17. Kapitel
V
ale Dean ist die Sorte Ortschaft, in der es keinen McDonald’s, dafür aber zwei Andenkenläden und vier Maklerbüros gibt, drei zu großen Ketten gehörend. Ich halte bei dem anderen, und kleinsten, lokal und unabhängig, und gehe hinein.
Den Mann hinter dem Tresen kenne ich von den »Zu Verkaufen«-Schildern: Graham Hescott, sicher eine Generation älter als die eifrigen jungen Männer in den anderen Maklerbüros. Ich sage ihm, dass ich mich zwar verkleinern, aber dabei in der Gegend bleiben möchte. Ja, ich werde allein wohnen. Das Wort Scheidung muss ich nicht aussprechen. Er ist lange genug im Geschäft, um es sich zu denken.
Dann zeigt er mir einige Möglichkeiten, hauptsächlich Wohnungen in Neubaugebieten oder die teureren Varianten, die beim Aufteilen der alten viktorianischen Anwesen entstanden sind.
Ich frage: »Was ist mit dem großen Haus an der Park Road – Parklands? Sollten daraus nicht Wohnungen werden?«
»O ja«, erklärt er. »Aber die brauchen ganz schön lange dafür.«
Wir wechseln einen missbilligenden Blick. Es war nicht richtig, die Häuser hier verfallen zu lassen. Das war schlecht für den Immobilienmarkt.
»Wäre es sinnvoll, wenn ich mich dort melde, meinen Namen auf die Liste der Anwärter setzen lasse?«
»Wenn Sie früh genug einsteigen, bekommen Sie eventuell einen Abschlag auf den Kaufpreis«, stellt er nickend fest. »Wir können Sie mit den Verwaltern in Verbindung setzen. Lassen Sie mich mal sehen …«
Seine Maus klickt. Während ich warte, weht der Ventilator auf dem Tisch durch meine Haare. In seinem Anzug muss er fast gekocht werden.
»Hm.« Sein Tonfall ist zweifelnd. »Ich sehe mir gerade unsere Unterlagen an. Könnte etwas schwierig werden … die Bauarbeiten scheinen schon seit einiger Zeit stillzustehen.«
Das weiß ich natürlich.
»Warum?«
Er zuckt mit den Schultern.
»Dafür gibt es viele mögliche Gründe. Das Geld könnte ausgegangen sein, vielleicht wurde die Bank nervös. Obwohl der Markt gerade gut anzieht.« Er wirft mir einen heimlichen Blick zu. Bloß keine möglichen Käufer verschrecken. »Und natürlich kann die Erbschaftssteuer sehr hoch sein.«
»Erbschaftssteuer?«
»Leute werden von ihr überrascht. Viele denken gar nicht daran.«
»Also sind die Besitzer verstorben?«
Er nickt.
»Es fiel ihrer Tochter zu, vor ein paar Jahren. Ein Freund von mir war Anwalt, bis er in den Ruhestand ging.«
»Ihre Tochter?«
Das können nicht die Kerrigans sein, Nancys Familie. Die haben es sicher vorher verkauft. Sie müssen schon vor langer Zeit umgezogen sein.
»Ich habe wirklich versucht, mich mit ihr in Verbindung zu setzen, um zu sehen, ob sie es verkaufen möchte, aber sie war nicht sehr kommunikativ. Aber das war keine schlechte Entscheidung. So wie der Markt sich in der Gegend entwickelt hat, sogar bevor man es in einzelne Wohnungen aufteilt …« Er sieht meine Miene, interpretiert sie als Abneigung gegen seinen Enthusiasmus als Makler. »Aber keine Sorge, Mrs Harlow, es wird einiges in ihrem Preissegment geben. Ich denke wirklich, dass Sie sich die Neubauten an der Carr Road ansehen sollen, die werden sehr viel eher fertig werden.«
»Haben Sie eine Broschüre für mich?« Ich lächle so freundlich, wie ich kann. Es fühlt sich unnatürlich an. »Aber haben Sie nicht doch eine Kontaktadresse für die Besitzer von Parklands, bitte? Ich lebe momentan direkt nebenan, und es wäre sehr praktisch, wenn ich mit ihnen reden könnte, über so ein paar Dinge …«
Ich hebe bedeutungsschwanger die Augenbrauen.
