job habe, ist mir das gleich. Aber zum ersten Mal denke ich darüber nach, dass es vielleicht an der Zeit ist, mich hier mal umzusehen. Und der Gedanke erfüllt mich nicht mit Panik.
Am Samstag war ich nicht bei der Hotline. Schlussendlich hatten sie sich doch gemeldet: eine Nachricht auf meinem Handy, um mir zu sagen, dass man mich nicht benötigte – nicht Alma, jemand weiter oben in der Nahrungskette. Schon an ihrer Stimme konnte ich erkennen, dass sie keine Ehrenamtliche war. Es wäre am besten, wenn ich erst mal nicht mehr dort arbeite wegen der Belastung durch die jüngsten Ereignisse.
Natürlich ist mir bewusst, dass sie nicht glücklich damit sind, dass ich mit der Neuigkeit gleich zur Polizei gegangen bin oder dass ich sie gebeten habe, den Anruf zurückzuverfolgen. Aber es ist ja auch eine ungewöhnliche Situation, den Anruf einer eigenen Verwandten entgegenzunehmen. Ich denke mal, sie haben schon Meetings abgehalten, um Prozeduren zu besprechen, wie mit dieser Eventualität in Zukunft umgegangen wird.
Wie auch immer, ich war die letzten Tage beschäftigt.
Erst mal musste ich wieder zur Wache, denn DS Hopper, die Polizistin, die meine Aussage aufgenommen hatte, rief noch einmal an und bat um Handschriftproben, falls sie das Tagebuch vergleichen mussten. Mit großer Sorgfalt kramte ich alte Übungshefte hervor und Geburtstagskarten, die ich mir ohnehin nicht mehr ansehen kann. Herzlichen Glückwunsch, Mum. Für die beste Mum der Welt.
Und ältere, mit Buntstift auf gefalteten Karton geschrieben, in diesen bedächtigen Kinderbuchstaben: Mummy. Ich hab dich lieb. Sophie xxx
Und natürlich die Karten aus der Zeit danach, zum Schutz in einem braunen Umschlag.
»Das ist mehr, als wir brauchen, Mrs Harlow«, stellte sie fest, lächelte dabei aber. »Vielen Dank dafür.«
Sie ist netter als Nicholls und sagt mir, dass sie nicht alles davon einlagern müssen und dass ich den Rest später wieder abholen kann.
Heute Morgen war ich joggen, genau wie gestern, trotz der Hitze genoss ich das Gefühl, die Beine zu bewegen und meine Lunge zu strapazieren, bevor ich verschwitzt und erschöpft nach Hause kam. Ich habe nach Lily gesehen. Sie war verschlafen, sagte, ich habe sie aus einem Schläfchen geweckt. Auch wenn sie sich nicht viel beschwert, macht ihr die Hitze doch zu schaffen.
Am Nachmittag machte ich mir laute Musik an und begann, den Stapel Rechnungen abzuarbeiten, den ich hatte auflaufen lassen. Selbstverständlich habe ich keine hohen Ausgaben, und Mark hat bislang nicht versucht, mich zu einem Umzug zu überreden – vielleicht fühlt er sich zu schuldig –, aber ich nehme an, ewig kann ich nicht so weitermachen. Ich habe sogar eine E-Mail beantwortet, Freunde aus London, die pflichtbewusst versuchen, den Kontakt nicht einschlafen zu lassen, trotz meines Schweigens. Kleine Schritte zurück in die Welt.
Aber vor allem habe ich versucht, nicht mehr zu verweilen. Auf den Prozess zu vertrauen. Solange ich in Bewegung bleibe, funktioniert es irgendwie. Es war einfach nur Pech, dass ich bei der Polizei Holly traf, als ich den Umschlag abholen wollte.
Als ich wieder zum Wagen ging, rauchte sie draußen eine Zigarette.
Ich war nicht sicher, ob ich so tun sollte, als habe ich sie nicht gesehen, aber sie entschied es für mich. Sie lief direkt zu mir, kam mir zu nah, ihr Atem warm in meinem Gesicht – Zigaretten und Pfefferminz.
»Sie müssen dafür sorgen, dass es aufhört«, bat sie mich. »Sagen Sie denen, dass die das falsch verstehen.«
»Was verstehen sie falsch, Holly?«
»Sagen Sie ihnen, dass ich mich vertan habe. Dass es mein Test war, dass ich das nicht so gemeint habe.« Sie hatte geweint, die Haut um ihre Augen war gerötet. »Sagen Sie ihnen, es war meiner. Bitte.«
»Ich muss die Wahrheit sagen«, erwiderte ich sanft.
Einen Moment zögerte ich, dann ging ich weiter. Hinter mir hörte ich sie schniefen, leise und hoffnungslos. Sie folgte mir nicht.
Also behauptet sie jetzt, es war ihr Schwangerschaftstest. Vermutlich war das zu erwarten, ein Versuch, ihren Freund zu schützen. Ich mache ihr wirklich keine Vorwürfe. Er muss ein verdammt guter Lügner sein. Vermutlich glaubt sie ihm.
Bislang haben sie Danny wohl nicht verhaftet, sondern nur verhört. Bis jetzt. Ich weiß nicht, wie viel sie mir zu diesem Zeitpunkt mitteilen müssen oder auch nur würden.
Sogar ich habe geglaubt, dass er mir in der Werkstatt die Wahrheit gesagt hat. Aber heute Morgen habe ich wieder Dad angerufen. Er sagt, ich solle mir keine Sorgen machen, solle mich ablenken, zumindest im Augenblick. Ich habe ihn auf den neuesten Stand gebracht, vom Tagebuch erzählt, von den wieder aufgenommenen Ermittlungen. Nicht erwähnt habe ich, dass ich selbst auch wieder Nachforschungen angestellt hatte, weil er mich nur davor warnen und mir sagen würde, dass ich all diese Unannehmlichkeiten den Profis überlassen solle. Außerdem war das ja schon wieder vorbei.
Er möchte mich besuchen oder wenigstens, dass ich verspreche, ihn demnächst zu besuchen. Sein Vorschlag ist, dass sie beide kommen, er und Charlotte, ohne die Kinder.
»Ich mache mir Sorgen um dich, Kate, so ganz allein da.«
»Es geht mir gut, Dad. Du musst dir keine Sorgen machen. Es ist wirklich gut.«
»Aber ich mache mir welche. Charlotte auch, weißt du?«
»Ich weiß, Dad.«
Aber das ist ein altes Gespräch, und wir rutschen in uns wohlbekannte Rollen. Beinahe beruhigend. Dass die Dinge sich fast so normal anfühlen. Mein normal.
Den größten Teil der Post habe ich sortiert und sitze am Küchentisch, recht zufrieden mit mir selbst, als mir der braune Umschlag in meiner Tasche neben dem Tisch auffällt. Der Rest von der Wache. Ich sollte ihn jetzt durchsehen, sonst wird er wieder zu etwas, mit dem ich mich monatelang nicht beschäftigen will.
Schnell gehe ich rüber und reiße den Umschlag auf, schütte den Inhalt auf den Tisch. Sophies Übungshefte werde ich zurück an ihren Platz im Bücherregal räumen, die Geburtstagskarten kommen in meine Schachtel für besondere Erinnerungsstücke im Wohnzimmer, und die Postkarten – die Postkarten werde ich wie gewohnt auf den Kaminsims stellen. Fertig. So erledigt man Dinge, rede ich mir ein, ohne alles in eine gewaltige Aufgabe zu verwandeln.
Aber stattdessen verteile ich die Postkarten auf dem Tisch vor mir. All ihre bekannten Nachrichten. Ich wünschte, ich hätte auch das Tagebuch. Vielleicht darf ich es bald abholen. Ich versuche, mich an die Einträge zu erinnern, an den genauen Wortlaut – aber es ging so schnell, ich hatte kaum Zeit, alles aufzunehmen.