»Oh«, sagt er etwas entrüstet. »Also sind Sie nebenan, das Haus mit den Erkern.«
Ich kann sehen, wie er versucht, mich einzuordnen, sich fragt, warum da irgendeine Glocke in seinem Kopf klingelt … in einem Augenblick wird es ihm einfallen.
»Das hätten Sie mir sagen sollen. Haben Sie vor, es zu verkaufen?«
»Vermutlich. Ja, sehr wahrscheinlich«, antworte ich, als ich ihn aufmerken sehe. »Sobald mein Ehemann und ich … sobald mein Ex-Mann …«
Ich lasse es ausklingen, wie in Trauer. Das ist so theatralisch. Aber jetzt riecht er ein gutes Geschäft und möchte sehr gern behilflich sein.
»Einen Moment«, bittet er und tippt, langsam, mit zwei Fingern. »Ah … ja. Nur eine Telefonnummer. In den USA.« Er liest sie mir sorgfältig vor, und ich schreibe sie auf den Rand der Broschüre. »Haben Sie es?«
»Ja.« Ich lächle wieder, diesmal ehrlich. »Danke. Oh, wie heißt sie denn?«
»Entschuldigen Sie bitte, das hätte ich natürlich erwähnen müssen. Kerrigan, Olivia Kerrigan.«
Zu Hause suche ich die Nummer im Internet, bevor ich anrufe. Tatsächlich ist es eine kanadische Vorwahl, nicht amerikanisch, aber mehr finde ich nicht heraus, denn es gibt keine genaue Übereinstimmung in den Suchergebnissen. Stattdessen suche ich nach »Olivia Kerrigan«, aber während ich mir durch die zu alten, zu jungen oder zu unwahrscheinlichen – eine Cheerleaderin in Oregon, eine Doktorin für Biochemie in Irland – Olivia Kerrigans klicke, verliere ich die Geduld. Vielleicht trägt sie da drüben nicht mal mehr ihren Mädchennamen.
Wonach suche ich überhaupt? Also haben sie das Haus nie verkauft, das ist keine große Sache. Aber bevor ich mich selbst davon abhalten kann, gehe ich zum Telefon und wähle die Nummer.
Ich habe mich entschieden, ehrlich zu sein: Ich bin eine Nachbarin, die versucht, in Kontakt zu treten, um über das Haus zu reden. Das kann vieles bedeuten. Und dann werde ich schon sehen, wie es weitergeht.
Ich muss einfach wissen, was mit Nancy geschehen ist. So kann mir ihre Schwester das sagen, und ich werde bestätigt bekommen, dass es nichts gibt, was Nancys Verschwinden – Weglaufen, korrigiere ich mich – mit meiner Tochter in Verbindung bringt. Natürlich nicht. Und diese bohrende Stimme in meinem Geist wird wieder schweigen.
»Hallo, hier spricht Kate Harlow.« Ich lege meine freundlichste Telefonstimme auf. »Ich wohne in Oakhurst, direkt neben Parklands in Vale Dean. Mir wurde gesagt, Sie sind die Besitzerin? Würden Sie mich bitte kontaktieren?« Ich hinterlasse die Nummer des Festnetzanschlusses, wiederhole sie akribisch. »Vielen Dank.«
Nun, das ist erledigt. Vielleicht ist das nicht einmal mehr ihre Nummer. Vielleicht ist sie umgezogen.
Aber ich finde keine Ruhe, gehe durch die Zimmer im Erdgeschoss, schalte mich durch die Nachrichtensender, um dem beruhigenden Gerede der Politiker zu lauschen. Als die Sendung endet, finde ich »Der Weiße Hai« auf einem anderen Sender und sehe ihn mir noch einmal an. Monsterfilme mochte ich schon immer, es ist die Realität, die ich nicht im Fernsehen ertrage: düstere Dramen über Trennungen und Babys und die Traurigkeiten des Alltags.
Danach schalte ich den Fernseher endgültig aus und gestehe mir selbst ein, worauf ich eigentlich warte: dass Nancys Schwester mich zurückruft. Das ist lächerlich, sage ich mir und gehe ins Bett.
Heute ist es windiger, ich kann es von draußen hören, in den Bäumen. Ein Spätsommersturm kommt wohl bald.
Halb die Treppe hoch, schrecke ich zurück, als ich am Rande meines Gesichtsfelds eine Bewegung wahrnehme. Mein Herz rast, selbst als ich das rote Fell erkenne: Es ist nur Tom, der einen wilden Lauf zum Absatz hinlegt. Er erstarrt vor mir, starrt mir in die Augen. Noch immer hat er die Schübe aus Energie, schießt durch das Haus, wie es ihm gefällt.
Von meiner Angst genervt, gehe ich die restlichen Stufen empor und bleibe beim Fenster stehen, um ihn auf den Arm zu nehmen. Dabei bemühe ich mich, ganz normal zu gehen.
»Was hast du jetzt vor?«, frage ich ihn. »Du bist aus dem Nichts gekommen, was?«
Während ich sein weiches Fell glatt streichle, sehe ich aus dem Fenster in den Garten, der in den violetten und grauen Farben der Nacht unter mir liegt. Das Fenster wirft ein blasses Rechteck aus Licht auf den Rasen, darin mein Schattenwurf, lang gezogen bis zu den Rhododendronbüschen, die zu einer dunklen Masse verschmelzen. Ich muss sie stutzen lassen, sie wuchern schon.
Noch ein Windstoß, der ihre Äste schweifen lässt, die ganze Wand aus Blättern bewegt sich wie eins. Und dabei fällt mir fast nebenbei auf, dass ein Schattenfleck nicht ganz im Einklang tanzt, dass eine kleine Ecke der Büsche nicht vom Wind bewegt wird.
Es ist ein Schatten, der nicht ganz die gleiche Form hat wie der Rest, wie mir jetzt auffällt, ein Schemen, so in die Pflanzen gedrückt, dass man fast nicht erkennen kann, dass er etwa menschengroß ist.
Ich stehe sehr ruhig. Da ist nichts. Nur eine optische Täuschung. Oder der Gärtner hat, als er noch kam, ein Stück Spalier an die Büsche gelehnt, eine Form, die sich in etwas komplett Harmloses auflösen wird, ein Sack voller Blätter auf einem Abfalleimer.
Und das sage ich mir, und das ist auch alles gut, während meine Hand nach der Lampe auf dem Tischchen unter dem Fenster greift und, mit einem Klick, alles in Dunkelheit hüllt. Meine Augen benötigen einen Moment, um sich anzupassen.
Die Bewegung ist schnell – fast nur ein Flimmern. Beinahe übersehe ich sie. Nur ein kleiner weißer Klecks in der Nacht, ein fahles Oval zum Fenster emporgereckt. Um genau zu sein, ist es so schnell weg, dass ich nicht erkennen kann, was ich da sehe: was da in meinem Garten ist und mich anstarrt.
Dann taucht das Gesicht ab, und der Schemen verschwindet in den Schatten. Wer auch immer das war, die Person ist weg.
Vom Telefon in der Küche aus rufe ich den Notruf an. Mir ist egal, dass ich auch bis zum Morgen warten könnte. Dann schnappe ich mir mein Handy von seiner Ladestation in der Ecke und ziehe mich nach oben in mein Schlafzimmer zurück, wo die geschlossenen Vorhänge mir Sicherheit vorgaukeln. Dennoch ist es eine lange Viertelstunde, bis ich das langsame Knirschen von Reifen auf Kies höre.
Diese Polizisten kenne ich noch nicht – beide Mitte zwanzig, das Gesicht des kleineren durch den Bart auch nicht weniger rund –, aber sie sind selbstsicher und professionell.
»Da war eine dunkle Gestalt, unbeweglich … nein, ich kann sie nicht genauer beschreiben … nein, ich habe nicht gesehen, wie sie aussah … ich habe nicht gesehen, wohin sie verschwunden ist.«
Obwohl die Geschichte dünn ist, schreiben sie pflichtbewusst alles auf.
Mit ihren Taschenlampen machen sie eine große Schau daraus, einmal ums Haus zu gehen und in den Blumenbeeten nach ungewöhnlichen Schuhabdrücken zu suchen.