Nur an die erste Seite kann ich mich gut erinnern, ihr Name und ihre persönlichen Angaben. Jetzt fällt mir ein, dass da was war, irgendwas, das seltsam wirkte …
Name: Sophie Harlow
Alter: 16
Adresse: Oakhurst, Park Road, Vale Dean, Cheshire
Kontakt: Sharlow90@yaymail.com
Etwas Kaltes gleitet mein Rückgrat hinab.
Das war nicht ihre E-Mail-Adresse.
Jedenfalls nicht diejenige, die ich kannte, in die ich mich ungezählte Male eingeloggt habe, deren Inhalt ich so gut kannte wie meine eigenen. Ich springe auf und laufe hoch, zwei Treppenstufen auf einmal nehmend. Ich schalte den Computer an und logge mich in mein E-Mail-Konto ein. Der Ordner »Sophie«, in dem ich all ihre Mails an mich gespeichert habe. Besonders viele sind es natürlich nicht, so oft gab keinen Grund, mir zu schreiben. Einfach nur Kram, von dem sie glaubte, er würde mir gefallen: blödsinnige Lokalnachrichten, lustige Tiervideos.
Ja, ich hatte recht. Sharlow90@gmail.com. Alle kommen von dieser Adresse, diejenige, die wir der Polizei gesagt und auch die, die sie durchforstet haben. Sie hatte sich nicht mal die Mühe gemacht, das Programm zu schließen, was wir merkten, als wir ihren Laptop fanden.
Vielleicht hat sie sich vertan, überlege ich mir, einfach was Falsches geschrieben. Yaymail statt gmail. Das passiert schnell: Es gibt so viele von diesen Maildiensten da draußen; der hier gehört zu unserem Kabelanschluss, meine ich. Aber noch während ich das denke, schüttle ich den Kopf: Sie war sechzehn Jahre alt, wenn es etwas gab, das sie wusste, dann ihre E-Mail-Adresse.
So. Vielleicht hatte sie zwei.
Nur um sicherzugehen, logge ich mich in das Konto ein, das ich kenne.
Es war nicht schwierig: Wir hatten ihr Passwort – loopysophie – im Schmierheft direkt neben ihrem Laptop auf dem Tisch gefunden, fast so, als wüsste sie, dass wir da zuerst nachsehen würden. Die Polizei hatte auch den Laptop mitgenommen, um die Festplatte nach Hinweisen zu durchsuchen, bevor wir ihn zurückbekamen: alles sauber. Ich strenge mein Hirn an, um mich zu erinnern: Hatte sie jemals von einem zweiten E-Mailkonto erzählt? Ich bin sicher, dass ich mich erinnern würde.
Ich habe mich einige Zeit nicht bei ihr eingeloggt. Ich kümmere mich um die wenigen Spam-Mails, lese jede genau, bevor ich sie in den Papierkorb verschiebe: ein Angebot für »leistungssteigernde Pillen« für Männer, ein paar gefälschte Softwareupgrades.
Sophie hat nicht viele Mails geschrieben. Teenager klebten geradezu an ihren Smartphones, das las ich zumindest in den Magazinen, gebannt in eine Furcht einflößende Welt, zu der ihre Eltern keinen Zutritt hatten. Aber Sophie war anders, ließ ihr Handy immer so lange irgendwo im Haus herumliegen, bis der Akku leer war, sodass man es nicht mal anrufen konnte, wenn wir danach suchten. Sie wirkte auf eine Art unnahbar, wie ich es nie gewesen war, so mit sich selbst zufrieden.
Damals erfreute mich das. Sogar als ich ihr sagte, dass sie keine Bilder von sich online stellen sollte, weil man nie wusste, wer danach suchte oder wo sie landeten, beschwerte sie sich nicht. Sie verstand, dass es besser war, keine Spur zu hinterlassen. Was wäre in fünf Jahren, wenn sie auf Jobsuche ging?
Aber am Ende war alles, was ich wollte, eine Spur von Sophie, einen Weg, über den sie mich erreichen konnte. Und ich machte mir Sorgen, dass wir genau deshalb zu langsam waren, als sie verschwand. Ihre Schulfreunde sagten, dass sie sich am Wochenende nicht gemeldet hatte, hatte ihnen keine Sorgen gemacht: Sie war immer etwas unzuverlässig mit ihren Antworten. Als sie dann doch mit uns zu Hause Kontakt aufnahm, ausgerechnet per Postkarte, schien das alles stimmig zu sein.