»Erscheint Ihnen das hier ungewöhnlich?«, fragen sie mehr als einmal.
»Das kann ich nicht wirklich sagen«, erkläre ich, als ich einen weiteren Fleck platt gedrückter Erde untersuche und versuche, einen Abdruck zu erkennen.
Sie haben ihren Polizeiwagen in der Einfahrt abgestellt.
»Es gab mal ein Tor«, fühle ich mich bemüßigt festzustellen. »Aber wir haben damals keins installiert … hier ist es so sicher.«
Mehr Nicken und wir machen einen weiteren Gang ums Haus, durch den warmen Wind. Ich stecke mein Haar in den Kragen und versuche, nicht zu zittern. Es ist nicht die Temperatur.
Mich überkommt das schleichende Gefühl, dass ich sie enttäusche, weil ich nichts Konkretes aufweisen kann.
Weil wir nichts finden. Im Gebüsch lauert niemand, es gibt kein unheimliches Rascheln im Unterholz, keine dunkle Gestalt springt heraus, als das Licht der Taschenlampen auf die rosa Blüten der Rhododendren fällt.
Als ich ihnen drinnen einen Tee koche, fühle ich mich leicht lächerlich, wie ihre Uniformen sich mit dem Grau meiner Lehnsessel beißen. Sie lassen mir eine Broschüre über Sicherheitstechnik da und bitten mich, die Fenster im Erdgeschoss zu verschließen, auch bei dieser Hitze, Gelegenheit macht Diebe. Ich weiß das alles, bin immer vorsichtig, aber ich nicke trotzdem.
Dann kommt mir ein Gedanke: »Meine Nachbarin Lily lebt ganz allein. Ich denke nicht, dass Sie sie aufwecken sollten, aber könnten Sie danach noch bei ihrem Haus vorbeischauen? Gleich an der Gabelung der Einfahrt hoch, das kleine Cottage.«
»Wir können uns mal umsehen«, bietet der Ältere an. Sein Schädel glänzt unter meiner Lampe rosa zwischen dem sandfarbenen Haar. »Zehn zu eins, falls es was war, dann ein Opportunist, der nur geschaut hat, ob jemand zu Hause ist. Es ist die Jahreszeit dafür, die Leute sind im Urlaub. Dann diese großen Häuser hier in der Gegend …«
»Vor gar nicht allzu langer Zeit gab es die Straße runter einen Einbruch«, wirft der Bärtige fröhlich ein. »Die Besitzer hatten nicht mal die Milch abbestellt, das war so auffällig. Hätten auch gleich eine Einladung schreiben können!«
Das bringt ihm einen warnenden Blick seines Kollegen ein.
»Und natürlich könnte es auch gar nichts gewesen sein. in der Dunkelheit spielen einem die Augen manchmal Streiche …« Er sieht mich an, zu höflich, um zu sagen, dass ich mir das alles nur eingebildet habe, bevor er hinzufügt: »Ich wollte nicht, dass meine Mum allein in so einem großen Haus wohnt.«
So gerade gelingt es mir, nicht zu lachen. Für wie alt hält er mich? Aber wenn er wirklich Mitte zwanzig ist, ist es doch nicht so absurd.
»Vielleicht haben Sie recht«, erkläre ich, will beruhigt werden. »Ich konnte es nicht genau sehen. Vielleicht war es nur der Wind in den Schatten, nur eine Täuschung.«
»Ein einfaches Versehen«, stimmt der Jüngere lächelnd zu.
Aber schon als sie sich wieder auf den Weg machen, spielt sich die Szene in meinem Geist ab und bleibt dort, ein Bild, das ich nicht verbannen kann. Nicht mal, als ich ihnen zum Abschied hinterherwinke und den Sicherheitsriegel vorlege. Es bleibt da: dieser große Schemen im Garten, mit dem bleichen Oval vor der Dunkelheit.
Jetzt kommt mir ein Gedanke. Als ich die Lampe ausgeschaltet habe, verschwand die Gestalt in den Büschen.
Aber vorher, als ich aus dem Fenster gesehen hatte und das Licht mich in meinem Haus gezeigt hatte? Jemand hatte zu mir hochgesehen.