Nehme ich an. Es kam mir damals nicht richtig vor und jetzt auch nicht.
Jetzt melde ich mich ab und versuche, mich in das andere Konto einzuloggen, das bei yaymail.com.
Du loggst dich von einem anderen Gerät aus ein,
teilt mir die Webseite mit.
Dann soll ich die seltsam verformten Buchstaben und Zahlen eintippen, um zu beweisen, dass ich kein Roboter bin.
Danach gebe ich das Passwort ein: loopysophie
.
Passwort stimmt nicht mit der E-Mail-Adresse überein.
Ich probiere es weiter, mit verschiedenen Variationen.
LoopySophie
loopiesophie
Sophieloopie
Kein Erfolg. Ich versuche es weiter.
Zu viele Fehlversuche
, teilt mir mein Bildschirm schließlich mit. Jetzt muss ich die Sicherheitsfragen beantworten.
Die erste erscheint: Wie hieß dein erstes Haustier?
Na, das ist einfach. Morris, der Kater, als sie noch klein war. Der Kater war so geduldig, mehr wie ein Hund als eine Katze, er erlaubte sogar, dass Sophie ihm nachkroch und ihm ungeschickt an sich drückte.
Ich gebe es ein: Morris
.
Schon wieder die Fehlermeldung.
Nun, es kann doch wohl kaum King sein, unser Hund, aber ich gebe es dennoch ein.
Wieder erscheint die Fehlermeldung.
Ich versuche es weiter, verschieden geschrieben, Großbuchstaben, klein, Kater, Morrisderkater, Hund, Hundi
und so weiter, bis mich das System aussperrt.
Frustriert stehe ich auf und brühe mir eine Tasse Tee auf. Denk nach, komm schon. Was würde Sophie denken?
Eine weitere Stunde vergeht. Vermutlich war es doch nur ein Versehen, und sie hat eine falsche Mailadresse eingetragen. Ich komme einfach nicht an den Sicherheitsfragen vorbei und bin in einer Schleife fehlgeschlagener Versuche gefangen, nach denen ich für jeweils eine Viertelstunde aus dem Konto geworfen werde.
Vielleicht liege ich komplett falsch. Vielleicht spielt mein Gedächtnis verrückt, und sie hat gar keine andere Mailadresse. Aber dann sehe ich es vor meinem geistigen Auge, ganz deutlich: ihre vertraute runde Schrift auf dem Papier des Tagebuchs.
Gereizt rolle ich in meinem Stuhl weg vom Arbeitstisch. All die Zweifel, die ich von mir geschoben habe, fluten zurück – die Dinge, die ich nicht verstehe. Aber dieses Mal halte ich an dem Gefühl fest und lasse meinen Gedanken freien Lauf, ohne sie zu zensieren. Nicholls zeigt mir das Tagebuch: »Ist das Sophies Handschrift?«
Ein Neuanfang, einfach nur, bis ich damit besser klarkomme.
»Ja«, hatte ich ihm gesagt. »Das ist ganz sicher ihre Handschrift.«
Eine andere Antwort erscheint jetzt. Ja. Das ist ganz sicher ihre Handschrift. Aber es ist nicht Sophie.
Nicht die Sophie, die ich kenne. Das Ganze ist so flach, so schal, ihr Tonfall, alles. So seltsam das klingt, aber sie ist so … ernsthaft! Ich kenne meine Tochter. Sophie … die die Schule abbricht?
Deshalb habe ich mich entschieden, ich gehe. Ich will ein anderes Leben für mich.
Das ist genau wie die Postkarten: so fern, so leer. So wenig wie sie.
Und dann ist da noch diese andere Sache, an die ich bewusst nicht denke: das Bild von Nancy. Dieses Haar, das süße runde Gesicht, die Verschmitztheit in ihrem Lächeln. Genau wie Sophie. Was ist mit ihr geschehen?
Nun, wenigstens da kann ich was tun. Ich stehe auf.